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EUROPA/749: Spanien - Eine neue Saison der Armut (Archipel)


Archipel Nr. 172 - Zeitung des Europäischen Bürgerforums - Juni 2009

SPANIEN

Eine neue Saison der Armut


März 2009, Huelva, eine Provinz der autonomen Region Andalusien im Südwesten Spaniens. Abseits des touristischen Bildes Andalusiens ist die Erdbeerernte voll im Gange. Diese so bekannten roten Früchte, die wir in den europäischen Supermärkten von März bis Juni kaufen können, die Camarosa, werden in Plastiktunnels kultiviert, rund um ein petrochemisches Zentrum, von dem aus sich schwarze giftige Wolken auf das Plastikmeer legen.


Diese Art der Landwirtschaft führt nicht nur zu einem ökologischen Desaster - den Hektaren von Plastiktunnels, dessen Plastik bei Verschleiß auf irgendeiner wilden Mülldeponie abgelagert wird, die Unkrautvertilgungs- und andere chemische Mittel, die den Boden vergiften und zum Großteil auch für die Menschen schädlich sind - sie produziert auch menschliche Dramen, nämlich das von Zehntausenden Frauen und Männern, die aus ganz Spanien, Europa und auch aus anderen Teilen der Welt kommen, um in den Tunnels zu arbeiten. Hier treffen ArbeiterInnen mit und ohne Papiere, mit und ohne Vertrag, zusammen.


Ein ausgeklügeltes Ausbeutungssystem

Heuer haben 68.000 Personen einen Vertrag bekommen; zur Hälfte einheimische, zur Hälfte ausländische Arbeitskräfte, die unter einem speziellen Vertrag, genannt Contrato d'origen (Herkunftsvertrag) nach Spanien gekommen sind. Dieser Vertrag erlaubt den Arbeitgebern, bei Mangel an Arbeitskräften auf dem nationalen Arbeitsmarkt AusländerInnen kommen zu lassen. Mit Hilfe von Arbeitgebergewerkschaften werden die Leute direkt in ihrem Land für die Dauer einer Saison (3-6 Monate) rekrutiert. Sie haben nur minimale Rechte bezüglich der Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen.

Um sicher zu geben, dass diese ArbeiterInnen nicht als zukünftige Papierlose im Land bleiben, werden vorzugsweise Frauen angestellt, die kleine Kinder haben und nicht spanisch sprechen. Diese Auswahl ist für die Familien der SaisonarbeiterInnen sehr problematisch.

Marokko schätzt sich glücklich, dass Spanien ihm auch dieses Jahr sein Vertrauen bewiesen hat, indem es zwischen sechzehn- und siebzehntausend MarokkanerInnen für die Erdbeerernte eingestellt hat. Andere Länder wie die Ukraine oder Senegal liefern einen Teil der Saisonniers nach Frankreich.

Die "Erdbeerkampagne", wie die Erntezeit genannt wird, findet jedes Jahr von März bis Juni statt. Die Leute vom SOC (andalusische Landarbeitergewerkschaft), sind an Ort und Stelle, um die SaisonarbeiterInnen über die aktuellen Kollektivverträge zu informieren, die von den Arbeitgebern eingehalten werden müssen. Oft ist diese Informationsarbeit schwer durchzuführen, weil viele der SaisonarbeiterInnen nicht spanisch können. Außerdem gibt es wenige, die von ihren Rechten Gebrauch machen, da man seinen Arbeitsplatz riskiert, wenn man den Mut hat aufzumucken. Man kommt auf die schwarze Liste der Leute, die nie mehr angestellt werden sollen, und verliert so eine wichtige Verdienstmöglichkeit. In Marokko werden vergleichsweise nur 5 Euro pro zehnstündigen Arbeitstag gezahlt. In Andalusien ist es immer noch wesentlich mehr, selbst wenn die Verträge nicht eingehalten werden.

Wir finden also in der Erntezeit MigrantInnen mit Contratos d'origen und ArbeiterInnen, die in Spanien leben: SpanierInnen und regularisierte oder papierlose AusländerInnen und alle sind unterbeschäftigt. Voriges Jahr beklagten sich etliche Frauen in Interviews darüber, dass sie nicht einmal 18 Tage im Monat (das legale Minimum) arbeiten durften. Dies konnte aber bei den Kontrollen der Arbeitgeber nicht bestätigt werden, da diese das Mindestgehalt für 18 Tage gezahlt hatten, um nicht erwischt zu werden. Darüber hinaus werden auch die Schwierigkeiten unter den verschiedenen Nationalitäten ausgenützt, um die Konkurrenz unter ihnen zu verstärken.


2009 Steigerung der Spannungen

Durch die Krise wird es immer schwieriger Arbeit zu finden. Im Bausektor, der völlig zusammengebrochen ist, wird niemand mehr angestellt. Hier haben vor allem Ausländer gearbeitet, mit und ohne Papiere, so wie es auch bei anderen mühsamen, harten Arbeiten der Fall ist. Diese Menschen stehen jetzt auf der Straße und versuchen ihr Glück in Huelva bei der Erdbeerernte. Die meisten von ihnen kommen aus Nord- oder Westafrika und leben in großen Städten wie Barcelona, Madrid, Saragossa.... Manche kommen sogar aus touristischeren Gebieten wie Ibiza, Palma oder Mallorca, weil man hier angeblich besser bezahlt wird.

