Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

AFRIKA/1172: Tunesien - Das Volk will eine neue Revolution" (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 7 vom 15. Februar 2013
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

"Das Volk will eine neue Revolution"
Krise des tunesischen Islamisten-Regimes vor dem Hintergrund unerfüllter Revolutionserwartungen

von Georg Polikeit



Der Mord an dem führenden linken Politiker Chokri Belaïd in Tunesien und die dadurch ausgelöste enorme Protestwelle haben die seit Monaten schwelende Krise des nach der Revolution von 2011 in dem Land installierten Regimes offen zum Ausbruch gebracht.

Mehr als 50.000 Menschen nahmen am 8. Februar an dem Trauerzug für das Mordopfer durch die Straßen von Tunis teil. Es war eine eindrucksvolle Massendemonstration gegen den Terror islamistischer Milizen und für das Verlangen eines großen Teils der Bevölkerung nach einer anderen Regierung und anderen Politik. "Belaïd, ruhe in Frieden, wir setzen deinen Kampf fort", "Hau ab, Ennadha" (islamistische Regierungspartei) und "Das Volk will eine neue Revolution" lauteten einige der gerufenen Parolen. Parallel dazu hatte der vom tunesischen Gewerkschaftsbund UGTT ausgerufene Generalstreik das Wirtschaftsleben im ganzen Land stillgelegt. Auch in Provinzstädten, vor allem im Bergbaugebiet Gafsa, fanden Trauer- und Protestdemonstrationen statt. Die Beerdigung wurde zum nationalen Ereignis. Sie war das größte Begräbnis in Tunesien seit der Bestattung des ersten tunesischen Staatspräsidenten Bourguiba im Jahr 2000, der als historischer Anführer des Widerstands gegen die französische Kolonialherrschaft und "Vater der Unabhängigkeit" verehrt wurde.

Chokri Belaïd, 49 Jahre alt, war am 6. Februar beim Verlassen seines Wohnhauses von zwei noch unbekannten Personen, die mit einem Motorrad flüchteten, aus nächster Nähe durch vier Kopfschüsse kaltblütig hingerichtet worden. Belaïd hatte sich schon unter der Diktatur des vormaligen Staatschefs Ben Ali als Anwalt und Menschenrechtsaktivist einen Namen gemacht. Mehrfach war er inhaftiert worden. Nach der "Jasmin-Revolution" im Januar 2011 wurde Belaïd Generalsekretär der als politische Partei formierten "Bewegung Patriotischer Demokraten", die als ihr Ziel eine "nationaldemokratische Revolution" in Tunesien proklamierte und sich für die strikte Trennung von Staat und Religion engagierte. Als "marxistisch" bezeichnet wurde sie von einigen, weil sie in ihren programmatischen Aussagen von einer klassengespaltenen Gesellschaft in Tunesien ausgeht und den Klassenkampf als unvermeidliche Realität anerkennt. Außerdem gehörte Belaïd zu den führenden Persönlichkeiten der tunesischen "Volksfront", die im August 2012 als Bündnis von etwa einem Dutzend linker Oppositionsgruppen und unabhängigen Persönlichkeiten gegründet wurde. Zu den Initiatoren dieses Bündnisses gehörte auch die "Arbeiterpartei" (PT - früher "Kommunistische Arbeiterpartei") unter Führung von Hamma Hammami, der mit Belaïd befreundet war und an dessen Grab die Trauerrede hielt.

Der Mord an Belaïd war zweifelsfrei ein terroristisches Attentat, für das die islamistische Regierungspartei Ennadha verantwortlich zu machen ist.

Seit Monaten haben von dieser Partei geförderte Terrorbanden, die sich fälschlicherweise "Ligen zum Schutz der Revolution" nennen, Gewerkschafter und linke Demokraten bedroht und überfallen, u. a. im Dezember 2012 die Gewerkschaftszentrale der UGTT in Tunis (UZ berichtete). Führende Ennadha-Politiker sorgten dafür, dass die Täter zumeist unbestraft davon kamen. Damit wurde ein Klima des politischen Terrors im Dienst der Regierungspartei gefördert, das gegen alle gerichtet war, die den immer umfassender werdenden Zugriff der Islamisten auf staatliche Schlüsselpositionen und die von ihr betriebene unsoziale, den neoliberalen Kurs unter Diktator Ben Ali fortsetzende Politik nicht hinnehmen wollten. Inzwischen ist unter dem Druck des aufbrechenden Volkszorns eine offene Krise des im Dezember 2011 installierten "Troika-Regimes" entstanden. Als Troika-Regime wird in Tunesien das nach langen Verhandlungen zustande gekommene derzeitige "Übergangsregime" bezeichnet, bei dem sich die Islamisten angeblich die Macht mit zwei nicht religiösen Formationen teilten. In Wirklichkeit hat jedoch die islamistische Ennadha, die den Regierungschef stellt, die Machthebel in der Hand, die gleichzeitig auch die "Verfassungsgebende Versammlung", das derzeitige Parlament, dominiert. Ihre "Koalitionspartner", der liberale Staatspräsident Marzouki und der sozialdemokratische Parlamentspräsident Ben Jafaar, dienten ihr nur als Feigenblätter. Diese Koalition brach nun unter dem Druck der jüngsten Ereignisse endgültig auseinander. Aber auch in der regierenden Ennadha selbst entstand ein Riss. Der seit Dezember 2012 installierte Regierungschef Jebali, der als "gemäßigter" Islamist gehandelt wurde, kündigte an, dass er der Forderung nach einer Regierungsumbildung wenigstens teilweise und insofern nachkommen wolle, dass er eine "Regierung von unabhängigen Fachleuten" bilden werde - natürlich weiter unter seiner Führung. Das Manöver wurde aber postwendend von seiner eigenen Parteispitze desavouiert, weil die "Hardliner" von Ennadha ihm nicht zustimmten. Jebali bestand jedoch auf dem Vorhaben und drohte mit Rücktritt.

