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EUROPA/770: Reformlinke in Frankreich und Italien (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2009

Reformlinke in Frankreich und Italien - scheintot oder schon tot?

Von Karin Priester


Die sozialdemokratischen Parteien in Europa sind in der Krise. Die Ursachenforschung fördert aber landesspezifische Unterschiede zutage. Klientelisierung da, divergierende Werteorientierungen dort.


Glaubt man dem Publizisten Bernard-Henri Lévy, so steht der Exitus der Sozialistischen Partei Frankreichs (PS) unmittelbar bevor oder hat schon stattgefunden. Wer aber die Totenglocke so laut vernimmt, ist oft selbst der Glöckner. Noch im Januar 2008, als der "Blairismus" längst unter den Trümmern des Irak-Kriegs begraben lag und das so genannte Schröder-Blair-Papier sang- und klanglos in der Ablage der SPD verschwand, schrieb PS-Wähler Lévy den französischen Sozialisten ins Stammbuch: "Unter diesem oder einem anderen Namen ist der Blairismus mehr denn je der einzig mögliche Ausweg für eine Linke, die alle, aber auch alle, Lektionen aus der totalitären Verirrung gelernt hat." Bei dieser welthistorischen Option zwischen Totalitarismus und Blairismus könne es nur um "Konversion oder Tod" gehen. Der Liberale als Großinquisitor intoniert immer zwei Oktaven zu hoch.


Führer verzweifelt gesucht

Auch in diesem Sommer schlug für die PS die Stunde der ultimativen Entscheidung: "Change or die" forderte der ehrgeizige PS-Abgeordnete und Bürgermeister der Kleinstadt Évry, Manuel Valls, und dies nicht etwa vor der Parteiöffentlichkeit, sondern im Zentralorgan des Finanzkapitals, der britischen Financial Times. Die "Affäre Valls" desavouiert die Parteivorsitzende Aubry, die nur die Wahl zwischen dem Vorwurf mangelnden leaderships und dem eines autoritären Führungsstils hat. Valls fordert eine "radikale" Modernisierung der Partei und eine "neue Doktrin": Ausweitung individueller Wahlmöglichkeiten, Akzeptanz des Kapitalismus und der Marktwirtschaft. Da stört vor allem der Parteiname; Sozialismus rieche muffig nach 19. Jahrhundert.

Leadership lautet das Mantra. Was heißt schon links, heute und überhaupt. Führer sind gefragt, und um sein diesbezügliches Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, empfiehlt sich der Provinzbürgermeister gleich selbst als Präsidentschaftskandidat der noch sozialistisch genannten Partei für 2012. Auch sonst provoziert Valls gern, vor allem vor laufender Kamera. Bei einem Bad in der Menge auf einem Trödelmarkt in Évry überkam ihn Überfremdungsangst. Die vielen schwarzafrikanischen Händler seien kein schöner Anblick. Der Ort brauche "mehr Weiße, mehr Whites, mehr Blancos" (Valls ist katalanischer Abstammung). Als von einer "skandalösen Entgleisung" die Rede war, lenkte Valls ein. Er habe sich nur gegen Gettoisierung gewandt und sei im Gegenzug für mehr Schwarze im Pariser Nobelvorort Neuilly. Dort sind Schwarze aber längst - als Trödelmarkthändler.

Valls ist kein Einzelfall, auch wenn sich andere Kritiker eher metaphorisch zu Wort melden. Die Partei sei in Formalin konserviert (Arnaud Montebourg), ein seit langem ausgedörrter Baum (Jack Lang). Im Juni war auch Lévy wieder mit Aufzeichnungen aus dem sozialistischen Totenhaus zur Stelle: "Die PS muss verschwinden". Sie sei ein "Kadaver in Auflösung". Und dialektisch spitzfindig: "Um die Rechte zu besiegen, muss man zuerst die Linke zerschlagen."


