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EUROPA/772: Integrationspolitik bleibt national (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 126/Dezember 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Integrationspolitik bleibt national
Bürgerrechte für Zuwanderer: Europas Staaten nähern sich kaum an

Von Ruud Koopmans, Ines Michalowski und Stine Waibel


Führt Europäisierung zu einer Konvergenz bei der Vergabe von Bürgerrechten an Migranten? Ein Vergleich von zehn europäischen Ländern im Zeitraum von 1980 bis 2008 verneint dies. Zwar werden 2008 mehr Bürgerrechte an Zuwanderer vergeben als 1980, doch sind nicht alle Länder diesem Trend gefolgt: Einige Länder haben bereits vergebene Rechte wieder eingeschränkt, andere haben diese weiter ausgebaut. Integrationspolitik scheint somit weiterhin vor allem von nationalen Traditionen und konjunkturellen Entwicklungen beeinflusst zu werden.


Die Länder Westeuropas sind in den vergangenen Jahrzehnten zu Einwanderungsländern geworden. Allerdings wird die Vergabe von Bürgerrechten an Zuwanderer noch stets von Land zu Land unterschiedlich gehandhabt; eine verbindliche, EU-weite Integrationspolitik gibt es bislang nicht. Umstritten ist aber, ob in absehbarer Zukunft eine Angleichung zu erwarten ist. In der international vergleichenden Forschung über Einwanderung, Staatsbürgerschaft und Integration werden zwei unterschiedliche Theorien diskutiert. Die liberale Konvergenztheorie besagt, dass sich in der Frage der Vergabe von Bürgerrechten die liberalen Demokratien angleichen. Grund dafür seien liberal-demokratische Grundrechte sowie supranationale Normen und Verträge insbesondere im Kontext der Europäisierung.

Eine andere Forschungsrichtung geht hingegen davon aus, dass nationale Unterschiede relativ stabil sind, weil sie auf historisch geprägten Beziehungen zwischen Staat und Bürger einerseits und Staat und Zivilgesellschaft andererseits beruhen. Auf Basis dieser Beziehungen werden klassischerweise drei Modelle unterschieden: 1) beim ethnischen Modell - mit Deutschland, zumindest bis zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000, als Prototyp - werden Bürgerrechte vor allem an Mitglieder der eigenen ethnischen Gruppe vergeben und wird für den Erhalt der Staatsbürgers chaft kulturelle Assimilation verlangt; 2) das universelle Modell - mit Frankreich als Prototyp - ermöglicht einen leichten Zugang zur Staatsbürgerschaft, aber unter der Voraussetzung der Respektierung einer öffentlichen Sphäre, in der keine Äußerungen kultureller, religiöser oder ethnischer Besonderheiten erwünscht sind; 3) das multikulturelle Modell - mit den Niederlanden als Prototyp - kombiniert einen leichten Zugang zu Bürgerrechten mit der Akzeptanz von Äußerungen kultureller, religiöser und ethnischer Unterschiede in der öffentlichen Sphäre.

In dieser Typologie manifestieren sich zwei Dimensionen (siehe Abbildung): die Dimension der individuellen Bürgerrechte, die sich zwischen dem ethnischen und dem territorialen Prinzip bewegt, sowie die Dimension der kulturellen und religiösen Rechte, die zwischen Monismus und Pluralismus variiert. Die sich aus beiden Dimensionen ergebende Vierfeldermatrix führt zu einem vierten logischen Modell. Als Segregation konzeptualisiert, beschreibt es eine Konstellation, in der der Zugang zu individuellen Bürgerrechten schwer möglich ist, gleichzeitig aber keine Anpassungsforderungen an Zuwanderer gestellt werden, weil diese ohnehin kaum als Teil der Gesellschaft gelten. Die ersten Gastarbeiterprogramme lassen sich diesem Modell zuordnen.

Frühen Studien zu nationalen Modellen der Vergabe von Bürgerrechten wurde oft vorgeworfen, sie seien zu statisch. Das Ziel einer aktuellen WZB-Studie ist es, Veränderungen bei der Vergabe von Bürgerrechten in verschiedenen Ländern zu erklären.

Für die Zeitpunkte 1980, 1990, 2002 und 2008 werden die Bürgerrechte für Migranten in zehn westeuropäischen Ländern verglichen, die auf eine längere Einwanderungsgeschichte zurückblicken: Deutschland, Frankreich, Belgien, die Niederlande, das Vereinigte Königreich, Dänemark, Schweden, Norwegen, Österreich und die Schweiz. Mit Hilfe eines auf den zwei Dimensionen von Bürgerrechten sowie 42 Einzelindikatoren beruhenden Indikatorensystems werden die Länder in Relation zueinander gesetzt.

Indem die Ausgestaltung von Bürgerrechten für Zuwanderer in mehreren Ländern zu mehr als zwei Zeitpunkten gemessen wird, gelingt es erstens, Aussagen darüber zu treffen, inwiefern es sich bei der Entwicklung von Bürgerrechten tatsächlich um einen linearen und transnationalen Prozess handelt, der - wie die Vertreter der liberalen Konvergenzthese vermuten - von allen Ländern durchlaufen wird. Zweitens lässt sich nachweisen, wie sich der Abstand der einzelnen Länder zueinander über die Jahrzehnte entwickelt.

