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EUROPA/768: Österreich - Der große Raub (guernica)


guernica Nr. 3/2009
Zeitung für Frieden & Solidarität, Neutralität und EU-Opposition

Der große Raub

Fast 100 Milliarden wurden ArbeitnehmerInnen und
sozialen Kassen seit dem EU-Beitritt vorenthalten

Von Gerald Oberansmayr


Die Zahlen der Statistik Austria enthüllen einen der größten und am meisten verschwiegenen Raubzüge der jüngeren österreichischen Wirtschaftsgeschichte. Seit dem EU-Beitritt ist die Lohnquote - d.h. der Anteil der ArbeitnehmerInnen am Volkseinkommen - regelrecht abgestürzt. Wir haben verglichen, was die ArbeitnehmerInnen tatsächlich bekommen haben, mit dem was sie erhalten hätten, wenn das Verteilungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit von 1995 konstant geblieben wäre. Das Ergebnis: Über den Zeitraum dieser 15 Jahre akkumuliert entsprechen die Lohn- und Gehaltsverluste sage und schreibe 98,3 Milliarden Euro. 57,5 Milliarden davon sind Nettolöhne/-gehälter, also das was den Menschen unmittelbar aus der Brieftasche gezogen wurde. 15,3 Milliarden sind entgangene Lohnsteuer des Staates und 25,6 Milliarden sind entgangene Einnahmen der Sozialversicherung, also des Kollektivlohnes der Unselbständigen, um sich gegen die existenziellen Risiken von Krankheit, Unfall, Alter und Arbeitslosigkeit zu schützen. Ohne diese Umverteilung von unten nach oben, würde sich das Gezeter um die Unfinanzierbarkeit der Pensionen und des Gesundheitswesens rasch erübrigen. Derzeit wird den Krankenkassen von Finanzminister Pröll wegen eines Schuldenstandes von 1,2 Milliarden der Rotstift aufgezwungen. Aber durch die Umverteilung von Arbeit zu Kapital wurde der Krankenversicherung seit 1995 Geld in der Höhe des mehr als Vierfachen geraubt! Diese rasante Ungleichverteilung zu Gunsten der Kapitalseite hat maßgeblich zur derzeiten Jahrhundertkrise beigetragen.

Veit Sorger, Vorsitzender der Industriellenvereinigung, ruft zu Nulllohnrunden für ArbeitnehmerInnen auf; die PensionistInnen, die eine Abgeltung der Senioreninflation von 1,9% fordern, beschimpft der Industriellenchef öffentlich als "asozial". Ein Blick in die Daten der Statistik Austria (1) über die Entwicklung von Verteilung und Wirtschaft im Zeitraum von 1995 bis 2008 zeigt: Die Veit Sorger & Co bzw. die von ihnen repräsentierten Interessen des großen Kapitals sind die wirklich "Asozialen". Seit dem EU-Beitritt wurden den ArbeitnehmerInnen und ihren sozialen Kassen durch die verschärfte Umverteilung zu Gunsten der Kapitalseite fast 100 Milliarden geraubt.

Die Großindustriellen haben die wachsende Arbeitslosigkeit und die kapitalfreundlichen Rahmenbedingungen seit dem EU-Beitritt zu einem gewaltigen Raubzug sowohl an den individuellen als auch an den kollektiven Löhnen und Gehältern (Sozialversicherung) genutzt. Während im Jahrzehnt vor dem EU-Beitritt diese Lohnquote nur leicht zurückging, ist sie seither richtiggehend abgestürzt. Im Jahr 1995 betrug der Anteil der ArbeitnehmerInnen-Entgelte (Bruttolohn inkl. Sozialversicherung) 62% vom Nettoinlandsprodukt (NIP). Dieser Anteil ist bis 2008 auf rd. 55% zurückgegangen. Die Gewinn-Einkommen sind spiegelbildlich von 38% auf 45% angestiegen.

Interessant ist es folgende Rechnung aufzustellen: Wir vergleichen, was die ArbeitnehmerInnen tatsächlich bekommen haben, mit dem was sie erhalten hätten, wenn die Verteilungsverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit von 1995 konstant geblieben wäre. Das Ergebnis ist erstaunlich und offenbart den bestverhüllten Raub der jüngeren österreichischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Über den Zeitraum dieser 15 Jahre akkumuliert entsprechen die Lohn- und Gehaltsverluste sage und schreibe 98,3 Milliarden Euro. Das ist mehr als ein Drittel des gesamten BIP von 2008, das den ArbeitnehmerInnen seit dem EU-Beitritt geraubt worden ist.