"Huelva mit seinen Erdbeeren war bekannt dafür, dass es hier immer Arbeit gab, nicht jeden Tag aber ein bisschen hier, dann wieder dort, selbstverständlich ohne Vertrag... Wir bekamen 4 Euro die Stunde. Ich sag dir das jetzt, aber das war vor drei, vier Jahren. Heuer bin ich schon seit zwei Monaten hier und es gibt nichts, gar nichts: ...Jeden Morgen stell ich mich an die Straße, wo die Lastwagen zu den Feldern vorbeifahren; kein Einziger hat mich auch nur für eine Stunde angestellt", erzählt mir Saybou.

Palos de la Frontera ist ein Dorf, das sich in der Nähe der Tunnels befindet. Hier sieht man täglich Saisonniers, die nach der Arbeit ihre Familien anrufen, ihnen Geld schicken oder etwas einkaufen. Früher kamen die Leute so ab 17 Uhr ins Dorf; heute sieht man hier den ganzen Tag jede Menge Menschen, die auf Arbeitssuche herumstreunen.

Eine klare Trennung zeichnet sich ab: Arbeit bekommen vor allem Frauen aus Osteuropa, aber auch aus Marokko; arbeitslos bleiben die Männer aus Westafrika und manchmal auch aus dem Osten dieses Kontinents. "Das ist nicht normal; die Regierung sollte sich erst um die Leute kümmern, die bereits im Land sind. Wir leben seit vielen Jahren hier und haben reguläre Papiere bekommen, weil Arbeitskräfte gebraucht wurden. Jetzt suchen sie sich andere - obwohl wir bereits da sind. Später werden wir zu hören bekommen, dass wir hier nur Arbeitslosengeld kassieren und nicht arbeiten wollen."

Die Idee einer Demonstration, um den Behörden die Situation vor Augen zu halten, macht im Moment ihre Runde. Das Problem ist jedoch, dass sie ja bestens über die Situation informiert sind und offensichtlich weder Lust noch Interesse daran haben, diese zu ändern. Die landwirtschaftlichen Unternehmer haben eine starke Machtposition und großen Einfluss bei den Wahlen in dieser ländlichen Region. Saisonniers gegen MigrantInnen - diese neue Trennung der Arbeitskräfte wird von den Arbeitgebern bewusst eingesetzt, um jeden Protest schon im Keim ersticken zu können.


"Wir leben im Wald"

Wie machen all diese Menschen das eigentlich, ohne Arbeit, von fast oder gar keinem Geld zu leben, bestenfalls ein bisschen Erspartes von der letzten Arbeit?

Die Antwort darauf finden wir in den Plastikverhauen, die in den Wäldern rund um die Plastikfelder versteckt sind: die Chabolas. Es gibt ein paar humanitäre und religiöse Vereine, die den Menschen dort etwas zu essen oder eine Duschmöglichkeit verschaffen und einige juristische Ratschläge geben... An verschiedenen Orten, die jeweils 20 bis 30 Kilometer voneinander entfernt sind, werden mehrmals in der Woche Nahrungsmittel verteilt. Die Menschen müssen lange Strecken zu Fuß auf den Autostraßen zurücklegen, was sehr gefährlich ist. Die Autos fahren schnell auf diesen Nationalstraßen, die durch die Tunnelfelder und die Wälder führen; es wurden bereits einige Menschen umgefahren und getötet. Außerdem sind diese Fußmärsche ermüdend. Die erhaltenen Nahrungsmittel reichen kaum für eine Mahlzeit täglich, und Wasser ist ein seltenes Gut. Die meisten der Personen, die in den Wäldern leben, sind Afrikaner, fast alle seit mehreren Jahren regularisiert. Einige von ihnen schilderten mir ihre "Reise" von ihrem Herkunftsland Mali, Nigeria, Libyen oder Marokko bis nach Spanien mit den vielen Schwierigkeiten und Leiden ... Heute sind sie aufgrund der täglichen Erniedrigungen am Ende ihrer Nerven. Sie sagen mir, dass diese Situation seit langem die schlimmste sei, die sie durchmachen mussten.

Die Zustände sind vergleichbar mit denen in Calais, wo die Leute auf eine Überfahrt nach England warten. Hier warten sie jedoch auf Arbeit und müssen davon ausgehen, dass sie vielleicht während einigen Monaten ohne Anstellung rumhängen. Hier gibt es keine Hoffnung, keinen Traum von einem besseren Leben. Nur ein paar Stunden Arbeit für einen Hungerlohn.

Die Illusionen über Europa und seine Schätze sind hier schon längst vergessen...

Alice(*)
21. April 2009

(*) Freiwillige Mitarbeiterin bei Echanges et Partenariats,
21 ter, rue Voltaire, F-75011 Paris (www.echanges-partenariats.org)


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Quelle:
Archipel - Monatszeitung des Europäischen Bürgerforums
Nr. 172, Juni 2009, S. 6-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2009