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PRESSEKONFERENZ/1224: Bundeskanzlerin Merkel und Bundesminister Gabriel in Meseberg, 25.05.2016 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift der Pressekonferenz in Meseburg - Mittwoch, 25. Mai 2016
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Bundesminister Gabriel in Meseberg


BK'in Merkel: Meine Damen und Herren, wir haben gestern und heute unsere Kabinettsklausur hier in Meseberg abgehalten und haben klassische Zukunftsthemen auf die Tagesordnung gesetzt: zum einen die Digitalisierung, zum anderen heute die Verabschiedung des Integrationsgesetzes.

Was die Digitalisierung anbelangt, so war es eine Bestandsaufnahme dessen, wo wir bei der Umsetzung der Digitalen Agenda stehen, und zwar im umfassenden Sinne. Zum einen ging es um die Frage: Was ist geschehen und was muss noch geschehen mit Blick auf die Infrastruktur? Zum anderen ging es um die Frage: Was bedeutet die Umsetzung der Digitalen Agenda für die Industrie, für die großen, aber auch die mittleren und kleinen Unternehmen, und wie verändern sich die Aufgabenstellungen für die Industrie, insbesondere am Beispiel der Mobilität? Das Thema autonomes Fahren wird jetzt auch sehr schnell zu Rechtsveränderungen führen, sodass das autonome Fahren als gleichberechtigtes Fahren auch in alle Gesetze hineingenommen werden kann, zum Beispiel in die Straßenverkehrsordnung.

Wir haben die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft auch mit Blick auf die Veränderung der Arbeitswelt diskutiert. Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat uns dargelegt, wie sie auf dem Weg von einem Grünbuch zu einem Weißbuch ist und welche Auswirkungen die Digitalisierung auf weite Teile der Arbeitswelt haben wird. Hier sind vor allen Dingen die Fragen des lebenslangen Lernens und der Qualifizierung als eine permanente Aufgabe im Mittelpunkt, genauso wie die Fragen von sozialer Absicherung und neuen Beschäftigungsverhältnissen sowie die Frage der Arbeitszeitgestaltung.

Damit waren wir dann auch bei einem Thema, das viele Menschen bewegt, nämlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie beziehungsweise der Frage: Wie können wir die Möglichkeiten der digitalen Arbeitswelt nutzen, um Familie und Beruf besser zu vereinbaren?

Wir haben dann an den Vorträgen der einzelnen Minister gesehen, wie die Digitalisierung alle Lebensbereiche durchdringt - ob es nun um das Thema Gesundheit, das Thema Familie und Beruf, das Thema der Landwirtschaft, das Thema der intelligenten Städte oder das Thema von Bildung und Medienkompetenz insbesondere von jungen Menschen geht.

Wir haben auch über den großen Aspekt der Sicherheit gesprochen, also über die Cyber-Sicherheitsstrategie, die der Bundesinnenminister entwickelt, genauso wie über die Maßnahmen, die die Verteidigungsministerin ergreift.

Wir haben zum Schluss auch noch über die gesellschaftlichen Veränderungen im Allgemeinen gesprochen. Man kann also sagen, dass wir eine sehr ausgefüllte Tagesordnung hatten, und wir haben heute auch die entsprechenden Berichte verabschiedet.

Gestern war hier auch der estnische Ministerpräsident, Taavi Roivas, zu Besuch. Er hat uns erzählt und berichtet, was Estland auf dem Weg der Digitalisierung für die Bürgerinnen und Bürger in Estland bereits durchgesetzt hat. Das war sehr beeindruckend und zeigt, wie ein Land, das jetzt seit 25 Jahren wieder unabhängig ist, von Anfang an sehr zielsicher diese digitalen Möglichkeiten genutzt hat und dabei bereits vorangekommen ist.

Allerdings hat man bei verschiedenen Berichten unserer Minister dann gesehen, dass auch wir auf dem Weg sind - noch längst nicht so weit, wie man in Estland ist, aber doch auf einem Weg -, ob das im Gesundheitswesen ist, ob das im Rechtsbereich ist oder eben auch durch die neuen Ausweise mit Chips, die wir jetzt haben, die dann auch alle Möglichkeiten der elektronischen Signatur in sich bergen.