Knapp 57,5 Milliarden davon sind Nettolöhne/-gehälter, also das was den Menschen unmittelbar aus der Brieftasche gezogen wurde. 15,3 Milliarden sind entgangene Lohnsteuer des Staates (die z.T. über andere Steuern kompensiert wurden) und 25,6 Milliarden sind entgangene Einnahmen der Sozialversicherung, also des Kollektivlohnes der Unselbständigen, um sich gegen die existenziellen Risiken von Krankheit, Unfall, Alter und Arbeitslosigkeit zu schützen. Es lässt sich leicht ausrechnen, dass sich all das Gezeter um die Unfinanzierbarkeit der Pensionen und des Gesundheitswesens erübrigen würde, wenn, ja wenn sich nur die Verteilung zwischen Kapital und Arbeit seit 1995 nicht zuungunsten der Letzteren verschoben hätte.


Raubzug an den sozialen Kassen

Schauen wir uns das im Detail an: Derzeit wird den Krankenkassen von Finanzminister Pröll wegen eines Schuldenstandes von 1,2 Milliarden der Rotstift aufgezwungen. Aber durch die Umverteilung von Arbeit zu Kapital wurde der Krankenversicherung seit 1995 Geld in der Höhe von 5,2 Milliarden Euro geraubt, also mehr als das Vierfache! Oder ein anderes Beispiel: Die von den PensionistInnenverbänden geforderte Rentenerhöhung in der Höhe des sog. Pensionistenpreisindex von 1,9 % verursacht Mehrkosten von rd. 200 Millionen. Das sei unfinanzierbar, warnen die Industriellenvereinigung und ihre Medienfreunde. Doch niemand schreibt, dass durch die Umverteilung von Arbeit zu Kapital seit 1995 den sozialen Pensionskassen 15,4 Milliarden vorenthalten wurden. Ein/e durchschnittliche/r Pensionist verdient 2008 in Österreich 938 Euro. Eine Pensionserhöhung in der Höhe von 1,9% macht dann knapp 18 Euro aus. Ein solcher Pensionist muss sich von Industriellenchef Veit Sorger als "asozial" beschimpfen lassen, der selbst ein geschätztes Monatseinkommen vom Hundertfachen hat - und der jene Großindustriellen vertritt, die vom Raubzug an den ArbeitnehmerInnen besonders profitiert haben.


Investitionsquote sinkt - Dividenden verfünffacht

Denn die Daten der Statistik Austria zeigen auch, wer der große Gewinner der Zeit seit 1995 gewesen ist. Die Nettobetriebsüberschüsse (Gewinne) plus Selbständigeneinkommen haben auf Grund der Verschiebung der Verteilungsrelationen zwischen 1995 und 2008 um jene knapp 100 Milliarden zugenommen hat, welche die unselbständig Beschäftigten verloren haben. Der größte Teil davon entfällt auf die großen Konzerne, die Kapitalgesellschaften konnten fast 70% dieser Extragewinne an Land ziehen. Nun stellt sich die Frage: Sind durch diese enorme Umverteilung von Löhnen zu Gewinnen zumindest die Investitionen entsprechend angekurbelt worden, wie es die neoliberale Dogmatik prophezeit. Mitnichten! Die Investitionsquote (Anteil der Nettoinvestitionen am NIP) ist von 11,4% (1995) auf 8,2 % (2008) zurückgefallen. Stellt man dasselbe Rechenexempel wie vorhin an, d.h. ermittelt man die Höhe der Investitionen, wenn die Investitionsquote von 1995 konstant geblieben wäre, so errechnet sich in diesem Zeitraum ein akkumulierter Investitionsausfall in der Höhe von fast 57,5 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das von der Regierung geschnürte Konjunkturpaket beträgt - großzügig gerechnet - rd. 3 Milliarden Euro. Die öffentlichen Bruttoinvestitionen (Bahn, Schulen, Gemeindeinfrastrukturen, usw.) haben sich - gemessen am BIP - in diesem Zeitraum sogar halbiert, die öffentlichen Nettoinvestitionen sind mittlerweile sogar negativ geworden, was auf den zunehmenden Verschleiß öffentlicher Infrastrukturen hindeutet (z.B. Stilllegung/Nicht-Erneuerung von Bahnverbindungen, veraltete Schulen). Gerade die Vernachlässigung der sozialen und ökologischen Infrastruktur trifft die unteren Bevölkerungsgruppen besonders hart.