Frankreichs Uhren gehen anders

Die Krise der PS schwelt seit Jahren, aber nicht die Partei liegt am Boden, sondern die Parteidisziplin. Der Kampf der Alphatiere nimmt immer dissonantere Formen an, denn gehäufte Wahlniederlagen bedeuten Karriereeinbußen. Trotz einer landesweiten Präsenz auf kommunaler und regionaler Ebene ist die PS bei den letzten drei Präsidentschaftswahlen gescheitert. Unvergessen ist das Trauma von 2002, als sie im ersten Wahlgang mit nur 16,2% hinter dem rechtsextremen Kandidaten (16,9%) zurückblieb und bei der Stichwahl für Chirac stimmen musste, um Le Pen zu verhindern. Auch bei den diesjährigen EU-Wahlen schnitt sie mit 16,5% noch schlechter ab als die SPD.

Die Parteivorsitzende Aubry, die sich 2008 nur knapp vor ihrer Rivalin Royal durchsetzen konnte, stellt die Misserfolge ihrer Partei in einen größeren Zusammenhang und verweist auf die Krise aller heutigen sozialdemokratischen Parteien. Dennoch gibt es landesspezifische Besonderheiten: Die französische PS ist linker als ihre europäischen Schwesterparteien, zugleich aber mit sechs Strömungen, darunter auch antikapitalistischen, äußerst heterogen. Nach 2002 wurden diese Strömungen - häufig nicht viel mehr als die Hausmacht von Parteigranden - zunehmend kurzlebiger. Oft überdauern sie nicht einmal die Zeit zwischen zwei Parteitagen oder ihre Anhänger verlassen die Partei. Auf dem Reimser Parteitag 2008 erhielt der linke Flügel nur knapp 20% der Stimmen. Die Partei leidet weniger unter der Diskrepanz zwischen sozial-liberaler Führung und linker Basis, sondern eher unter der Klientelisierung der Partei durch die sogenannten Barone. Immer offener verfolgen sie ihre Sonderinteressen und Karrieregelüste, immer ungenierter versagen sie der Parteiführung die Loyalität, immer lauter rufen sie zugleich nach leadership. Das politische System Frankreichs fördert überdies die Tendenz zur "Präsidentialisierung" der Partei, muss in Frankreich ein Parteikandidat doch immer auch "präsidiabel" sein. Dies wiederum entpolitisiert parteiinterne Debatten zugunsten der von Royal geforderten Parteireform hin zu einer Wahlkampfmaschine nach amerikanischem Vorbild.

Als zweitgrößte Partei des Landes ist die PS dennoch keine entideologisierte Volkspartei. Weder erreicht sie die "kleinen Leute" im gewerblichen Mittelstand noch die Arbeiterschaft. Ihre stärksten Bastionen liegen im öffentlichen Sektor bei Angestellten und Beamten. Schon seit den 60er Jahren ist der Idealtyp des sozialistischen Wählers ein antiklerikaler Lehrer oder anderweitig im öffentlichen Dienst Beschäftigter mittleren Alters. Dagegen ist die Rolle des Volkstribuns, noch bis in die 70er Jahre fest in der Hand der Kommunisten, auf den rechtsextremen Front National übergegangen. Aubry stützt sich taktisch zwar auch auf den linken Parteiflügel, wird daran aber wenig ändern.

Schon während ihres Wahlkampfes gegen Sarkozy 2007 hatte sich ihre Rivalin Royal für eine Öffnung zur Mitte ausgesprochen, zunächst als Wahlbündnis, langfristig als organisatorische Verschmelzung mit den christdemokratischen Zentristen um François Bayrou und seiner 2007 gegründeten Partei Mouvement démocrate (MoDem). Manche verweisen dabei auf den italienischen Partito Democratico als Vorbild, auch wenn dazu (noch) wenig Anlass besteht.