Auch der Kommissar der Europäischen Kommission für die Fragen der Digitalisierung, Günther Oettinger, war bei uns zu Gast. Wir waren uns einig, dass viele der Themen, die wir gestern besprochen haben, national gar nicht zu lösen sind, sondern europäisch umgesetzt werden müssen. Die Kommission kann sich daher auf die deutsche Unterstützung bei der Umsetzung der Digitalen Agenda wirklich verlassen.

Heute haben wir dann das Integrationsgesetz verabschiedet. Die Minister Nahles und de Maizière werden Ihnen dazu später in der Bundespressekonferenz noch im Detail berichten. Ich glaube, dass es ein Meilenstein ist, dass der Bund ein Integrationsgesetz verabschiedet - ein Integrationsgesetz, das unter der Maßgabe "Fordern und Fördern - Fördern und Fordern" deutlich macht, dass wir Angebote bereithalten und diese Angebote auch abgestuft nach den Bleibeperspektiven, aber für alle machen.

Wir haben insbesondere das Thema Zugang zum Arbeitsmarkt, Zugang zu Beschäftigung, Zugang zu Integrationskursen ganz wesentlich gestärkt und haben hierzu auch die notwendigen Maßnahmen vereinbart. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Bundesagentur für Arbeit jetzt sehr harmonisch, sehr abgestimmt vorgehen - auch, was das Management der Integrations- und Sprachkurse anbelangt - und wir damit ein Land sind, das denen, die zu uns kommen, die vor Krieg, Verfolgung, Terrorismus geflohen sind, wirklich ein gutes Angebot machen. Wir sagen aber auch sehr deutlich: Weil wir aus der Vergangenheit, in der wir diese Integrationsangebote nicht gemacht haben, gelernt haben, erwarten wir auch, dass Menschen dieses Angebot annehmen und damit die Integration auch besser gelingen kann.

Insofern war diese Kabinettsklausur, glaube ich, eine Tagung mit sehr ausgefüllter Zeit und sehr wichtigen Beschlüssen, was Zukunftsthemen, die die gesamte Gesellschaft betreffen, anbelangt.

BM Gabriel: Vielen Dank auch an die Organisation dieser Tagung, die ja durch das Kanzleramt vorbereitet wurde; denn dass man sich im Grunde wirklich einen Tag lang mit dem Schwerpunktthema Digitalisierung auseinandergesetzt hat, ist diesem Thema, glaube ich, angemessen.

Wenn wir über die wirtschaftliche, aber damit natürlich am Ende auch über die soziale Zukunft unseres Landes reden, dann wird die Frage, ob Deutschland in einer globalen, datenbetriebenen Wirtschaft wettbewerbsfähig ist, entscheidend sein für die Frage, ob wir gute Arbeit, gut bezahlte Arbeit und damit auch soziale Sicherheit, kulturelle Vielfalt und all das, was dieses Land ausmacht, weiter zur Verfügung stellen können. Das ist eben keinesfalls ausgemacht, vielmehr bedarf es dazu einer ganzen Reihe von Anstrengungen; ich glaube, das ist gestern klar geworden. Ich kann nur unterstreichen, dass diese Wettbewerbsfähigkeit in einer globalen, digitalisierten Wirtschaft ohne europäische Lösungen nicht erreichbar sein wird.

Selbst bei allem Optimismus, was nationale Fähigkeiten angeht, macht das noch einmal deutlich, welche Bedeutung Europa für die Zukunft der Menschen in Deutschland haben wird. Alle die, die sich sozusagen abwenden, skeptisch sind, müssen wissen, dass wir mit den Vereinigten Staaten, aber auch mit Asien im Wettbewerb um die Zukunft industrieller Arbeitsplätze stehen. Deutschland hat hier eine riesige Chance. Wir sind traditionell der Industrialisierer der Welt. Das können wir auch bleiben.

Allerdings ist es dafür nötig, dass wir mit dieser Entwicklung Schritt halten, die ein Kennzeichen hat: Anders als alle anderen ökonomischen Entwicklungen der letzten 150 bis 200 Jahre vollziehen sich Veränderungen nicht mehr im Takt der Generationen. Ein Jahr vergeht im Internet eben in wenigen Wochen. Das ist eine riesige Herausforderung für alle Menschen, die dort arbeiten, aber natürlich auch für die wirtschaftliche Anpassungsbereitschaft. Der Staat beziehungsweise in diesem Fall Deutschland und Europa müssen daher Bedingungen schaffen, damit diese völlig veränderte Herausforderung im industriellen und wirtschaftlichen Wandel auch gelingen kann.