Wohin ist das Geld also gewandert? Einerseits in den Kapitalexport: Die österreichischen Nettokapitalexporte haben in den letzten Jahren enorm zugenommen, alleine im Jahr 2008 betrugen die Überschüsse des Kapitalexports über den Kapitalimport über 10 Milliarden Euro. Vielfach fällt darunter die Teilnahme österreichischer Unternehmen und Banken an der fieberhaften Privatisierung öffentlichen Eigentums in Osteuropa, die auch dort keinen Reichtum geschaffen aber viele Menschen arbeitslos gemacht hat. Zum anderen explodierten die Gewinnausschüttungen an die Aktionäre - und zwar um das nahezu Fünf-Fache von 1995 bis 2008! Kein Einkommen ist seit 1995 so kometenhaft in die Höhe geschnellt wie die Dividenden der Aktionäre.


Eine demokratische Wende ist notwendig!

Wenn der Begriff "asozial" angebracht ist, dann wohl auf dieses neoliberale Regime und dessen Nutznießer und Fürsprecher vom Schlage eines Veit Sorgers. Denn dieses neoliberale Regime hat nicht nur die Ungleichheit zwischen Arm und Reich vorangetrieben, es ist auch die Hauptursache für die derzeitige Jahrhundertkrise. Die Aushebelung der Massenkaufkraft, der sozialen Kassen und der öffentlichen Finanzen trocknete die realen Investitionsströme aus, sodass zunehmend ein "asozialer" Wirtschaftskreislauf in Schwung gekommen ist: Luxuskonsum statt Absicherung der (Grundbedürfnisse, Spekulation und Privatisierung statt Investitionen in Basisinfrastrukturen. Wenn wir aus dieser Sackgasse herauskommen wollen, brauchen wir die Umverteilung von oben nach unten, die Stärkung der sozialen Kassen und der öffentlichen Hände. Statt Aktionärsportfolios aufzufetten, brauchen wir mehr, und zwar viel mehr Geld für Bildung, Gesundheit, öffentlichen Verkehr, ökologische Energiewende und die Bekämpfung der Armut. Das ist der Kern einer "solidarischen, ökologischen und demokratischen Wende", wie sie auch die Werkstatt in ihrem Aufruf vorgeschlagen hat. Den Kampf um die Durchsetzung einer solchen Wende müssen wir führen und - bei Strafe sozialer Verwüstungen - gewinnen.


Aufruf für eine solidarische, ökologische und demokratische Wende auf www.werkstatt.or.at


Der Ederer-Tausender: genommen statt gegeben!

Erinnern Sie sich noch an das vollmundige Versprechen der damaligen Europa-Staatssekretärin Brigitte Ederer, wonach der EU-Beitritt jedem Haushalt in Österreich 1.000 Schilling im Monat bringen wird? Wenn man die 57.5 Milliarden Euro, die durch die - seit dem EU-Beitritt beschleunigte - Umverteilung von unten nach oben jedem/r Arbeitnehmer/in netto aus dem Geldtaschl gezogen wurde, auf alle unselbständig Beschäftigten und Arbeitslosen umlegt, so haben diese seither pro Kopf und Nase durchschnittlich knapp 90 Euro verloren - Monat für Monat. In alter Währung: über 1.200 Schilling. Den Ederer-Tausender gibt's also wirklich - aber anders rum: Er wurde genommen statt gegeben.


Anmerkung:

(1) Die folgenden Zahlen sind der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der Statistik Austria entnommen. Einen ähnlichen Beitrag haben wir bereits im Internet unter dem Titel "Der große Raub" veröffentlicht. Die leicht veränderten Zahlen gegenüber diesem Beitrag ergeben sich daraus, dass wir hier die Arbeitnehmer-Entgelte nicht auf das Bruttoinlands- sondern auf das Nettoinlandsprodukt beziehen, um damit Unselbständigen-Einkommen und Gewinne/Selbständigen-Einkommen direkt aufeinander beziehen zu können.


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Quelle:
guernica Nr. 3/2009, Seite 1+3
Herausgeberin und Redaktion: Werkstatt Frieden & Solidarität
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Tel. 0043-(0)732/77 10 94, Fax 0043-(0)732/79 73 91
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2009