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EUROPA/804: Old New Labour (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010

Old New Labour

Von Matthias Machnig


Das Dilemma der britischen Labour Party lässt sich auf die europäische Sozialdemokratie übertragen. Worin liegen die Ursachen für den verbreiteten Vertrauensverlust und woher könnte der neue programmatische Impuls kommen?


Nun hat es auch die lange Zeit erfolgreiche Labour Party erwischt: Nach 13 Jahren in der Regierung Großbritanniens büßte sie bei den Parlamentswahlen vom 6. Mai ihre Mehrheit ein. Aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts verlor sie dabei zwar nur 6,2%, aber ein Viertel ihrer Mandate und hat jetzt nur noch 258 Sitze im Unterhaus. Das Plus von 3,8% für die Konservativen hingegen führte zu einem Gewinn von 97 Mandaten auf jetzt 306 Sitze.

Der Erfolg war Seismograph für das, was richtig sein musste, nicht etwa ein Programm, ein Ethos oder gar ein Prinzip. Die Entgrenzung der Märkte ging einher mit einem bewussten Bruch jeder Kontinuität. Europas Sozialdemokratie darbt - und auch die britische Labour Party bleibt nicht verschont. Downing Street No. 10 ist jetzt der Sitz der konservativen Tories mit David Cameron als Premierminister. "New Labour hatte einen neuen Aufbruch versprochen - und heute fühlen sich viele betrogen", so das Fazit von Anthony Giddens im New Statesman vom 17. Mai. Die Briten sind der Meinung, dass der marktradikale Geist ausgerechnet durch die Partei der "Eisernen Lady" Margret Thatcher vertrieben werden könne. Das allein sagt schon viel über den Zustand von Labour aus. Der "mitfühlende Konservatismus" hat die Mitte erobert und tritt das Erbe von New Labour an.

Mit der Abwahl der Labour-Regierung unter Gordon Brown ging in Europa eine Ära sozialdemokratischen Regierens zu Ende, die mit dem sogenannten "Dritten Weg" als einer Positionierung zwischen klassischer Sozialdemokratie und Neoliberalismus verbunden war. In den USA wurde die Idee der New Democrats in den 80er Jahren geboren und fand in den 90er Jahren in Bill Clinton einen charismatischen Repräsentanten. Das hatte Nachahmer wie New Labour unter Tony Blair oder die Neue Mitte der SPD, die mit dem Namen Gerhard Schröder verbunden bleibt.


Mehr Flexibilität - zu wenig Sicherheit

Der Dritte Weg war der Versuch, Sozialdemokratie und Marktliberalismus miteinander zu verbinden. Politisch knüpft das Konzept an die Erfahrung an, dass Macht nur noch in punktuellen Bündnissen zu organisieren ist und nicht mehr auf strukturelle Mehrheiten bauen kann. Deswegen zielt der Dritte Weg - progressive governance - machtpolitisch im Kern auf die Mitte der Gesellschaft, um alte und neue Mittelschichten für die Idee und die Partei der Sozialdemokratie zu begeistern.

Was beim Dritten Weg ursprünglich "Sicherheit durch Wandel" geheißen hatte, wurde letztlich kein Umbau der sozialen Sicherungssysteme, damit wohlfahrtsstaatliche Systeme auch in Zukunft finanzierbar bleiben würden. Vielmehr wurde zu oft mehr Flexibilität mit zu wenig Sicherheit erkauft. Ökonomisch wurde durch die Politik des Dritten Weges eine umfassende Umstrukturierung vollzogen: weg von traditioneller Industrie und Dienstleistung hin zu einer Stärkung der Finanzindustrie und einer Deregulierung der Arbeitsmärkte. Während dies in Deutschland zu erheblichen Verwerfungen in der Lohnentwicklung für Geringverdiener geführt hat, konnte im Vereinigten Königreich diese Abwärtsspirale durch die Garantie von Mindestlöhnen verhindert werden. Gleichwohl haben die Einkommensungleichheiten auch in Großbritannien eher zu- als abgenommen.

