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EUROPA/759: Lokale Abstimmungen begünstigen restriktive Einbürgerungspraxis (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 125/September 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Geheim und diskriminierend
Lokale Abstimmungen begünstigen eine restriktivere Einbürgerungspraxis

Von Marc Helbling


In der Schweiz fällt die Entscheidung über die Einbürgerung von Ausländern auf lokaler Ebene. Bis vor kurzem hat in einigen Gemeinden die gesamte Bevölkerung über die einzelnen Gesuche abgestimmt. Dieses Verfahren führte zu restriktiven und diskriminierenden Entscheiden, wofür es drei Erklärungsansätze gibt: Direktdemokratische Institutionen bieten rechtspopulistischen Parteien eher die Möglichkeit, die Stimmbürger für ihre Sache zu mobilisieren; vor allem Leute mit einem restriktiven Staatsbürgerverständnis nehmen an solchen Abstimmungen teil; anonyme Entscheide schalten jegliche soziale Kontrolle aus.

Die Schweiz hat wahrscheinlich ein weltweit einzigartiges Einbürgerungssystem: Ausländer werden auf lokaler Ebene eingebürgert. Zwar hat die Zahl der Bestimmungen auf nationaler und kantonaler Ebene in den letzten Jahren zugenommen. Grundsätzlich entscheidet aber jede Gemeinde selbst darüber, welche Kriterien erfüllt werden müssen, um Schweizer zu werden, und welches Verfahren angewendet wird, sei es nun eine Stadt von 100.000 oder ein Dorf von 400 Einwohnern.

Dabei ist Einbürgerungspolitik jeweils das Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen politischen Akteuren mit unterschiedlichem Verständnis von Staatsbürgerschaft, Nation, Region und Kultur. Von zentraler Bedeutung ist hierbei, welche Akteure an den Entscheidungsprozessen beteiligt sind, welche Positionen sie vertreten und wie stark ihr Einfluss ist.

Der Ausgang einer Abstimmung ist dabei entscheidend durch institutionelle Strukturen bestimmt: Lange gab es Kommunen, in denen die gesamte Bevölkerung per Urnenabstimmung entschied, ob eine Person, Ehepaare oder Familien die Schweizer Staatsangehörigkeit erhielten. Das Bundesgericht erklärte 2003 solche Verfahren für verfassungswidrig. 2008 lehnten die Schweizer Stimmbürger eine Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) ab, die es den Gemeinden ermöglichen sollte, solche Verfahren wieder einzuführen. In Gemeinden mit dieser nun beendeten direktdemokratischen Tradition bei der Einbürgerung wurden bedeutend mehr negative Entscheide gefällt als in Gemeinden, in denen eine Einbürgerungskommission oder die Exekutive über das Verleihen der Staatsbürgerschaft entscheidet.

Warum fällt Einbürgerungspolitik restriktiver und diskriminierender aus, wenn die Gesamtbevölkerung geheim über Gesuche abstimmt? Verschiedene Studien in den USA und der Schweiz untersuchten, ob direkte Demokratie dazu führt, dass bei Volksabstimmungen Minderheiten von der Mehrheitsbevölkerung diskriminiert werden. Die Ergebnisse sind nicht eindeutig. Es scheint sehr darauf anzukommen, welche Minderheit betroffen ist und in welchem Kontext darüber entschieden wird. Während Einigkeit darin besteht, dass direkte Demokratie einen Einfluss hat, gehen die Erklärungen hierfür weit auseinander. Im Folgenden werden drei Erklärungsansätze für die diskriminierende Einbürgerungspolitik in der Schweiz skizziert: Es wird argumentiert, dass direktdemokratische Institutionen rechtspopulistischen Parteien die Möglichkeit bieten, die Stimmbürger für ihre Sache zu mobilisieren, dass vor allem Leute mit einem restriktiven Staatsbürgerverständnis an solchen Abstimmungen teilnehmen und dass anonyme Entscheide jegliche soziale Kontrolle ausschalten.

