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AFRIKA/1057: Tunesien - Nach der Unterdrückung der politische Aufschwung, Islamistenpartei vorn (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. Oktober 2011

Tunesien: Nach der Unterdrückung der politische Aufschwung - Islamistenpartei vorn

von Jake Lippincott


Tunis, 18. Oktober (IPS) - Am 23. Oktober sind 7,5 Millionen wahlberechtigte Tunesier im In- und Ausland aufgerufen, die verfassungsgebende Versammlung ihres Landes zu wählen. Bisher deutet alles darauf hin, dass die unter dem geflohenen Ex-Präsidenten Zine Abadine Ben Ali verbotene Islamistenpartei 'Ennahda' ('Wiedererweckung') zur stärksten politischen Kraft im Lande wird.

Hunderte Parteien und politische Gruppierungen bewerben sich auf 63 Listen und mit insgesamt 10.937 Kandidatinnen und Kandidaten um die 217 Sitze des parlamentarischen Gremiums. Doch diese Vielfalt vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass sich der Urnengang aller Voraussicht nach zwischen der von Rached Ghannouchi geführten Ennahda und der westlich geprägten Demokratischen Fortschrittspartei (PDP) unter Ahmed Nejib Chebbi entscheiden wird.

Die Anhänger der so genannten politischen Islamisten loben die Partei wegen ihres honorigen Ansehens und ihrer Verbindungen zu karitativen Organisationen. Vor allem aber findet ihr hartnäckiger Widerstand gegen Ben Ali in der Arbeiterklasse und im armen, vernachlässigten tunesischen Westen großen Zuspruch.


Politisch moderates Auftreten

Offiziell gibt sich Ennahda politisch moderat. Ihre Mitglieder betonen, die Partei habe mehr gemein mit einer europäischen christdemokratischen Partei als mit Strömungen in anderen Ländern, die auf den Aufbau eines Gottesstaates zielen.

Ennahdas Popularität hat Tunesiens westlich orientierte Eliten überrascht und aufgeschreckt. Es waren vor allem etablierte, ausgemacht säkulare Bürgerliche der Küstenregion, die im Januar die Revolution unterstützten. Angesichts der Popularität von Ennahda und deren Versprechen, die regionale soziale und wirtschaftliche Ungleichheit im Land abzubauen, befürchten viele Tunesier den Verlust ihrer unter dem ehemaligen Regime erworbenen Privilegien.

Ein Besuch in den Hauptquartieren der politischen Rivalen Ennahda und PDP macht deutlich, wie sehr sich deren Wahlhelfer und Aktivisten allein schon in ihrem Auftreten unterscheiden. Bei Ennahda begrüßen freundliche junge Leute, Männer in Freizeitkluft und Frauen mit Kopftuch, die Besucher mit traditioneller tunesischer Gastfreundschaft.

In den Büros der PDP geht es eher höflich-sachlich zu. Hier ist westliches Büro-Outfit angesagt, und auf den Wahlplakaten werben Politikerköpfe um Stimmen. Ähnlich modern hatte sich auch Ben Alis Regierung präsentiert.

Die PDP war unter dem alten Machthaber zwar nie verboten, doch ihre Mitglieder wurden angegriffen und drangsaliert. Jetzt muss sie sich gegen die Annahme wehren, sie trete als inoffizielle Nachfolgerin der vormaligen Regierungspartei RCD an. Man erwartet, dass sie vor allem in den Küstenstädten Erfolg haben werden, die von der früheren Regierung profitierten.

Die politische Konkurrenz wirft der PDP allzu große Nähe zu dem korrupten und elitären Regime Ben Alis vor. Dagegen unterstellen Gegner der Ennahda, ihr Auftreten sei nur eine Fassade, hinter der sie ihre wahren Absichten verberge, aus Tunesien einen Gottesstaat nach iranischem oder saudischem Vorbild zu machen.

"Ennahda ist keine direkte Bedrohung des demokratischen Übergangs in Tunesien", erklärte die Jurastudentin Najma Kousri aus Tunis gegenüber IPS. "Allerdings könnte sie langfristig gefährlich werden", meinte die 20-Jährige, die ihre Stimme einer kleinen Linkspartei geben will. "Wirklich gefährlich sind dagegen die Überreste der alten Diktatur", betonte sie.

Feyjani Sayed, ein Mitglied des Politbüros von Ennahda, weist die gegen seine Partei erhobenen Vorwürfe als unfaire Unterstellungen zurück. "Wir müssen die Mehrheit ebenso schützen wie die Minderheit, ob es sich nun um Gläubige oder Nichtgläubige handelt", bekräftige er gegenüber IPS. "Wir waren die stärkste Opposition gegen Ben Ali und haben dafür einen hohen Preis gezahlt."


Werben mit sozialer Marktwirtschaft

"Ennahda verdankt ihren Erfolg ihrem maßvollen Auftreten. Tunesier mögen Religiosität, doch sie übertreiben sie nicht", stellte der Politiker fest. Die wirtschaftliche Zielsetzung der Partei sei eine soziale, freie Marktwirtschaft. "Im vernachlässigten Westen Tunesiens wollen wir eine Infrastruktur aufbauen, damit dort Investoren angesiedelt und Arbeitsplätze geschaffen werden können."

Auch mit ihren Plänen zum Aufbau transparenter demokratischer Strukturen unterscheidet sich Ennahda nicht von der PDP. Weltlich orientierten Landsleuten, die die Rhetorik der Islamisten abschreckt und die befürchten, nach einer Machtübernahme werde Ennahda einen radikaleren Kurs einschlagen, empfahl Sayed, abzuwarten. Ihre Ansichten würden respektiert. "Wir erwarten nicht, dass sie uns lieben." (Ende/IPS/mp/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2011