Der Hintergrund dieser Krise liegt nicht nur in einem "Machtkampf" zwischen den verschiedenen politischen Formationen, die durch die Revolution von 2011 in Tunesien an die Oberfläche gekommen sind. Auch nicht allein im Gegensatz zwischen jenen bourgeoisen Kreisen Tunesiens, die das Land unter religiösem Etikett als "islamischer Staat" in den Griff nehmen wollen, und dem großen Teil der tunesischen Bevölkerung einschließlich bürgerlicher Kräfte, die keinen islamistisch beherrschten Staat wollen.

In einem Interview mit der französischen "Humanité" erklärte die Vorsitzende der Demokratischen Frauenvereinigung Tunesiens, Ahlem Belhadj, kürzlich, dass die derzeitige schwere Krise ein Zeichen dafür sei, dass das Land "in eine entscheidende Etappe des im Januar 2011 eingeleiteten Prozesses" eintrete. Ennadha habe ihre eigene Basis stark enttäuscht, weil sie "keinerlei für das Volk vorteilhafte Maßnahme auf wirtschaftlichem Gebiet" hervorgebracht habe. "Im Gegenteil: die Teuerung der Lebenshaltung wird unerträglich. Die Arbeitslosigkeit hört nicht auf zu steigen. Auf soziale Proteste antwortet diese Regierung mit Repression, mit Gewalt." Die Wähler hätten nun ihre Erfahrung mit Ennadha gemacht und im letzten Jahr eine klare Vorstellung bekommen, was es bedeutet, wenn die Islamisten an der Macht sind.

Auch die von Hamma Hammami geführte "Arbeiterpartei" (PT) stellte in einer Erklärung zum zweiten Jahrestag der tunesischen Revolution fest, dass zwei Jahre nach diesem Ereignis breite Teile des Volkes darin übereinstimmen, "dass sich die Lage nicht geändert hat, und wenn doch, zum Schlechteren". Mit der Privatisierung lebenswichtiger Bereiche des Bergbaus, der Erdölförderung und der Industrie sowie der Weiterführung der alten Steuerpolitik, die nur für die ausländischen Kapitaleigner und die Korruption von Vorteil sei, habe die regierende Mafia "die Zukunft des Landes und seines Volkes an ausländische Monopole und an die reaktionären, verräterischen und zurückgebliebenen Golf-Regimes verpfändet".

Das könne nur zur weiteren Verschärfung der ökonomischen Krise führen. Vor diesem Hintergrund sei "ein Zustand des aufgestauten Zorns" entstanden: "Die Lage der Volksmassen ist so schlecht wie noch nie, die objektiven Bedingungen, die die Revolution vom 17. Dezember bis 14. Februar (2011) ausbrechen ließen, sind mehr als reif für einen neuen Ausbruch des Volkes."

Ob es tatsächlich zu einem "neuen Anlauf" eines revolutionären Umgestaltungsprozesses in Tunesien im Sinne der ursprünglichen Anliegen und Ziele kommen wird, ist derzeit natürlich noch nicht abzusehen. In jedem Fall kann aber festgestellt werden, dass sich die Hoffnung der führenden Kreise westlicher Staaten auf eine "Stabilisierung" der Lage im Dienst der großen Kapitalinteressen mit Hilfe der installierten islamistischen Machthaber nicht erfüllt haben.

*

Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 45. Jahrgang, Nr. 7 vom 15. Februar 2013, Seite ...
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
Anschrift von Verlag und Redaktion:
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Telefon 0201 / 22 54 47
E-Mail: redaktion@unsere-zeit.de
Internet: www.unsere-zeit.de
 
Die UZ erscheint wöchentlich.
Einzelausgabe: 2,80 Euro
Jahresbezugspreise:
Inland: 126,- Euro, Ausland: 130,-
Ermäßigtes Abo: 72,- Euro
Förder-Abonnement: ab 150 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2013