Im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte sich in der Schweiz verschiedentlich, dass rechtspopulistische Parteien, die kaum Unterstützung in nationalen Wahlen erhielten, die Abstimmungsarena dazu benutzten, ihre Anliegen im Bereich der Ausländerpolitik auf die politische Agenda zu bringen. Obwohl die meisten Initiativen abgelehnt wurden, gelang ihnen eine starke Mobilisierung. Die überraschend guten Resultate für diese kleinen Parteien bewogen die schweizerische Regierung dazu, Ausländer- und Staatsbürgergesetze zu verschärfen. Die direktdemokratische Arena ermöglichte somit diesen Parteien, indirekt ihren Einfluss auszuüben.

Sowohl direkte wie auch indirekte Einflüsse können in der lokalen Einbürgerungspolitik beobachtet werden. Die Gemeinde Emmen, der wohl bekannteste Fall schweizerischer Einbürgerungspolitik, ist ein Beispiel für direkte Effekte. In dieser Vorortgemeinde von Luzern entschied bis 1999 das Gemeindeparlament über Gesuche. In jenem Jahr lancierten die "Schweizer Demokraten", eine kleine rechtspopulistische Partei, eine Initiative mit der Forderung, in Zukunft an der Urne über Anträge entscheiden zu lassen. Die Initiative wurde angenommen und führte in der Folge zu einer Reihe von viel diskutierten diskriminierenden Entscheiden, vor allem gegenüber Antragstellern aus Ex-Jugoslawien. Interviews mit Lokalpolitikern anderer Gemeinden zeigten, dass das Zusammentreffen direktdemokratischer Institutionen und rechtspopulistischer Kräfte zu einer stärkeren Vorselektion von Antragstellern führt: So warten potenzielle Antragssteller länger, bis sie ein Gesuch einreichen, oder die vorberatende Kommission bringt weniger Gesuche zur Abstimmung, um ablehnende Entscheide zu vermeiden oder auf ein Minimum zu beschränken.

Wenn es nun scheint, dass rechtspopulistische Kräfte die Bevölkerung für ihre Anliegen bei gewissen Abstimmungen zu mobilisieren vermögen, so stellt sich die Frage, wer denn überhaupt an die Urne geht. Der amerikanische Politikwissenschaftler Morris Fiorina beklagt, das Prinzip partizipativer Demokratie werde immer mehr unterminiert, weil ein zunehmender Teil der Bevölkerung immer weniger Bereitschaft zu politischem Engagement zeige. Als Folge nehme ein immer kleiner werdender und daher kaum repräsentativer Teil an politischen Versammlungen und Abstimmungen teil. Für die Schweiz wurde nachgewiesen, dass lediglich 18 Prozent der Stimmbürger zu Gemeindeversammlungen gehen. Dies ist deutlich weniger als die Beteiligung bei nationalen Sachabstimmungen (40 Prozent) oder lokalen Exekutiv- oder Parlamentswahlen (63 Prozent).

Man weiß sehr wenig darüber, wer sich in der Schweiz auf lokaler Ebene politisch engagiert. Lediglich die höhere Beteiligung in Gemeinden mit einem hohen Anteil von Bauern und Handwerkern mit konservativen Einstellungen ist belegt. Solche Ergebnisse können nur vermuten lassen, aber nicht beweisen, dass sich Personen mit einem restriktiven Staatsbürgerverständnis vermehrt über direktdemokratische Verfahren politisch engagieren. Andere Analysen haben gezeigt, dass Personen, die sich politisch rechts einstufen und mit der Schweizerischen Volkspartei sympathisieren, tatsächlich mit höherer Wahrscheinlichkeit an einer Gemeindeversammlung teilnehmen als andere.