Die Analyse geht einen Schritt weiter als bisherige Indikatorensysteme, die Bürgerschaft entweder im ganz engen Sinne von Staatsbürgerschaft verstehen oder sich, wie der Migrant Integration Policy Index, auf individuelle Bürgerrechte beschränken. In jüngster Zeit haben allerdings insbesondere kulturelle und religiöse Rechte zu Kontroversen geführt. Deshalb werden im verwendeten Indikatorenset zwei Dimensionen unterschieden: Die erste umfasst die individuell vergebenen Bürgerrechte, die zweite jene Bürgerrechte, die Zuwanderer aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten kulturellen oder religiösen Gemeinschaft erhalten (siehe Kasten).

Zunächst wird deutlich, dass im Jahr 1980 keines der hier verglichenen Länder Migranten kulturelle oder religiöse Rechte in besonderem Ausmaß zugebilligt hat: Alle zehn Länder sind in weiter Entfernung von kulturellem Pluralismus zu verorten. Größer sind die Unterschiede zwischen den Ländern im Hinblick auf die Zuwanderern erteilten individuellen Bürgerrechte: Während insbesondere das Vereinigte Königreich und Schweden durch großzügige Individualrechte für Zuwanderer auffallen, ist bei Deutschland, Österreich und der Schweiz das genaue Gegenteil der Fall.

Die folgende Messung für das Jahr 1990 zeigt auf der Individualebene leichte Liberalisierungstendenzen in Frankreich, den Niederlanden und Belgien. Interessanter ist jedoch die Dimension der kulturellen und religiösen Gruppenrechte. Hier ist deutlich zu erkennen, dass in den Niederlanden schon seit den frühen 1980er Jahren eine multikulturelle Politik verfolgt wurde. Ebenfalls in Richtung kultureller Pluralismus bewegten sich das Vereinigte Königreich und Schweden, wenn auch nicht so ausgeprägt.

Der Zeitraum von 1990 bis 2002 brachte die bisher größten Veränderungen mit sich. Die meisten Länder bewegten sich deutlich in Richtung individueller Bürgerrechte für Migranten und leicht in Richtung kultureller Pluralismus. Besonders bemerkenswert ist einerseits die Entwicklung, die Österreich, die Schweiz und Deutschland zur Mitte des Schaubildes vollzogen haben, sowie die nun klare Orientierung am Multikulturalismus vieler Länder - nicht nur in den Niederlanden, sondern ebenso im Vereinigten Königreich, in Schweden, Norwegen und im flämischen Teil Belgiens. Interessant ist jedoch auch, dass sich Frankreich und Dänemark im Zeitraum von 1980 bis 2002 kaum bewegt haben.

Im relativ kurzen Zeitraum zwischen 2002 und 2008 kippt die Entwicklung schließlich in den meisten Ländern (ausgenommen sind Belgien und Schweden). Der zu beobachtende Trend hin zu mehr Individual- und mehr Gruppenrechten endet, bei einigen Ländern verkehrt er sich sogar ins Gegenteil.


Liberalisierungen - und ihre Rücknahme

Welche vorläufigen Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Ergebnissen ziehen? Mit Blick auf die Vergabe von Individualrechten kann den Vertretern der liberalen Konvergenzthese Recht gegeben werden, da mit Ausnahme von Dänemark alle hier betrachteten Länder Zuwanderern 2008 mehr Individualrechte gewähren als 1980. Allerdings gibt es keinen durchgehenden Trend, da Österreich, Deutschland, Norwegen und die Niederlande im Zeitraum zwischen 2002 und 2008 teils deutliche Einschnitte in die Bürgerrechte von Migranten vorgenommen haben. So entzieht sich etwa der Bereich des Familiennachzugs klar dem Liberalisierungstrend. Dies lässt darauf schließen, dass die Gründe für die Vergabe von Bürgerrechten eher nationale waren. Nach 2002 haben verschiedene Länder frühere Liberalisierungen rückgängig gemacht oder neue Hürden geschaffen, zum Beispiel bei der Einbürgerung. Auch der Schutz der Familie durch internationale Verträge konnte viele Länder nicht daran hindern, den Familiennachzug als größten Einwanderungskanal insbesondere gering qualifizierter Zuwanderer schon im Verlauf der 1990er Jahre einzuschränken.

Auf der kulturellen Dimension lässt sich mit Ausnahme der Schweiz ebenfalls ein Liberalisierungstrend erkennen. Aber auch hier gilt, dass mehrere Länder nach 2002 Liberalisierungen zurücknahmen oder neue kulturelle Anpassungsanforderungen wie Einbürgerungstests einführten. Am deutlichsten ist dieser Trend in den Niederlanden, die bis 2002 noch am stärksten eine multikulturelle Politik verfolgten. Nur in Belgien und Schweden lässt sich weiterhin ein eindeutiger Trend zur Ausweitung kultureller Rechte ausmachen.