Noch vor etwa vier Jahren sah es so aus, als könnte Romano Prodis Mitte-Links-Bündnis über Italien hinaus wegweisend sein. Nach der Einführung des Mehrheitswahlrechts waren die Voraussetzungen für einen Bipolarismus geschaffen, der die endemische Parteienzersplitterung beenden sollte. Gegen Berlusconis Allianz Casa della Libertà setzte sich Prodi 2006 mit dem Bündnis L'Unione durch. Es beruhte auf insgesamt zehn Parteien (man stelle sich in Deutschland eine Zehn-Parteien-Koalition vor!) von Christdemokraten, Grünen, Sozialdemokraten, Radikalen, Linksliberalen bis zur extremen Linken. Aber schon nach zwei Jahren musste Prodi nach einer "Palastrevolte" zurücktreten. Bei den Neuwahlen vom Sommer 2008 siegte Berlusconi erneut und hat inzwischen sein Bündnis, u.a. angereichert um Alessandra Mussolinis Neofaschisten, auch organisatorisch zu einer Partei zusammengeschweißt, dem Popolo della Libertà. Auf dem Weg vom Bipolarismus zum Bipartitismus ist die Rechte also um Längen voraus. Eine große linke Volkspartei muss daher kommen, und sie wird kommen, fragt sich nur, mit welchen Partnern.

Aus Prodis Projekt ging 2007 die Demokratische Partei (PD) hervor und beruht auf der Erbmasse von linken Christdemokraten und ehemaligen Reformkommunisten. Analog zur Strategie Ségolène Royals wird ein links-zentristischer Obamismus als Gegenpol zum Sarkozysmus in Frankreich und zum Berlusconismus in Italien angestrebt, damit aber auch eine weitere Personalisierung der Politik. Doch in Frankreich stockt dieses Projekt, zumal auch der anvisierte Partner Bayrou wenig Interesse zeigt. Mit seiner noch jungen MoDem-Partei ist er geschwächt aus den EU-Wahlen hervorgegangen und könnte in die Ehe derzeit nur eine geringe Mitgift einbringen.


Die italienische Demokratische Partei: ein Gefäß ohne Inhalt

In Italien wurde diese Ehe mit Gründung der PD 2007 zwar geschlossen. Aber knapp zwei Jahre später befindet sie sich bereits in einer Identitätskrise und macht aus der Not eine Tugend: Sie sei eben keine "identitäre" Partei. Was aber dann? Der Ruf nach leadership übertönt auch hier das Defizit an Programm, Strategie und Konsens. Hatte die PD nur ein Jahr nach ihrer Geburt als Reißbrettkonstruktion bei den Wahlen von 2008 spektakuläre 33,2 % erzielt, sind die Umfragewerte innerhalb nur eines Jahres um 10 % gesunken.

Auch wenn in Italien das Zusammengehen von Reformkommunisten und linken Christdemokraten (bekannt als catto-comunismo) seit der Zeit des "historischen Kompromisses" als Möglichkeit am Horizont stand, ist es für so manchen "Genossen" doch unerträglich, nun von einem Christdemokraten geführt zu werden.

Nur gut ein Jahr nach Gründung der Partei hatte nämlich ihr erster Vorsitzender Walter Veltroni nach regionalen Wahlniederlagen seinen Rücktritt erklärt. Am 26. Oktober entschied nun ein Parteitag über die Nachfolge. Der von den Linken favorisierte Pierluigi Bersani, Industrieminister unter Prodi, setzte sich gegen den christdemokratischen Interimsvorsitzenden Dario Franceschini durch. Bersani strebt eine breitere Allianz als Veltroni an, sowohl nach rechts zu den christdemokratischen Zentristen als auch nach links zur Rifondazione Comunista. Als kleinster gemeinsamer Nenner fungiert der Begriff des Popolarismo. Er zollt der Mutterpartei des politischen Katholizismus, dem Partito Popolare (dem Pendant zur deutschen Zentrumspartei), Tribut, gemahnt aber auch an Gramscis Strategie des nazional-popolare und grenzt sich überdies vom Populismus ab.

Doch die Gegensätze zwischen laizistischer und katholischer Wertorientierung lassen sich damit nicht übertünchen und brechen jetzt schon bei ethischen Fragen wie dem "biologischen Testament" auf. Katholiken sehen darin ein Einfallstor zur Euthanasie.