Direktdemokratische Verfahren können aber auch dazu führen, dass sich Bürger anders positionieren, als sie dies in einer öffentlichen Debatte täten. Als Urnenabstimmungen über Einbürgerungsgesuche vom Bundesgericht für verfassungswidrig erklärt wurden, war eines der Hauptargumente, dass solche Verfahren diskriminierende Entscheide zulassen und es nicht ermöglichen, herauszufinden, aus welchen Gründen ein Gesuch abgelehnt wurde. Da es sich jedoch bei Einbürgerungen gemäß Bundesgericht um administrative Entscheide handelt, müsse sichergestellt werden, dass alle Antragsteller an den gleichen Kriterien gemessen werden, unabhängig davon, wie restriktiv oder liberal diese nun sind.

In verschiedenen Interviews sprachen sich manche Lokalpolitiker gegen die Urteile des Bundesgerichts aus, weil sie der Meinung waren, dass es manchmal schlicht nicht möglich sei, klare Begründungen für Ablehnungen vorzubringen. Diese Personen empfanden es als legitim, Gesuche auch schlicht auf Grundlage eines mulmigen Gefühls ablehnen zu können - wofür geheime Abstimmungen perfekte Voraussetzungen bieten. Dass einzelne Wähler oder Lokalpolitiker keine klaren Argumente für ihre Entscheidungen nennen können, liegt häufig daran, dass sie die Kandidaten zur Einbürgerung kaum oder gar nicht kennen. In verschiedenen Studien wurde aufgezeigt, dass persönliche Kontakte zu Ausländern und eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihnen zu toleranterem Verhalten führen. In einigen Interviews wurde denn auch angeführt, dass man zu großzügigeren Einstellungen gelangt sei, seit man sich in der Einbürgerungspolitik der eigenen Gemeinde stärker engagiere.

Diskriminierende Einstellungen gegenüber Ausländern können in einem liberalen Staat nur unter Schwierigkeiten vertreten werden - ein weiterer Grund, sich nicht öffentlich gegen Antragsteller aussprechen zu wollen. Viele Wähler befürchten die negativen Reaktionen von Mitbürgern, wenn sie zum Beispiel an Gemeindeversammlungen die Ablehnung eines Gesuches verlangten. Geheime Abstimmungen setzen also solche sozialen Kontrollmechanismen außer Kraft.

Direktdemokratische Verfahren wie in der Schweiz haben viele Vorteile - das System hat aber auch gewisse Grenzen. Interessant ist im Fall der Abstimmungen über Einbürgerungsgesuche, dass sich Politiker und die breite Bevölkerung in Abhängigkeit davon, ob öffentlich oder geheim darüber entschieden wird, sehr unterschiedlich positionieren. Zudem ist es aufschlussreich, zu beobachten, welche Dynamik in der Einbürgerungspolitik entsteht, wenn sich institutionelle Einrichtungen ändern, mehr in der Öffentlichkeit über kulturelle Grenzen diskutiert wird und rechtspopulistische Kräfte auftreten. Diese Erkenntnisse sind über die Verfahren schweizerischer lokaler Einbürgerungspolitik hinweg von großem Interesse.


Marc Helbling arbeitet seit 2009 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung "Migration, Integration, Transnationalisierung". Er studierte in Lausanne und Paris Politikwissenschaft, war 2005/2006 Visiting Scholar an der New York University und wurde 2007 an der Universität Zürich promoviert. Er arbeitet zurzeit unter anderem über Islampolitik und Islamophobie in westeuropäischen Staaten.
helbling@wzb.eu


Literatur

Marc Helbling, Practising Citizenship and Heterogeneous Nationhood. Naturalisations in Swiss Municipalities, Amsterdam: Amsterdam University Press 2008, 214 S.

Marc Helbling, "Citizenship, Right-Wing Populism and the Direct Democratic Dilemma", in: Marcel A. Niggli (Ed.), Right-Wing Extremism in Switzerland - National and International Perspectives, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2009, S. 102-112

Marc Helbling, "Switzerland: Contentious Citizenship Attribution in a Federal State", in: Journal of Ethnic and Migration Studies, Vol. 36, No. 4 (im Erscheinen)


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 125, September 2009, Seite 34 - 35
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2009