Die wichtigste Bedingung ist dabei, dass wir nicht zu wenig ambitioniert sind. Wir haben jetzt ein gutes Zwischenziel mit 50 Megabit pro Sekunde im Jahr 2018. Der Bundesinfrastrukturminister - in diesem Fall der Kollege Dobrindt - tut viel dafür, das zu erreichen. Wir in unserem Haus tun das bei der Regulierung. Aber alle wissen: Das eigentliche Ziel sind Gigabit-Netze. Nur darüber, nur durch schnelle Glasfaser-Infrastrukturverbindungen werden wir am Ende Geschäftsmodelle ermöglichen können, werden wir am Ende Zulieferbetriebe für die Automobilindustrie im Bestand haben und werden am Ende internationale Kooperationen möglich sein. Das muss das Ziel sein.

Es wird ja auch immer gefragt: Was ist möglicherweise ein Ziel, das Menschen wieder von Europa begeistert? Ich glaube, junge Leute würden sich sehr für Europa begeistern, wenn Europa sagen würde: Wir wollen im Jahr 2025 die weltweit beste digitale Infrastruktur haben und dafür unsere Kräfte bündeln. Das ist etwas, was wir gemeinschaftlich in Europa voranzubringen versuchen und wo wir, glaube ich, mit Kommissar Oettinger einen guten Verbündeten haben. Das ist also eine riesige Herausforderung.

Es gibt noch vieles andere mehr. Ich finde, dass die Koalition viel auf den Weg gebracht hat - von der WLAN-Gesetzgebung bis zur Digitalisierung der Energiewende. Die Plattform Industrie 4.0 setzt sich gerade weltweit durch. Das ist ganz interessant: Wir sind gestern noch einmal darauf hingewiesen worden, dass sich, ähnlich wie der Begriff "Kindergarten" in andere Sprachen Eingang gefunden hat, auch der Begriff "Industrie 4.0" durchsetzt - was ich mir in der chinesischen Sprache schon einigermaßen schwierig vorstelle.

Aber in der Tat begegnen wir diesem Wort in Russland, in China und in vielen anderen Teilen der Welt. Diese Plattform ist ein großer Erfolgsfaktor geworden.

Aber wir haben anderes zu tun. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Datenschutz-Grundverordnung in Europa nicht sozusagen im Meer von 28 Datenschutzbeauftragten in Europa und dann bei noch einmal 16 in Deutschland in unterschiedliche Interpretationen auflöst. Wir werden uns im Bereich der digitalen Bildung wesentlich mehr anstrengen müssen. Wir müssen auch den Mittelstand stärker fördern, sich auf dieses Thema einzulassen. Da hat sich vieles getan. Die Daten über die Digitalisierung im Mittelstand sind viel besser als noch vor anderthalb oder zwei Jahren. Trotzdem bleibt noch viel zu tun.

Das ist die größte wirtschaftliche Herausforderung. Neben anderen Themen wie dem der Fachkräfte und der Energiewende ist das Thema der Digitalisierung die große Herausforderung, damit wir den Wohlstand in unserem Land erhalten und, wenn möglich, ausbauen können und damit - ich wiederhole es - soziale Sicherheit und auch kulturelle Vielfalt.

Das zweite Thema - die Bundeskanzlerin hat es eben schon genannt - ist natürlich das Integrationsgesetz. Ich wiederhole, was ich nach dem Koalitionsausschuss gesagt habe: In ein paar Jahren wird dieses Integrationsgesetz rückblickend als der erste Schritt in Richtung eines Einwanderungsgesetzes bewertet werden. Es ist sozusagen das Einwanderungsgesetz 1.0. Warum? - Weil das Gesetz das in den Mittelpunkt stellt, was auch in einem Einwanderungsgesetz der Fall sein muss, nämlich das offensive Zugehen auf die, die kommen, und die Verfolgung des Ziels, ihnen die Möglichkeit zu schaffen, in Deutschland eine dauerhafte neue Heimat zu haben - unabhängig von der Frage, ob wirklich alle bleiben. Es ist im Übrigen auch nicht schlimm, die deutsche Sprache zu erlernen, gut ausgebildet zu werden und in sein Heimatland zurückzukehren, weder schlimm für uns noch für die Menschen, die sich vielleicht irgendwann dafür entscheiden.