Das Werk der Amalgamierung steht noch bevor

Ob die parteiinterne Amalgamierung vor allem in ethisch-kulturellen Fragen gelingen kann, steht dahin. Hinzu kommt links von der PD aber noch eine Galaxie von weiteren acht Parteien: die linkspopulistische Antikorruptionspartei "Italien der Werte" unter dem ehemaligen Richter Di Pietro, zwei kommunistische Parteien sowie das Bündnis "Linke und Freiheit", bestehend aus fünf mehr oder weniger sozial-demokratischen Parteien, die mit zusammen nur knapp 1 % der Stimmen ins politische Nirwana oder in die PD eingehen werden.

Daneben gibt es aber noch die alte rechtssozialdemokratische PSDI, und noch weiter rechts davon die Neue Sozialistische Partei (NPSI), bestehend aus den Craxi-Anhängern der im Strudel der Korruptionsaffären von 1992 untergegangenen PSI. Diese NPSI hat zwar, im Gegensatz zu dem Franzosen Valls, keinerlei Berührungsängste mit dem "Sozialismus" im Parteinamen, ist aber dennoch ins Berlusconi-Lager übergewechselt.

Denn was heißt schon Sozialismus, heute und überhaupt: Klientelbeziehungen sind alles. Schon der inzwischen verstorbene Sozialistenführer Bettino Craxi war in den 80er Jahren der enge amico eines millionenschweren Parteigönners, der damals noch gar nicht vorhatte, selbst in die Politik zu gehen - eines gewissen Silvio Berlusconi. Mit Hilfe der damaligen Sozialisten hatte er sich vom Bauunternehmer zum Medienmogul gemausert und heißt nun diese Sozialisten - genauer gesagt: den Craxi-Klüngel - Seite an Seite mit Post- und Neofaschisten als alte Freunde willkommen.

Der Niedergang der italienischen Linken begann 1989, sagen die einen. Er begann 2006 mit Prodi, sagen andere. Mit Prodi verbindet sich das Image des Sparkommissars. Um die Maastrichtkriterien zur Staatsverschuldung zu erfüllen, hatte er eine rigorose Politik des Sozialabbaus betrieben, mit der Folge, dass die Rolle des Volkstribuns auch in Italien auf die Rechte, vor allem die Lega Nord, übergegangen ist. Tatsächlich begann der Niedergang der nicht-kommunistischen italienischen Linken aber schon mit dem PSI-Vorsitzenden Bettino Craxi, der bereits in den 80er Jahren ein italienisches "Bad Godesberg" mit einem Zwei-Parteien-System anstrebte, bei dem seine eigene Partei und nicht die damals noch starke Kommunistische Partei (PCI) mit den Christdemokraten alternieren sollten. Doch es kam anders. Durch dubiose Parteifinanzierung, Schmiergeldaffären und skrupellose amico-Verbindungen verspielte Craxi nicht nur seine eigene Glaubwürdigkeit, sondern auch die eines demokratischen Sozialismus. Leadership allein genügt eben nicht.

In Frankreich sollte der Parteitag der PS von 2008, fast 50 Jahre nach der SPD, die "Godesbergisierung" einleiten, wurde aber ein "schwerer Misserfolg" (Gérard Grunberg). Nach wie vor ist die PS unentschieden zwischen Marx und Markt, antikapitalistischer Rhetorik und reformistischer Praxis, Mitgliederpartei und Wahlkampfmaschine. Mitte November 2008 veröffentlichte Le Monde das Ergebnis einer Meinungsumfrage. Darin war gefragt worden, wer eher den Wert der Gerechtigkeit verteidige, die PS oder Sarkozys UMP. Das Ergebnis ist ernüchternd: Die PS erhielt 34%, die UMP 33; 20 waren unentschieden. Die Parteivorsitzende Aubry gibt sich gelassen: "Wir sind auf der Suche nach unseren Werten". Hoffen wir, dass damit nicht nur die Umfragewerte gemeint sind.


Karin Priester (* 1941) lehrt Soziologie an der Universität Münster.
priestek@uni-muenster.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2009, S. 27-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2009