Freiheit, Subjektivität, Privatheit, Unabhängigkeit - das waren die Schlagworte der Ideologie des Monetarismus, jenes Zeitgeistes, der seit den 70er Jahren überall in Europa herrschte und die Sozialdemokratie erpresste. Man wollte mit der Zeit gehen, zeigte sich wandelbar, um nicht in der politischen Bedeutungslosigkeit zu versinken. Labour wollte sich von der Partei des "starken Staates" zur Partei des "intelligenten Staates" wandeln (Giddens, New Statesman, 17.05.2010).

Durch die Entindustrialisierung wurde der klassische Arbeiter nicht mehr gebraucht. Man suchte eine neue Klientel. Das war Ende der 90er Jahre. Heute, gut eine Dekade später, sieht man hängende Köpfe und ratlose Gesichter überall. Auch die Labour Party zeigte sich nach ihren 13 Regierungsjahren programmatisch erschöpft, personell ausgelaugt und strategisch schlecht aufgestellt. Sie hatte keine überzeugende Wahlkampfprogrammatik. Gordon Brown und sein Regierungsteam hatten wenig Ausstrahlung. Lediglich die Brown zugesprochene Kompetenz, das Land einigermaßen solide durch die globale Wirtschaftskrise zu bringen, konnte wohl einen noch stärkeren Absturz verhindern. Die fehlende Bündnisfähigkeit, das Unvermögen also, mit den fortschrittlichen Kräften bei den Liberaldemokraten (die sich eher "links-grün" von Labour positionierten) eine "Infusion zur sozialökologischen Erneuerung" zu legen, gab beredt Zeugnis ab vom Erneuerungsbedarf der Labour Party.

Das Dilemma von "Old New Labour" ist kein britisches Alleinstellungsmerkmal. Es kennzeichnet die europäische Sozialdemokratie insgesamt und hat zu einem erheblichen Verlust des Vertrauens in die Fähigkeit zur Herstellung von gesellschaftlicher Gerechtigkeit geführt. Dabei setzt die gegenwärtige ökonomische Krise unweigerlich die Richtungsfragen in unserer Gesellschaft wieder auf die Tagesordnung. Es geht um die Frage einer post-neoliberalen Wirtschaft, die ökonomisch in der Lage ist, Wachstum zu generieren, Armut und Hunger zu bekämpfen sowie den zivilisatorischen Herausforderungen (Klimawandel, Verlust von Biodiversität) zu begegnen. Dazu ist auch ein neues Verständnis von Globalisierung notwendig, jenseits "des Globalismus als Idee oder Ideologie". Denn Globalismus als Ideologie hat zur "Durchsetzung des Primats der Ökonomie" geführt und ist ebenso ökonomistisch wie es der Vulgärmarxismus einst war. Die Folgen dieser Entwicklung sind in der gegenwärtigen Krise zu besichtigen: Kapitalvernichtung in einer bislang unbekannten Größe, Massenarbeitslosigkeit und Staatsinsolvenzen.


Eine politische Mitte gibt es nicht!

Notwendig ist daher eine Neuorientierung linker Politik. Der Fetisch der Mitte muss aufgegeben werden. Eine politische Mitte gibt es nicht, sie ist ein umkämpfter gesellschaftlicher Raum. Die politische Linke muss wieder "aussprechen, was ist", woran Sigmar Gabriel erinnerte, sie muss die heutigen Brüche und Widersprüche benennen sowie Zukunftsantworten formulieren, jenseits des Regierungspragmatismus.

