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KULTUR/111: Rede Andrea Nahles zur Ausstellungseröffnung "150 Jahre deutsche Sozialdemokratie"


SPD-Pressemitteilung 288/12 vom 12. September 2012

Rede der SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles anlässlich der Ausstellungseröffnung "150 Jahre deutsche Sozialdemokratie" am Dienstag, dem 12. September 2012, im Paul-Löbe-Haus in Berlin.



- Es gilt das gesprochene Wort -

Ein für mich wichtiges Bild habe ich in dieser Ausstellung noch nicht gefunden. Und zwar deshalb, weil es dieses Bild offenbar nicht gibt.

Wäre es gemacht worden und erhalten geblieben, würde es uns eine der bedeutendsten Stunden der deutschen Parlamentsgeschichte zeigen. Ja, eine der Geburtsstunden der deutschen Demokratie.

Im Februar 1919 sprach eine Frau vor der Nationalversammlung. Als Freie und Gleiche gewählt. Zum ersten Mal.

Das Bild würde Marie Juchacz zeigen. Sie selbst fehlt in dieser Ausstellung natürlich nicht, insbesondere ihrem Engagement unter dem roten Herz der AWO, der Arbeiterwohlfahrt, ist eine Stele gewidmet.

Aber sie macht in ihrer Person zugleich deutlich: Diese Ausstellung ist da, wo sie hingehört! Im Herzen der deutschen Demokratie, im deutschen Parlament, im Deutschen Bundestag. Ich danke Ihnen, lieber Herr Lammert, dass Sie dies würdigen. Dass Sie damit ausdrücken: Es geht hier nicht allein um die Geschichte einer Partei, sondern um das Werden und Bestehen unserer deutschen Demokratie.

Dass der Einsatz und das Ringen unserer, der sozialdemokratischen Partei für die deutsche Demokratie über Parteigrenzen hinweg wertgeschätzt und wichtig genommen wird.

Aufgefordert von Ferdinand Lassalle machte sich vor 150 Jahren die junge Bewegung auf den Weg:

"Der Arbeiterstand muss sich als selbstständige politische Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen."

August Bebel erlebte auf diesem Weg, wie man ihm im Reichstag das Wort abschnitt, als er die Machtlosigkeit des Parlamentes offen kritisierte und für eine Verfassung, für ein Parlament eintrat, die diese Namen auch verdienten.

Paul Löbe erfuhr Verhaftung und Gefängnis, weil er aufrief, gegen das undemokratische preußische Klassenwahlrecht auf die Straße zu gehen.

Otto Wels bebende Stimme in der Krolloper schwingt in vielen von uns nach.

Und eben Marie Juchacz, die Sinnbild und Zeugin des ersten großen Sieges unter dem Banner mit der Losung "freie, gleiche Wahl" werden durfte.

Schon jetzt ist klar: Die SPD ist kein Museum.

Die deutsche Sozialdemokratie lebt in und durch Menschen - Rechtlose und Geknechtete, Mutige und Widerständige, Visionäre und Handfeste. Einfache Menschen. Bürgerinnen und Bürger, für die in diesem Wort große Verantwortung mitklingt.

Und Freiheit: Nicht so leben zu müssen, wie ich soll, sondern so leben zu können, wie ich will. Das für sich erreichen zu können, das treibt an. Und für die anderen Menschen um mich herum: Solidarität. Gleiche Rechte, gleiche Pflichten, gleiche Chancen - das heißt für uns: Gerechtigkeit. 150 Jahre SPD zeigen, dass Ideen und politische Überzeugungen tragen und halten, dass sie über Generationen hinweg Menschen bewegen und begeistern können.

Wichtig ist aber, dass diese großen Ideen und Programme im Alltag der Menschen erlebbar und greifbar werden.

