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SCHLESWIG-HOLSTEIN/2075: Fluchtpunkt Boostedt (Landtag)


Der Landtag - Nr. 04 / Dezember 2014
Die Parlamentszeitschrift für Schleswig-Holstein

Fluchtpunkt Boostedt
Wie sich ein Dorf mit 4.600 Einwohnern auf 500 Flüchtlinge vorbereitet

Von Vivien Albers


Unsere Volontärin Vivien Albers hat im Oktober und November ein mehrwöchiges Seminar an der Akademie für Publizistik in Hamburg absolviert. Eine der Aufgaben war es, eine Reportage zu schreiben. Dafür besuchte sie Boostedt bei Neumünster, wo in den kommenden Monaten bis zu 500 Flüchtlinge einquartiert werden sollen.


Vor dem Gemeindehaus der evangelischen Kirche in Boostedt schleicht ein schwarzweißer Kater durchs Gras und beobachtet das Treiben um ihn herum. Es ist Reformationstag. Mitglieder der Bartholomäus-Gemeinde haben einer Grundschulklasse eben ein Theaterstück vorgeführt. In dem Schauspiel ging es darum, wie Martin Luther seine Thesen an der Schlosskirche in Wittenberg angeschlagen hat.

Martin Luther ist noch in der Kirche und legt die Kutte ab. Es ist der Pastor von Boostedt, Thomas Lemke. Gemeinsam mit anderen Kirchenvertretern bereitet er das Dorf auf das neue Jahr vor. In der Rantzau-Kaserne, wenige hundert Meter entfernt, entsteht dann eine Unterkunft für Asylsuchende. Die teilweise leerstehenden Wohnblöcke der Panzerbrigade 18 werden eine Erweiterung des Erstaufnahmelagers in Neumünster.

Es ist eine große Zahl, die auf die Boostedter zukommt: Rund 500 Flüchtlinge sollen in der Kaserne untergebracht werden. Nicht einmal 4.600 Einwohner hat die Gemeinde. Dieses Zahlenverhältnis habe viele Menschen erstmal verschreckt, erzählt Thomas Lemke. Sabrina Freuling, eine junge Lehrerin und Kirchenvorsteherin, nickt zustimmend. "Die Stimmung hier ist durchwachsen, viele sind unsicher." Die Dorfbewohner seien eben mit einer völlig neuen Situation konfrontiert, erklärt der Pastor, und könnten die noch nicht so recht einschätzen. Auf einer Einwohnerversammlung wenige Wochen zuvor äußerten einige Bürger Sorgen vor Kriminalität, oder dass es zu wenige Ärzte in Boostedt für Einheimische und Flüchtlinge gebe. Solche Ängste wollen Sabrina Freuling und Pastor Lemke zerstreuen. Deswegen waren sie am Vortag in der Landesunterkunft in Neumünster und in der dortigen Kirchengemeinde, die sich für die Flüchtlinge engagiert.

In der Neumünsteraner Unterkunft ist es ruhig. Trotz des guten Wetters ist draußen wenig los. Ein Mann vom Sicherheitsdienst geht über den Hof, am Zaun steht ein kleines Grüppchen Männer mittleren Alters und diskutiert leise, vor dem Hauseingang raucht ein junger Mann. An einer Flurtür hängen mehrere Wegweiser: Frauensportraum, Männersportraum, Schule für Kinder von sechs bis 16 Jahren. Das Büro von Ulf Döhring, Leiter des Landesamtes für Ausländerangelegenheiten, ist groß und hell und befindet sich im vorderen Haus der Flüchtlingsunterkunft. Er leitet das Amt schon seit über 14 Jahren. In diesem Jahr ist noch mehr zu tun als sonst, die Zahl der Asylbewerber in Deutschland ist erstmals wieder so hoch wie Mitte der 1990er Jahre. Die meisten von ihnen, in diesem Monat fast 27 Prozent, stammen aus Syrien, sie sind vor dem Bürgerkrieg geflohen. An manchen Tagen kommen 50 neue Flüchtlinge in die Unterkunft. Zurzeit können die Asylsuchenden nur zwei Wochen bleiben, bevor sie den Kreisen zugewiesen werden. 14 Tage sind viel zu kurz, um ein vernünftiges Asylverfahren zu starten, erklärt Döhring. Es ist eine Aufenthaltsdauer von sechs Wochen nötig, um den Kreisen genügend Zeit zu geben, sich darauf vorzubereiten, wer kommt und was die Menschen brauchen.

Kein Wunder also, dass der Leiter des Landesamtes froh ist, wenn die zusätzliche Aufnahmestelle in Boostedt aufmacht. Die Sorgen und Ängste der Dorfbewohner kann er nachvollziehen. "Aber ich bin sicher, dass sie sich nicht realisieren werden. Ich denke, dass die Ängste abgebaut werden, wenn es losgeht. Aber das geht nur durch Erleben." So wie in Neumünster selber, hier haben die Einwohner keinen Anlass für Sorgen. Straftaten zählt die Polizei im Umkreis der Unterkunft nur sehr wenige, und auch sonst gibt es keinen Grund zur Klage. Das Verhältnis zur Nachbarschaft sei sehr gut, erzählt Döhring. Woran man das merke? "Es kommt keiner, um sich zu beschweren." Bei der letzten Einwohnerversammlung ging es darum, dass die Unterkunft bald vergrößert wird. Gerade einmal fünf interessierte Bürger kamen. Auch die medizinische Versorgung sei unproblematisch, versichert der Leiter des Landesamtes. Im Boostedter Aufnahmelager soll es einen ärztlichen Dienst geben, der eine Art hausärztliche Betreuung anbietet. Und das Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster habe schon zugesagt, die 500 neuen Flüchtlinge versorgen zu können.