Die nächsten Jahre werden die Gesellschaft vor neue, zum Teil bislang unbekannte Herausforderungen stellen:

• die Gestaltung des Finanzkapitalismus, seiner Transparenz, seiner Regulierung, seiner Ausrichtung auf Nachfrage und Zukunftsinvestitionen;

• die Bewältigung der Zivilisationsfragen, die mit den Stichworten Bevölkerungsexplosion, Klimawandel, Ressourcenknappheit und Verlust unserer natürlichen Lebensgrundlagen korrespondieren;

• die Rückkehr sozialer Klassenspaltung, die Entwicklung einer "Zwei-Drittel-Gesellschaft" (Peter Glotz), der Ausschluss wachsender Teile der Gesellschaft und die damit verbundenen Aufstiegsblockaden für bestimmte soziale Milieus;

• die Entgrenzung der Politik, also eine Entwicklung, in der gesellschaftlich relevante Entscheidungen nicht mehr in den dafür vorgesehenen Institutionen und Verfahren getroffen werden, sondern in Wirtschaft, Wissenschaft und transnationalen Netzwerken ohne demokratische Legitimation und Beratung;

• die Aushöhlung der Demokratie durch ein Primat der Ökonomie, eine Übermacht der Märkte und die steigende Verweigerung demokratischer Legitimation durch die (Nicht-)Wähler.


Die linke Alternative formulieren

Die Rhetorik des Sachzwangs und das Postulat der Alternativlosigkeit sind auf diese Herausforderungen keine Antwort. Eine Linke braucht eine Politik neuer Balancen zwischen Staat und Markt, Wachstum und Gerechtigkeit, Solidarität, Verteilung und Eigenverantwortung, Nationalstaat und Weltgesellschaft. Das linke Projekt muss sich (wieder...) als Emanzipationskonzept etablieren: Befreiung des Menschen von Fremdbestimmung und Bevormundung. Eine solche emanzipatorische Entwicklung hat Voraussetzungen, z.B. ein ausreichendes Maß materieller Sicherheit, denn nur unter dieser Voraussetzung können sich Menschen fair und gerecht begegnen. Dazu gehört uneingeschränkte Chancengleichheit bei der Entwicklung ihrer Talente und Fähigkeiten sowie eine Politik der Generationengerechtigkeit, die sicherstellt, dass die Lebensgrundlagen für nachwachsende Generationen erhalten bleiben.

Eine solche Linke muss wieder zum Träger von Richtungsfragen und Richtungsdebatten werden. Sie muss das "Prinzip Hoffnung" (Ernst Bloch) und das "Prinzip Verantwortung" (Hans Jonas) miteinander verbinden. Das fordert Mut, Konfliktbereitschaft, Klarheit im Denken und Handeln. Und es bedarf einer intellektuellen Stärkung und Erneuerung. Die Linke darf sich nicht der "Diktatur der Alternativlosigkeit" beugen, sondern muss wieder Ort des Diskurses, der Neugier und der Suche werden. Unsere Gesellschaft steht national und global vor vielen Richtungsfragen, die Richtungsantworten erfordern. Eine Linke ist nur dann wieder attraktiv, wenn ihr genau dies gelingt: Die richtigen Fragen zu stellen und schlüssige Antworten zu geben.

Dabei muss ihr vor den Konservativen und Liberalen nicht bange sein. Die schwarz-gelbe "Wunschkoalition" in Berlin führt uns täglich eindrucksvoll vor, mit welch geringer programmatischer und strategischer Substanz sie ausgestattet ist. Das neue konservativ-liberale Bündnis in England ist nicht Ergebnis eines bewussten und organisierten Prozesses. Das mag Vorteile bieten, weil sich die Erwartungen in überschaubaren Grenzen halten. Aber irgendwann werden nicht nur die Medien, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger feststellen, dass es nicht ausreicht, "smart" wie Cameron oder Clegg zu sein, sondern dass die realen Probleme eine nachhaltige Lösung verlangen. Dafür muss sich aber auch die SPD zuerst an ihre eigene Nase fassen. Sie muss noch einiges leisten, damit sie wieder um ihrer selbst Willen gewählt wird.


Matthias Machnig (*1960) war u.a. SPD-Bundesgeschäftsführer und Staatssekretär im Bundesumweltministerium. Seit November 2009 ist er Minister für Wirtschaft, Arbeit und Technologie in Thüringen. Zuletzt erschien (Hg. mit Joachim Raschke) Wohin steuert Deutschland? Bundestagswahl 2009 - ein Blick hinter die Kulissen.
matthias.machnig@tmwat.thueringen.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010, S. 16-19
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2010