Erstmals sagt also die Bundesrepublik Deutschland: Wir gehen offensiv auf die zu, die kommen, und schauen nicht passiv zu, was sie tun. - Das ist der große Unterschied zur Einwanderungsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte.

Natürlich kann man sich alles Mögliche vorstellen, was in den nächsten Jahren noch dazukommen kann. Aber es ist ein echter Paradigmenwechsel in Deutschland, das Prinzip "Fördern und Fordern" in den Mittelpunkt zu stellen und letztlich die Botschaft auszusenden: Du kannst hier aus deinem Leben etwas machen, wenn du dich anstrengst. - Das ist eigentlich die Übertragung der Geschichte der Bundesrepublik nach 1949 auf diejenigen, die zu uns kommen. Das ist das Angebot der sozialen Marktwirtschaft an alle, die hier leben, jetzt mit einem speziellen Angebot: Wenn du dich reinhängst, dann wird hier etwas aus dir. Dafür wollen wir dir helfen, aber du musst mitmachen. - Das ist die Botschaft dieses Gesetzes.

Ich finde es großartig, dass diese Koalition das hinbekommen hat. Dass es nicht im Koalitionsvertrag stand, dass wir erwartet haben, dass eine Million Menschen zu uns kommt, erschließt sich von selbst. Aber es zeigt übrigens - wir haben gestern Abend darüber gesprochen -, dass die Koalition gerade in den Feldern Handlungsfähigkeit zeigt, von denen wir eigentlich gar nicht erwartet haben, dass sie auf uns zukommen.

Wie gesagt: Natürlich wird sich vieles dabei in den nächsten Jahren noch entwickeln. Trotzdem denke ich, dass dieser erste große Schritt zu einem Einwanderungsgesetz 1.0 ein wirklicher Paradigmenwechsel ist.

Als Wirtschaftsminister freue ich mich, dass darin geregelt ist, die Ausbildung für Flüchtlinge jedes Alters zu ermöglichen. Wir haben bisher eine Altersgrenze gehabt. Wir haben uns in der Koalition entschieden, dass, bitte schön, die Betriebe selber entscheiden sollen, ob sie einem 25-Jährigen oder einem 28-Jährigen noch eine Ausbildung anbieten. Das muss nicht der Gesetzgeber regeln. Ich freue mich, dass es Rechtssicherheit für die ausbildenden Betriebe gibt. Jemand, der eine Ausbildung anfängt, kann sie unabhängig von seinem ausländerrechtlichen Status zu Ende bringen und danach übrigens auch zwei Jahre hier arbeiten. Wenn er nicht in den Betrieb übernommen wird, dann hat er sechs Monate Zeit, sich nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung einen anderen Betrieb zu suchen. Das wird es vielen Handwerksbetriebe und vielen Unternehmen erleichtern.

Wir haben übrigens auch die Möglichkeit geschaffen, dass Flüchtlinge Zugang zu den ausbildungsbegleitenden Hilfen bekommen, weil wir alle wissen, dass manche - und wahrscheinlich nicht sehr wenige - von denen, die kommen, Begleitung brauchen.

Ich denke also, das ist auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein großer Schritt.

Ich will eine letzte Bemerkung machen, weil wir eben gerade im Kabinett den Bericht darüber gehört haben: Ich denke, alle haben mit großer Erleichterung aufgenommen, dass es in der vergangenen Nach zu einer Vereinbarung mit Griechenland in der Eurogruppe gekommen ist. Ich denke, dass es dort in zweierlei Hinsicht ein sehr gutes Ergebnis gab.

Erstens. Es gibt jetzt keine Debatte, wie es sie anfänglich einmal gab - ausgelöst auch durch den IWF -, über neue, zusätzliche vorbeugende Sparmaßnahmen in Griechenland. Ich denke, jeder weiß, dass das Land schon erheblich unter Stress ist. Sie haben, was ich und viele andere nicht erwartet haben, ein kleines Wirtschaftswachstum erreicht. Das darf man nicht gleich wieder kaputt machen.