Über all das hat Ulf Döhring auch mit Pastor Lemke und Sabrina Freuling gesprochen. Zurück in Boostedt planen die beiden mit diesen Auskünften einen Informationsabend. Dazu laden sie auch die Pastorin der Gemeinde in Neumünster ein und einen Flüchtling mit Dolmetscher. "Wir wollen damit sozusagen live die Ängste abbauen", erklärt der Geistliche. Es geht aber nicht nur darum, zu informieren, sondern auch, den Flüchtlingen zu helfen. Dafür soll ein Verein gegründet werden. Pastor Lemke ist sich darüber im Klaren, dass nur wenige ehrenamtliche Angebote bei einem so kurzen Aufenthalt von zwei bis sechs Wochen umsetzbar sind. Aber wenigstens das Allererste wolle man anbieten, mit Gesten und Spielzeug helfen oder den Asylsuchenden im Supermarkt erklären, wo sie was finden. Eine "Willkommens-Mini-Kultur", wie er es ausdrückt. Einige Bürger würden gerne jetzt schon loslegen, ergänzt Sabrina Freuling, und Kleidung oder Haushaltsgegenstände spenden.

Das möchten selbst ehemalige Boostedter. Der Bürgermeister des Dorfes, Hartmut König, hat kürzlich ein Paket aus Göttingen bekommen. "Darin war ein ganz lieber Brief", erzählt er. "Jemand, der vor vielen Jahren hier wohnte, hat uns zehn nagelneue Teddys geschickt als Willkommensgruß für die Kinder." Warum die Bereitschaft, zu helfen, so groß ist, liegt für Hartmut König auf der Hand: Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden viele Flüchtlinge und Vertriebene in Boostedt Zuflucht und blieben. Durch sie wurde aus dem kleinen Ort erst ein richtiges Dorf. Davon zeugen noch einige Straßennamen, wie die Schlesienstraße, die Pommernstraße oder die Ostpreußenstraße. Nun benötigen andere Menschen Hilfe und Unterkunft, und die will man gerne geben.

Aber der Bürgermeister will nicht alles beschönigen. Neben der Hilfsbereitschaft sei auch Unmut aufgekommen. Die Einwohner und die Kommunalpolitiker fühlten sich nicht immer ausreichend informiert über die Pläne, die Kaserne umzugestalten.

Wolfgang Brückner, CDU-Fraktionsvorsitzender der Gemeinde, bestätigt das. Teilweise seien die Medien eher im Bilde gewesen als die Entscheidungsträger und Einwohner von Boostedt. Außerdem gebe es noch einige offene Fragen, kritisiert er. So wie die, wo der Schulsport zukünftig stattfinden soll. Die Turnhalle der Kaserne dient dem Sportunterricht der hiesigen Schule, gehört aber zu dem Teil der Kaserne, der für die Flüchtlingsunterkunft genutzt wird. Bedenklich findet Wolfgang Brückner auch, dass die Asylsuchenden auf einem Militärgelände mit einer Standortschießanlage untergebracht werden. "Wir hören nachts das Schießen. Ist das gut für traumatisierte Flüchtlinge? Oder wenn Leute in Uniform im Laufschritt vorbeikommen?" Trotzdem sieht der Fraktionsvorsitzende die Situation als eine Aufgabe, die es gemeinsam zu lösen gilt und die viele Chancen birgt: Menschen anderer Kulturen kennenzulernen zum Beispiel. Bürgermeister König erzählt, dass auch die Bürger keine Trotzreaktion zeigen, im Gegenteil. Indem sie sich jetzt schon vorbereiten, könne Boostedt als Vorbild dienen, findet König.

Im Gemeindehaus herrscht Aufbruchstimmung. Pastor Lemke, Sabrina Freuling und weitere Kirchengemeinderatsmitglieder beladen ihre Autos. Über das Wochenende fahren sie zu einer Klausurtagung nach Ratzeburg. Dort steht einiges auf dem Programm - unter anderem, wie sie die Hilfe für die Flüchtlinge vorbereiten können. Der schwarz-weiße Kater scharwenzelt zwischen ihnen umher und besteht darauf, gestreichelt zu werden. "Das ist Willi, der große Mäusefänger", ruft ein alter Herr mit Rollator herüber. Man glaubt ihm sofort, denn Willi ist gut genährt und wirkt sehr zufrieden. Die Leute hier müssen gut zu ihm sein, sonst wäre der Kater nicht so zutraulich. Er scheint sich wohl zu fühlen in Boostedt.

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Quelle:
Der Landtag, Nr. 04 / Dezember 2014, S. 12-13
Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers:
Der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages
Referat für Öffentlichkeitsarbeit, L143,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2015

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