Seit 150 Jahren setzen sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dafür ein, dass das Leben für jede und jeden einfacher und besser wird. Und wir setzen uns dafür ein, dass Güter und Lasten gerechter verteilt werden. Denn wir wissen, dass wir gemeinsam mehr und Besseres schaffen und leisten können, wenn alle den Rücken frei haben. Das ist für uns der Kern sozialer Marktwirtschaft.

Wir waren nie die Bewegung der Großgrundbesitzer und Großbürger, Großindustriellen und Hochfinanz.

In der SPD manifestiert sich die Hoffnung und der Stolz der einfachen, der kleinen Leute: Gemeinsam sind wir stark! Stärker als Kapital und Pfründe. Unsere Bewegung wird ein besseres Deutschland bauen.

Weil die Sozialdemokratie in Menschen lebt, weil sie durch ihren Einsatz im täglichen Leben spürbar wird, zeigt diese Ausstellung immer auch Gesichter, Augenblicke im Leben, sie lässt erahnen: Programme und Projekte werden lebendig, wenn sich Menschen finden, die sie in ihrem Leben zum Leitbild machen und ihnen so ein Gesicht verleihen.

Es sind ruhige Menschen wie der Sattlergeselle Friedrich Ebert oder streitbare wie Rosa Luxemburg.

Es sind kluge Frauen wie Elisabeth Selbert, die dafür sorgte, das im Grundgesetz unmissverständlich steht: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt."

Es sind gezeichnete Menschen wie Kurt Schumacher, der die Spuren von Krieg und Verfolgung sichtbar am Leib trug und in dem doch ein unbezwingbares Feuer loderte.

Es sind bewunderte Menschen wie Willy Brandt, die Zukunft und Zuversicht ausstrahlen, Frieden und Verständigung spürbar machen.

Es sind Menschen wie Elfriede Eilers, die still doch große gesellschaftliche Veränderungen bewirkt haben, für Frauen, Familien und Pflegebedürftige. Wie Regine Hildebrandt, die Enttäuschten Hoffnung geben konnte, Verzweifelten Mut, Verstummten ihre unermüdliche brandenburgische "Schnauze".

Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum diese Ausstellung an der richtigen Stelle ist: Die SPD arbeitet weiter für die Ziele und Werte, aus denen sie lebt: Und das heißt vor allem parlamentarische Arbeit. Nicht Museum.

Unser Ziel, das Leben einfacher und besser zu machen, ist gerade heute wieder brennend aktuell!

Alle erleben doch, wie das Leben heutzutage nicht allmählich besser, sondern vielmehr von Jahr zu Jahr schwieriger wird: Die Lebenshaltungskosten steigen, die Löhne stagnieren. Einem Abschluss, einer Ausbildung folgt immer seltener der Einstieg in den Beruf, oft erst einmal nur zu einem prekären Fegefeuer von Praktika oder Kettenbefristungen zu untertariflichen Löhnen. Auch alle, die es nicht am eigenen Leib spüren, wissen es doch von Kindern und Enkeln aus erster Hand.

Darum setzen wir uns für ordentliche Löhne und anständige Arbeitsbedingungen ein, gegen sachgrundlose Befristungen und die Auswüchse bei den Praktika, einen gesetzlichen Mindestlohn für alle und für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit für Männer und Frauen. - "Wir Frauen sind uns sehr bewusst, dass in zivilrechtlicher wie auch in wirtschaftlicher Beziehung die Frauen noch lange nicht die Gleichberechtigten sind."

Das ist meine Meinung - doch es waren 1919 die Worte von Marie Juchacz! Es gibt noch so viel zu tun, so viel zu erkämpfen, so viel zu erhalten, das wieder auf der Kippe steht.

Wir wollen, dass die Arbeit geachtet wird und dass diejenigen wertgeschätzt werden, die die Arbeit leisten, aus der der Wohlstand aller kommt.

Darum wollen wir, dass Arbeit zu ordentlichen Löhnen und guten Bedingungen, sozial abgesichert und unbefristet wieder zum Normalfall wird!

Da wird sozialdemokratische Politik für jede und jeden spürbar und erlebbar, Tag für Tag und überall.