Das Zweite ist, dass dort über Schuldenerleichterungen gesprochen wurde.

Beides ist gestern verabredet worden. Ich will ausdrücklich auch von dieser Seite aus all denen danken, die - der Bundesfinanzminister, der Chef der Eurogruppe Dijsselbloem und viele andere - das geschafft haben. Ich denke, wir können alle miteinander froh sein, dass uns in dem für die Europäische Union herausfordernden Monat Juni nicht ein weiteres Thema als Problem hinterlassen wurde. Deswegen ist das, meine ich, ein gutes Ergebnis des gestrigen Abends.

Frage: Herr Gabriel, stimmt es, dass die SPD darauf bestanden hat, in der Meseberger Erklärung den Schutz von Kindern und Frauen in Flüchtlingsheimen unterzubringen? Wie könnte die Bundesregierung diesen Schutz befördern?

Frau Bundeskanzlerin, war Deutschland durch die EU-Asylverfahrensrichtlinie nicht ohnehin verpflichtet, diesen Schutz zu gewährleisten, und warum ist heute darauf verzichtet worden?

BM Gabriel: Ich denke, dass nicht nur die Sozialdemokraten, sondern alle, die sich mit dem Thema beschäftigen, über die zunehmenden Berichte über Übergriffe gegen Frauen und Kinder in den Flüchtlingsunterkünften in den vergangenen Wochen erschrocken waren. Erst einmal gilt, dass überall, wo so etwas zu befürchten ist oder deutlich wird, ohnehin jeder - und zwar ohne dass es dafür irgendeine bundesgesetzliche Vorschrift gibt - gehalten ist, etwas dagegen zu tun. Was immer dagegen getan werden kann, muss man, denke ich, tun, völlig egal, was beim Gesetzgeber steht.

Wir wollen allerdings - das ist jetzt in der Meseberger Erklärung verabredet - mit den Ländern Verabredungen darüber treffen, welche Möglichkeiten existieren, was den Trägern solcher Einrichtungen möglicherweise auch auferlegt werden muss. Diese Gespräche mit den Ländern wird jetzt Frau Schwesig in der Familienministerkonferenz beginnen.

Aber es ist natürlich außerordentlich besorgniserregend, was da stattgefunden hat. Wir können nicht einfach zusehen, wenn Frauen und Kinder nicht hinreichend geschützt sind. Frau Schwesig hat heute noch einmal deutlich gemacht, dass es oftmals überhaupt nur darum geht, dass es innerhalb der Flüchtlingsunterkünfte Ansprechpartner ganz normaler Einrichtungen wie des Kinderschutzbundes oder anderer gibt. Von daher finde ich es richtig, dass wir in der Meseberger Erklärung sagen: Wir werden offensiv auf die Länder zugehen und wollen darüber reden, was man dort anbieten kann und was möglicherweise den Trägern gegenüber auch in den Ländern verpflichtend geregelt werden muss.

BK'in Merkel: So ist es. Wir haben die Erklärung ganz im Geist der Richtlinie der Europäischen Union so formuliert, dass wir mit den Ländern ins Gespräch kommen. Die Länder bringen zum Teil vor, dass sie bereits einiges tun. Auf der anderen Seite erhalten wir immer wieder Berichte, dass in Unterkünften, in denen sehr viele Menschen zusammen sind, Frauen und Kinder erhebliche Schwierigkeiten haben.

Ich denke, es ist der richtige Weg, dass die Bundesfamilienministerin jetzt auf die Jugend- und Familienministerkonferenz zugeht und darüber spricht, was notwendig ist, wo noch Regelungsbedarf besteht und was heute schon stattfindet. Der Bund ist jedenfalls bereit, hier gegebenenfalls auch gesetzlich zu handeln.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Herr Gabriel, dies ist ja mutmaßlich die letzte Kabinettsklausurtagung dieser Großen Koalition hier in Meseberg. Als sie das letzte Mal vor zwei Jahren hier vor uns standen, haben Sie eine Reihe von Projekten verkündet und vom Geist von Meseberg gesprochen. Dieses Mal ging es eher um allgemeine gesellschaftliche Themen und ein Gesetz, das schon seit Wochen oder sogar Monaten in der Pipeline war.