Nationale Faktoren überwiegen

Dass die Gründe für sowohl liberale als auch restriktive Reformen vor allem nationaler Natur waren, zeigt sich darin, dass es keine systematische internationale Konvergenz gibt. Nur in zwei Bereichen verringert sich die Distanz zwischen den einzelnen Ländern über die Zeit - beim Schutz vor Abschiebung und bei der Antidiskriminierungsgesetzgebung. Im Fall der Antidiskriminierungsgesetzgebung lässt sich diese Konvergenz mit dem Einfluss der zwei EUAntidiskriminierungsrichtlinien aus dem Jahr 2000 erklären. Bei kulturellen Rechten sowie in den Bereichen Familiennachzug und Zugang von NichtStaatsbürgern zum öffentlichen Dienst haben sich die Unterschiede zwischen den Ländern über die Zeit vergrößert statt verkleinert. In anderen Bereichen wie etwa der Einbürgerung bleiben die Unterschiede zwischen den Ländern unverändert groß.

Insgesamt liefern diese Ergebnisse wenig Unterstützung für die These einer liberalen Konvergenz in Westeuropa. Die Vergabe von Bürgerrechten an Migranten scheint vor allem von nationalen Politiktraditionen und konjunkturellen Entwicklungen beeinflusst zu werden. Wenn ähnliche Probleme zu ähnlichen Reaktionen führen - wie etwa im Bereich des Familiennachzugs - oder wenn Länder Politikinitiativen voneinander kopieren - wie bei der Einführung von Integrationsanforderungen -, resultieren daraus manchmal parallele Entwicklungen. Doch können sich einzelne Länder diesen Trends entziehen, was im Ergebnis dazu führt, dass die Vergabe von Bürgerrechten an Zuwanderer in Europa heutzutage in den meisten Bereichen nicht homogener ist, als dies in den 1980er Jahren der Fall war. Der Weg zu einer gemeinsamen europäischen Integrationspolitik, den einige für wünschenswert halten, ist noch weit.


Ruud Koopmans ist seit 2003 Professor für Soziologie am Lehrstuhl "Social Conflict and Change" der Vrije Universiteit Amsterdam. Seit April 2007 leitet er als Direktor die WZB-Abteilung "Migration, Integration, Transnationalisierung". Derzeit forscht er unter anderem zu den Themen Integrationspolitik, Islam und Muslime in Europa.
koopmans@wzb.eu

Stine Waibel ist studentische Hilfskraft in der Abteilung "Migration, Integration, Transnationalisierung". Sie schreibt eine Masterarbeit in Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin über Bürgerrechte für Migranten in Spanien.
waibel@wzb.eu

Ines Michalowski, seit 2008 Mitarbeiterin der Abteilung "Migration, Integration, Transnationalisierung", wurde 2007 in Münster und Paris promoviert. In ihren aktuellen Forschungsprojekten vergleicht sie Integrationsanforderungen an Zuwanderer in Europa sowie den Umgang des Militärs mehrerer Länder mit religiöser Diversität.
michalowski@wzb.eu


Literatur

Christian Joppke, "Beyond National Models: Civic Integration Policies for Immigrants in Western Europe", in: West European Politics, Vol. 30, 2007, S. 1-22

Ruud Koopmans, Paul Statham, Marco Giugni, Florence Passy, Contested Citizenship. Immigration and Cultural Diversity in Europe, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2005, 376 S.

Yasemin Nuhoglu Soysal, Limits of Citizenship. Migrants and Postnational Membership in Europe, Chicago/London: The University of Chicago Press 1994, 251 S.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Schaubild "Bürgerrechte für Migranten 1980-2008:
Im Einzelnen geht es bei der ersten Dimension um gesetzliche Regelungen zum Erwerb der Staatsbürgerschaft, zum Familiennachzug, zum Schutz vor Ausweisung, um das Recht von Ausländern, im öffentlichen Dienst zu arbeiten, sowie um Schutz durch Antidiskriminierungsgesetzgebung. Die zweite Dimension umfasst kulturelle und religiöse Rechte in der Bildung, politische Rechte sowie andere kulturelle und religiöse Rechte wie muslimisches Schächten, Moscheebau oder muttersprachlicher Unterricht in Schulen.
Jeder der 42 Einzelindikatoren (zum Beispiel: "Anzahl der Jahre Wartezeit, bevor eine Einbürgerung beantragt werden kann") wird mit Werten zwischen +1 (für die liberalste Regelung) und -1 (für die restriktivste Regelung) belegt. Für die übrigen Länder bzw. Fälle stehen Zwischenwerte von 0, +0,5 oder -0,5 zur Verfügung. Nachdem aus den Werten der Einzelindikatoren pro Thema und schließlich pro Dimension Durchschnittswerte für jedes Land und jedes Jahr ermittelt wurden, konnten diese Werte in ein Koordinatensystem eingetragen werden, welches die vier Integrationsmodelle widerspiegelt. So werden internationale Divergenzen und Veränderungen sichtbar.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 126, Dezember 2009, Seite 6-9
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2010