Die Ausstellung über die lange Geschichte der Sozialdemokratie lässt deutlich spürbar werden:

Die SPD ist einst wie jetzt die Kraft, die unsere Gesellschaft gestaltet - frei, gerecht und solidarisch.

Wir müssen uns nicht verstecken. Das können wir selbstbewusst vertreten. Und vorzeigen - wie es der Friedrich-Ebert-Stiftung hier eindrucksvoll gelingt.

Andere mussten in dieser Zeit revolutionärer Aufbrüche, schuldhafter Zusammenbrüche und epochaler Umbrüche oft genug die Brücken hinter sich abbrechen - unsere Brücke zu den Anfängen trägt. Das ist bemerkenswert und außergewöhnlich in der politischen Landschaft. Das macht auch stolz.

Aber die Brücke steht nicht nur auf einer Seite fest. Wir klopfen uns nicht auf die Schultern, wie toll wir sind, weil wir einer so traditionsreichen Partei angehören.

Wir haben immer auch die Brücke in die Zukunft geschlagen. Am Anfang als Utopie. Dann mit immer mehr realen Veränderungen. Und immer mehr Verantwortung. Wagnis und Sinn für die Wirklichkeit. Leidenschaft und Augenmaß.

Das mag die Sozialdemokratie für manche zu einer langweiligen Partei gemacht haben. Es hat uns auf jeden Fall zu einer Partei gemacht, die mit langem Atem und auf lange Frist viel bewirkt hat.

Die Sozialdemokratie hat die Arbeiterinnen und Arbeiter zur Hoffnung ermuntert, als eine bessere Zukunft kaum erreichbar schien. Sie hat Verbote und Verfolgungen überdauert und überlebt. Sie hat nach den verheerenden Kriegen den Wiederaufbau zu ihrer Sache gemacht.

Die Ostpolitik unter Willy Brandt hat den Eisernen Vorhang erst durchlässiger gemacht und später geholfen, ihn ganz zu überwinden. Helmut Schmidt hat in schwierigen Zeiten Ökonomie und Soziales zusammengebracht. Mit Gerhard Schröder haben wir Deutschland modernisiert und eigenständige außenpolitische Verantwortung bewiesen.

Ich freue mich über diese Ausstellung. Und jetzt habe ich auch mein Bild gefunden. Es ist kein einzelnes Bild. Es ist ein großes Bild, das sich aus vielen kleinen Bildern zusammensetzt. Ein Bild von 150 Jahren SPD. Es beeindruckt, macht stolz und demütig zugleich.

Dieses Bild lässt die Hoffnung keimen, dass diese Geschichte weiter geht. Es weckt den Mut, selber Teil dieser Geschichte zu sein, selber mit zu malen und sich mit einzuschreiben.

Was damals in Leipzig und anderswo begonnen hat, verdient eine Zukunft. Denn es bleibt noch so viel zu tun, damit das alltägliche Leben besser wird, damit Ordnung geschaffen wird auf dem Arbeitsmarkt, das regellose und zügellose Treiben aufhört, Arbeit wieder im Mittelpunkt steht in Deutschland und Europa!

Damit mehr Leute Arbeit finden, von der sie ihre Miete bezahlen können, von der sie ordentlich leben und ihre Familie ernähren können und ihren Kindern eine ordentliche Bildung ermöglichen!

Damit Gesundheit für alle bezahlbar bleibt, dass jeder genug hat, um auch für das Alter vorzusorgen, und keiner Angst haben muss, dass er auf sich allein gestellt ist, wenn er Hilfe braucht!

Die Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt mit der Ausstellung, dass soziale Demokratie in Deutschland schon 150 Jahre Herzenssache ist.

Und wir erleben diese Ausstellung im Herzen der deutschen Demokratie.

Lassen Sie mich dafür einfach von Herzen "Danke!" sagen.

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung 288/12 vom 12. September 2012
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2012