Nun haben Sie noch ein gutes Jahr vor sich. Gibt es denn konkrete Dinge, die Sie sich noch auf den Weg zu bringen vorgenommen haben? Was ist die eigentliche Botschaft, die Sie heute aussenden wollen?

BK'in Merkel: Es ist immer bitter, wenn man eine Viertelstunde gemeinsam gesprochen hat und es dann heißt: Können Sie uns mal sagen, was die Botschaft ist?

Ich kann meinen Eingangssatz wiederholen: Wir haben uns mit wesentlichen gesellschaftlichen Zukunftsthemen beschäftigt, und zwar am Beispiel des digitalen Wandels und am Beispiel der Integrationsaufgabe. Ich denke, beide Aufgaben sind von entscheidender Bedeutung für das gesellschaftliche Miteinander, für die Bewältigung der Veränderungen und für die Arbeitsplätze der Zukunft.

Ob dies die letzte Klausurtagung sein wird, weiß ich nicht. Wir behalten uns jedenfalls vor, Sie noch einmal hierher zu bitten. Uns hat es, glaube ich, auch gut getan, gerade auch den digitalen Wandel einmal im Zusammenhang zu besprechen. Wir haben natürlich noch eine ganze Menge vor. Wir hatten ja im Herbst den Teil eins der Digitalen Agenda und die dazu notwendigen gesetzlichen Maßnahmen in Berlin besprochen - im Übrigen anstelle der Kabinettsklausur -, und jetzt haben wir den Blick etwas geweitet. Aber wir haben jetzt, sage ich einmal, auf dem Weg der Energiewende noch Riesenvorhaben vor uns. Nächste Woche geht es mit der Neufassung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes weiter. Damit ist die Energiewende aber auch noch nicht abgeschlossen, sodass ich glaube, dass uns dieses Thema, aber auch das Thema des Digitalen in den nächsten Monaten noch sehr interessant begleiten wird.

Wenn ich Ihnen einmal ein Beispiel nennen darf: Alle Gesetze, die wir haben, sind darauf durchgesehen worden, wo handschriftliche Unterschriften in Zukunft durch digitale Signaturen ersetzt werden können. Da gibt es, wenn ich das recht in Erinnerung habe, 2000 oder mehr gesetzliche Fälle, in denen eine handschriftliche Unterschrift durch eine gleichberechtigte elektronische Signatur ersetzt werden könnte. Jetzt werden viele rechtliche Fragen aufgeworfen, zum Beispiel: Wenn ich nur eine elektronische Signatur habe, wie mache ich das sozusagen revisionssicher? - Es wird jetzt - so ist die Ressortabstimmung eingeleitet worden - in 500 Fällen die Gleichrangigkeit von elektronischer Signatur und Unterschrift geben, aber dann bleiben immer noch 1500 Fälle übrig. Wir werden uns jetzt zum Beispiel einmal damit beschäftigen, warum in der Fachabstimmung bis jetzt gesagt worden ist: Das geht nicht. Wenn man gestern den estnischen Ministerpräsidenten gehört hat, dann geht es jedenfalls in mehr Fällen, das eine durch das andere zu ersetzen, als nur in 500 von 2000 Fällen.

So kann jeder Fachminister - von der Änderung der Straßenverkehrsordnung wegen des autonomen Fahrens bis zu Gesundheitsfragen, Versicherungsfragen, Rechtsanwaltskammern, Strafverfahren - darüber berichten, was im täglichen Prozess umzusetzen ist. Ich will Ihnen also nur sagen: Wir werden bis zum Ende der Legislaturperiode noch gut beschäftigt sein.

BM Gabriel: Die Botschaft ist: Wir beschäftigen uns mit der Zukunft dieses Landes - das ist die Botschaft dieser Tage -, und zwar in zwei großen Feldern, nämlich dem der Frage der Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft und dem der Frage der Zuwanderung. Es gibt nicht viele Themen, die noch größer sind als diese - außer die von Krieg und Frieden und des Zusammenhalts in Europa. Übrigens spielt Griechenland dabei ja eben durchaus auch eine Rolle. Aber die beiden großen Botschaften für die Zukunft unseres Landes befassen sich mit dem Thema Digitalisierung und mit dem Thema Zuwanderung.

