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ASIEN/916: Afghanistan - Immer neue Rückschläge im endlosen Wahlprozess (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. August 2014

Afghanistan: Immer neue Rückschläge im endlosen Wahlprozess

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Afghanische Wahlprüfer in der Hauptstadt Kabul
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Kabul, 21. August (IPS) - Die jüngste Messerstecherei unter mehreren Mitgliedern der Unabhängigen Wahlkommission (IEC) in Afghanistan ist eine weitere Farce in einer Serie von Rückschlägen in einem ohnehin mühevollen Wahlprozess. Auch wenn die Überprüfung der Ergebnisse der Mitte Juni abgehaltenen Präsidentenwahl inzwischen wieder aufgenommen wurde, bleibt unklar, wer der Schlichter in diesem Verfahren ist.

Wie ein Kommissionsmitglied erklärte, wurden die Überprüfungen nach einer dreistündigen Unterbrechung im Anschluss an die Messerstecherei am 20. August fortgesetzt. Zwei Monate nach der Stichwahl ist die erneute Auszählung der Stimmen noch nicht abgeschlossen.

Die Wellblechbaracken im Osten der Hauptstadt Kabul - das Hauptquartier der IEC, in dem 22.828 Wahlurnen aufgestapelt sind - sind inzwischen zum Hauptangriffsziel afghanischer Extremisten geworden.

Bei der Stichwahl am 14. Juni hatte sich laut der ersten Auszählung Ashraf Ghani Ahmadzai mit 56,44 Prozent der Stimmen vor seinem Herausforderer Abdullah Abdullah durchgesetzt, für den 43,56 Prozent der Afghanen votiert hatten. Im ersten Wahlgang am 5. April hatte hingegen Abdullah Abdullah klar in Führung gelegen.


Zahl der Wähler erscheint unglaubwürdig

Erstaunlich war, dass acht Millionen der insgesamt zwölf Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben haben sollen. Denn die meisten Wahllokale waren Berichten zufolge menschenleer gewesen. Als Abdullah Abdullah von massivem Betrug sprach, drohte die ganze Wahl zu scheitern. Beide Kandidaten stimmten schließlich einer erneuten Auszählung aller Stimmen zu.

Bei der Mitte Juli begonnenen Überprüfung werden die Wahlurnen von einem Team begutachtet, das aus von beiden Kandidaten bestellten Prüfern und Mitgliedern der Wahlkommission besteht. Am Ort halten sich auch Beobachter aus Afghanistan und von der Europäischen Union auf. Der gesamte Ablauf wird zudem von Vertretern der Vereinten Nationen überwacht.

"Ich habe die vergangenen zwei Wochen damit zugebracht, mich an dieser Farce zu beteiligen", sagt der von Abdullah Abdullah beauftragte Prüfer Munir Latifi. "Die Vereinten Nationen und die Unabhängige Wahlkommission arbeiten zusammen, damit Ghani gewinnt. Uns unterstützt dagegen niemand."


Handschriftvergleiche auf Stimmzetteln

Latifi muss darüber beraten, ob die 'V', 'X' oder Kreise in den Kästchen, in denen jeweils die Präferenz für einen Kandidaten angegeben wird, in der gleichen Handschrift auf verschiedenen Wahlzetteln vorkommen oder ob tatsächlich nur eine Person eine Stimme abgegeben hat. Verdächtige Wahlurnen werden gesperrt und die Ergebnisse in einem Notizbuch festgehalten.

Auch wenn nur bescheidene Mittel zur Verfügung stehen, ist Shazad Ayubee, einer von Ghanis Prüfern, mit dem Verfahren "hundertprozentig" zufrieden. Allerdings würde alles "glatter" gehen, wenn Abdullahs Wahlprüfer nicht darum kämpften, die Veröffentlichung der Ergebnisse um jeden Preis hinauszuzögern, kritisiert der Paschtune aus Paktya im Südosten Afghanistans.

Eine ähnliche Handschrift auf unterschiedlichen Stimmzetteln "deutet nicht notwendigerweise auf Betrug hin", erklärt Ayubee. "In den entlegensten Dörfern in Afghanistan kann fast niemand lesen und schreiben. Die Familien kommen zu den Wahllokalen, und derjenige, der schreiben kann, füllt für alle die Stimmzettel aus."


