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AFRIKA/1223: Tunesien - Terroranschläge erschüttern postrevolutionäre Demokratie (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. August 2013

Tunesien: Terroranschläge erschüttern postrevolutionäre Demokratie

von Louise Sherwood


Bild: © Louise Sherwood/IPS

Soldaten im Zentrum von Tunis befinden sich in Alarmbereitschaft
Bild: © Louise Sherwood/IPS

Tunis, 14. August (IPS) - In Tunesien hat der Mord an Oppositionsführer Mohamed Brahmi Massenproteste und regierungsfeindliche Demonstrationen ausgelöst. Auch kratzt die jüngste Serie von Terroranschlägen am schönen Bild des Landes von einer vorbildlichen post-revolutionären Demokratie.

Vier Tage nach dem Attentat auf Brahmi am 25. Juni wurden acht tunesische Soldaten von militanten Islamisten brutal ermordet. Seitdem sind weitere Armeeangehörige ums Leben gekommen, Bomben in und im Umkreis der Hauptstadt Tunis detoniert und mutmaßliche Terroristen bei Polizeirazzien getötet oder festgenommen worden. Wie die Polizei berichtet, konnte sie die Ermordung eines weiteren, nicht näher genannten Politikers in der Stadt Sousse verhindern.

Wie Sheikh Abdelfatteh Mourou, Vizevorsitzender der Regierungspartei Ennahda, gegenüber IPS erklärte, hat Tunesien keine terroristische Vergangenheit. "Das erklärt, warum wir auf Anschläge nicht vorbereitet sind. Terroristen kennen keine Landesgrenzen. Sie sehen die Menschen als Feinde." Tunesien habe gerade eine Revolution hinter sich gebracht. Das erkläre, warum das Land instabil und die Regierung nicht stark genug sei.


Sicherheitsapparat nur geringfügig reformiert

"Die Politiker, die das Innenministerium kontrolliert hatten, wurden zwar ausgewechselt. Doch wesentliche Veränderungen des Sicherheitsapparats sind ausgeblieben", monierte Felix Tusa vom Genfer Zentrum für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte. Die Non-Profit-Organisation berät die Regierung bei der Reform des Sicherheitssektors. Weitere Herausforderungen, denen sich das Land stellen müsse, seien die finanziellen Engpässe, die eine Bezahlung der Gehälter und Investitionen in die Ausrüstung verhinderten.

Der überraschende Rücktritt von Armeechef Rachid Ammar im Juni war zum Teil mit Problemen im Innenministerium in Verbindung gebracht worden. In seiner Rücktrittsrede betonte Ammar gegenüber dem nationalen Rundfunksender, dass der Geheimdienst schlecht funktioniere und dadurch wirksame Militäroperationen ausgeblieben seien.

Innenminister Lotfi Ben Jeddou bekräftigte unlängst seine Entschlossenheit, dem Terrorismus an der algerischen Grenze den Garaus zu machen. "Die Militär- und Sicherheitsoperationen werden solange fortgeführt, bis alle Terroristen, die sich in den Bergen verschanzen, ausgemerzt sind."

Das Ministerium ist auch im Zusammenhang mit der Ermordung von Chokri Belaid, einem weiteren Oppositionspolitiker, in die Kritik geraten. Belaid war vor sechs Monaten mit dem gleichen Gewehr wie Brahmi erschossen worden. Dem Ministerium wird vorgeworfen, die Suche nach den Tätern nicht engagiert genug verfolgt und Verdächtige nach deren Identifizierung nicht festgenommen zu haben.

Am 6. August, sechs Monate nach dem Attentat auf Belaid, waren zehntausende Tunesier auf die Straße gegangen, um den Rücktritt der Regierung zu fordern. Der Protestmarsch erfolgte am gleichen Tag, an dem die Verfassunggebende Versammlung ihre Arbeit aussetzte. Begründet wurde die Entscheidung mit der Notwendigkeit eines Dialogs zwischen Regierung und Opposition.

Die regierungsfeindlichen Proteste arteten zu der größten Anti-Regierungsdemonstration seit Brahmis Ermordung aus, und der Schlachtruf der Demonstranten "dégage!" ("Abtreten!"), war nicht zu überhören.

Ines Karaoui hatte sich zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern den Protesten angeschlossen. Die Familie hatte eine dreistündige Autofahrt auf sich genommen, um an der Kundgebung in Tunis teilzunehmen. "Es ist eine nationale Pflicht, hierherzukommen", sagte sie. "Ich werde diese Nacht wohl kaum ein Auge zumachen, doch gibt es Menschen, die schlimmer dran sind als wir, die ihre Angehörigen, Kinder ihre Väter verloren haben. Ein paar Stunden Schlaf zu opfern, ist nichts gegen das Schicksal der Soldaten, denen man die Kehlen durchgeschnitten hat."


"Kein Afghanistan oder Syrien werden"

Wie Karaoui weiter erklärte, "weinen wir Tränen aus Blut für unser Land. Wir lieben Tunesien, wir wollen, dass unsere Kinder eine Zukunft haben. Wir wollen kein Afghanistan oder Syrien werden." Sie wirft der Regierung vor, die terroristische Gefahr an die Wand zu malen, gleichzeitig jedoch dafür verantwortlich zu sein.

Zu den Vorwürfen erklärte Mourou, dass der Opposition sehr wohl bekannt sei. dass die Ennahda nichts mit Al-Qaeda, Ansar al-Sharia und den Salafisten zu schaffen habe. "Wir sind alle Muslime, haben aber nicht immer das gleiche Programm."

Andere Stimmen in Tunesien halten es für unwahrscheinlich, dass diese Gruppen für das tunesische Desaster verantwortlich sind. "Salafisten werden für die Terroranschläge verantwortlich gemacht. doch lässt sich dies nicht wirklich mit Sicherheit sagen", meinte Sheikh Mohamed, ein Islamist und Theologieprofessor, der unter der Regierung von Ex-Diktator Zine El Bidine Ben Ali sieben Jahre im Gefängnis saß. Er vermutet Mitglieder des alten Regimes oder Ausländer hinter den Anschlägen.

"Viele Salafisten sind friedliche Menschen. Nur einige sind gewaltbereit und infiltrieren die Moscheen", versicherte er. Und dann gebe es auch noch die salafistischen Dschihadisten. "Ich bin zwar der Meinung, dass das islamische Recht Eingang in die neue Verfassung finden sollte. Gleichzeitig wünsche ich mir Demokratie und eine Absage an die Gewalt."

Jeden Tag wird über Angriffe an den Grenzen, Bombendrohungen und Mordkomplotte berichtet, für die Wirtschaft des Landes ist das fatal. Touristen und Investoren bleiben weg, und die Hoffnung auf einen erfolgreichen Abschluss des demokratischen Übergangs schwindet.

Mehdi Zaoui, ein Anwalt für internationales Recht, berichtet, dass sich seit Beginn der Revolution zwei wichtige Kunden - ein US-amerikanischer Investmentfonds und ein Reiseunternehmen - aus Tunesien verabschiedet hätten. Drei bis vier Industrie- und IT-Unternehmen, mit denen er zu tun hat, "denken darüber nach, ob sie ihre Investitionspläne nicht lieber aufgeben sollen". (Ende/IPS/kb/2013)


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IPS-Tagesdienst vom 14. August 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2013