Dass wir hier keine lange Latte von noch zu klärenden Problemen hatten, liegt daran, dass wir sie vorher geklärt haben. Ich kann mich an die Berichte Anfang des Jahres darüber erinnern, dass sozusagen - "Jetzt machen die da nichts mehr" - nur noch Stillstand herrsche. Ich meine, wir haben gerade erst über Leiharbeit, Zeitarbeit und Werkverträge entschieden. Wir befinden uns in der letzten Runde dessen, das gesamte, große Energiepaket, das sich diese Koalition vorgenommen hat, zu Ende zu bringen. Wir haben zum Thema Teilhabegesetz die Ressortabstimmung und die Verbände-Anhörung eingeleitet. Wir haben vor der Osterpause einen Haushaltseckwertebeschluss getroffen, in dem steht, dass wir bei der Solidarrente oder Mindestrente, wie immer man sie nennen will, etwas machen will. Wir haben auch entschieden: Wir wollen die Bundeswehr besser ausstatten. Wir haben entschieden, dass wir 3000 Bundespolizisten einstellen wollen. Wir haben in der Koalition eine Verabredung über Anti-Terror-Maßnahmen und über den Schutz vor Kriminalität getroffen. Das alles haben wir gemacht, seitdem man uns in der Öffentlichkeit gesagt hat, eigentlich machten wir nichts mehr. Das führt dann dazu, dass wir hier in Meseberg jetzt auch keine Riesenlatte offener Konfliktpunkte hatten, weil wir zur Überraschung aller ganz normal arbeiten.

Ich verstehe, dass es, sagen wir einmal, den Konflikt der Kommunikation gibt; das ist Parteivorsitzenden ja jetzt nicht völlig fremd. Aber es ist natürlich auch so: 90 Prozent dessen, was eine Regierung tut, ist erst einmal Handwerk. Wenn das nicht funktioniert, dann können Sie übrigens die anderen 10 Prozent - Intuition oder was auch immer man da nennen will - vergessen. Der größte Teil ist erst einmal, sauberes Handwerk abzuliefern, und das haben die Ministerinnen und Minister auch in diesem Jahr seit Januar mit einer Vielzahl von Maßnahmen getan. Das ist auch der Grund dafür, dass wir hier jetzt keine gigantischen Konfliktfelder abzuarbeiten hatten. Das haben wir, glaube ich, ganz gut im Griff.

Die Vorhaben, die wir in dieser Periode noch machen wollen, kennen Sie. Meine Erfahrung oder unsere Erfahrung ist: Es kommen immer irgendwie ein paar Fragen hinzu, von denen wir nicht gedacht haben, dass wir sie noch erleben müssen - hoffentlich nicht so schlimm wie in der Vergangenheit.

Aber zurück zu der Klausur: Zwei wichtige Zukunftsfragen für dieses Land haben wir hier beraten. Ich wiederhole: Wir haben eine Debatte darüber, dass man Europa angeblich nicht mehr bräuchte, dass man aus dem Euro heraus könne oder dass das alles rückabgewickelt wird. Die Frage der Digitalisierung und der Wettbewerbsfähigkeit in einer digitalen globalen Ökonomie ist nur europäisch zu beantworten, und darüber haben wir beraten. Das wird die Jobs der Zukunft sichern, wenn wir es gut machen. Ich finde, es gibt kaum etwas Wichtigeres für dieses Land.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, der türkische Präsident hat sich ja gestern zu Wort gemeldet und gedroht, den Flüchtlingsdeal vielleicht platzen zu lassen, wenn es in Sachen Visaliberalisierung beziehungsweise Visafreiheit für türkische Staatsbürger nicht schneller vorangehe. Wie besorgt sind Sie aufgrund dieser Äußerungen?

Herr Gabriel, Sie sagten gerade, es gebe gar keine strittigen Themen mehr. Wenn man die auf der Klausurtagung ausklammert, wie also die Erbschaftssteuer oder den Streit um Glyphosat, dann ist natürlich klar, dass man hier Harmonie demonstrieren kann. Warum sind diese beiden Themen auf dieser Klausurtagung nicht auch behandelt worden?