Hüte und Tabakbeutel in Wahlurnen

Am meisten verdächtig erscheinen Wahlurnen, die unverschlossen sind, mehr als das zulässige Maximum von 600 Stimmzetteln oder sogar Hüte und Tabakbeutel enthalten. Viele Prüfer fordern, dass volle Wahlurnen, die aus den von den radikal-islamischen Taliban kontrollierten Gebieten stammen, systematisch ausgesondert werden sollten. Denn die bewaffnete Opposition hindere die Bevölkerung in erheblichem Maße daran, sich an den Wahlen zu beteiligen.

Ayubee sieht einen anderen Grund für das unerwartete Ergebnis in den Hochburgen der Taliban. "Im Gegensatz zu den pakistanischen oder usbekischen Taliban haben die Taliban in Afghanistan den Leuten gesagt, sie sollten Ghani wählen, da er ein Paschtune ist. Die Mehrheit der Aufständischen in Afghanistan gehört dieser Volksgruppe an. Jeder weiß, dass Ghani ihre Interessen besser wahrnehmen wird als ein Tadschike wie Abdullah Abdullah."

Am Vormittag des 20. August erschien IEC-Sprecher Noor Mohammad Noor vor der Presse und legte ein "aufrichtiges Bekenntnis zur Demokratie" ab, um die "haltlosen Gerüchte und Lügen im Zusammenhang mit dem Prüfverfahren" zurückzuweisen.

Noor sprach von einer "gemeinsamen Anstrengung der 220 IEC-Vertreter, der 305 Prüfer Abdullahs, der 306 Prüfer Ghanis und der 1.014 internationalen Beobachter". Auf die Frage, ob die Prüfer in Grafologie geschult seien, erklärter: "Dieses Verfahren wird eng mit den Vereinten Nationen abgestimmt, die täglich 50 Berater bereitstellen. Und die UN haben ohnehin das letzte Wort, was die Stimmzettel betrifft."


EU-Vertreter spricht von "endlosem Kampf zwischen den beiden Seiten"

Thijs Berman, Chef der EU-Wahlbeobachter in Kabul, hält es für "verfrüht", bereits jetzt eine Bilanz des Überprüfungsverfahrens zu ziehen. "Wir sehen das, was wir erwartet haben: einen endlosen Kampf zwischen den beiden Seiten, in dem jeder Wahlzettel angefochten wird."

Auf den Umstand angesprochen, dass die UN sowohl als Berater im Wahlprozess als auch als Schlichter bei der erneuten Auszählung auftritt, erklärt Berman, dass in Staaten wie Spanien oder den Niederlanden das Verfahren in die Hände einer externen Organisation gelegt worden wäre. "Im Fall von Afghanistan haben wir es aber mit sehr jungen Institutionen zu tun, die noch keine große Glaubwürdigkeit besitzen."

Es ließe sich sicher Kritik an der Rolle der Vereinten Nationen üben, meint Berman. "Doch was wäre die Alternative?" Die EU-Delegation sei entschlossen, ihre Arbeit durchzuführen, selbst dann, wenn die UN ihren Teil nicht erfüllen würden.

Nach wiederholten Anfragen von IPS erklärte sich ein UN-Sprecher nur dazu bereit, einen per Email gesendeten Fragenkatalog zu beantworten. Jeff Fischer, ein hochrangiger Experte für Wahlen und Vorsitzender des UN-Beratungsteams für die Unabhängige Wahlkommission Afghanistans, bezeichnete den Umfang der Überprüfungen als "beispiellos in der Geschichte der Vereinten Nationen". Alle Prüfer seien umfassend auf ihre Aufgaben vorbereitet worden.


Rasmussen droht mit NATO-Truppenabzug

Die Verwirrung darüber, wer tatsächlich das letzte Wort in dem Prüfverfahren haben wird, nimmt unterdessen weiter zu. Zugleich wird von außen immer mehr Druck ausgeübt, um das Wahlverfahren aus der Sackgasse zu lotsen.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat kürzlich eindringlich darauf hingewiesen, dass das Bündnis eine Entscheidung hinsichtlich eines Abzugs ausländischer Truppen aus Afghanistan treffen müsse, wenn der neue afghanische Präsident nicht die Sicherheitsvereinbarungen unterzeichne. Laut Rasmussen muss diese Entscheidung kurz nach dem NATO-Gipfel in Wales vom 4. bis 5. September fallen. (Ende/IPS/ck/2014)


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http://www.ipsnews.net/2014/08/stab-in-the-back-for-painful-afghanistan-election-process/

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IPS-Tagesdienst vom 21. August 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2014