BK'in Merkel: Ich habe ja vor zwei Tagen auch die Gespräche mit dem türkischen Präsidenten geführt und kann das sagen, was ich nach dem Aufenthalt in der Türkei gesagt habe: Die 72 Forderungen, deren Erfüllung hinsichtlich der Visaliberalisierung oder -befreiung notwendig ist, sind noch nicht erfüllt. Dafür wird noch mehr Zeit notwendig sein. Es wird Gespräche zwischen der Kommission und der Türkei geben, und in diesen Gesprächen wird alles auf den Tisch kommen. Ich gehe davon aus, dass diese Gesprächsbereitschaft auf beiden Seiten besteht; das war mein Eindruck. Auch all das, was ich jetzt im Hinblick auf die Aufgabe der Kommission höre, ist so. Insofern bin ich nicht besorgt. Es kann sein, dass wir für einige Fragen etwas länger Zeit brauchen, aber im Grundsatz werden wir jedenfalls von unserer Seite aus zu unseren Vereinbarungen stehen.

BM Gabriel: Ich habe nicht gesagt, dass es keine Streits gibt. Es gibt sogar manchmal quer zu den parteipolitischen Konstellationen unterschiedliche Auffassung in Fraktionen. Na klar, die Erbschaftssteuer ist so ein Beispiel dafür.

Trotzdem würde ich sagen: Die beiden Themen, die wir heute und gestern hier beredet haben, haben eine weit größere Bedeutung als zum Beispiel die beiden, die Sie genannt haben. Die muss man auch klären, und das werden wir auch machen - da habe ich keine Sorge, dass wir das nicht schaffen werden - , aber ich bin sehr sicher, dass diese beiden Themen, die für uns im Mittelpunkt standen - auch wenn da am Ende jetzt nicht ein Beschluss über Milliardenbeträge oder ein neues Gesetz steht -, für die Zukunft des Landes weit entscheidender sein werden als das ungelöste und irgendwann zu lösende Problem der Erbschaftssteuer.

Frage: Da wir dann ja irgendwann doch alle in irgendeiner Form nach den 10 Prozent gefragt werden, die nicht aus Handwerk bestehen, nämlich danach - ich möchte nicht mutmaßen, sondern gebe die Frage an Sie weiter -, wie die Stimmung war: Wie war die Stimmung? Gibt es ein ganz klares, robustes "Ja, wir schaffen es, bis zur nächsten Bundestagswahl gemeinsam dieses Land zu regieren"?

BK'in Merkel: Dieses "Ja, wir schaffen das" war so selbstverständlich, dass wir darüber nicht sprechen mussten. Die Stimmung war gut, und zwar in dem Sinne, dass wir gestern in unglaublicher Breite gerade diese Digitale Agenda besprochen haben. Es bestand auch die Gelegenheit - das ist ja auch der Sinn solcher Klausurtagungen -, einmal ein bisschen in die Tiefe zu gehen und von den einzelnen Ressorts zu hören, was eigentlich alles jenseits der Gesetzgebung angestoßen wird. Insofern würde ich sagen: Es war sehr konstruktiv, sehr produktiv, und man konnte auch einmal lachen.

Frage: Sie haben sich oder die Arbeit Ihrer Koalition jetzt beide sehr gelobt. Wie wünschenswert - das ist eine Frage an beide - ist denn die Fortsetzung dieses Bündnisses, dieser Konstellation nach der Bundestagswahl 2017?

BM Gabriel: Was sagen wir denn jetzt dazu?

BK'in Merkel: Du kannst sagen, dass die Parteien wie immer ihren Wahlkampf führen werden und dass die Bundesregierung trotzdem bis zu diesem Wahltag ihre Aufgaben sehr gut erledigen wird. Wahlkämpfe sind keine Koalitionswahlkämpfe, sondern Wahlkämpfe sind Wahlkämpfe für die jeweilige Partei.

BM Gabriel: Selbst bei dieser Aussage stimme ich der Bundeskanzlerin zu.

BK'in Merkel: Ich glaube, wir sind jetzt schon bei den Stimmungen angekommen; daher bedanke ich mich und sage: Alles Gute!

Mittwoch, 25. Mai 2016

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Quelle:
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Bundesminister Gabriel in Meseberg, 25.05.2016
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2016/05/2016-05-25-pk-merkel-gabriel-meseberg.html;jsessionid=F06476FF21DE37FC6C8A3D84CB1A70A1.s7t1
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2016

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