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EUROPA/808: Die Niederlande nach den Wahlen (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010

Vaarwel Volkspartei
Die Niederlande nach den Wahlen

Von Matthias Micus und Andreas Wagner


In den 90er Jahren galt der niederländische Ansatz zur Harmonisierung der Profitbedürfnisse der Arbeitgeber mit dem Interesse der Arbeitnehmer nach sicheren Jobs ("Poldermodell") als internationales Vorbild für die Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum, niedriger Arbeitslosigkeit und umfassender sozialer Sicherung. Neuerdings bietet das Land der Grachten und Deiche in dieser Hinsicht allerdings eher ein Schreckensszenario. Ein Zustandsbericht nach den Parlamentswahlen.


Besorgten Analysen gibt die Parlamentswahl im Juni 2010 neue Nahrung. Die einst stolzen Volksparteien, der christdemokratische CDA und die sozialdemokratische PvdA, erhielten zusammen nur noch wenig mehr als 30% der abgegebenen Stimmen, während sie in ihren "goldenen" 50er Jahren auf Werte um 80% gekommen waren. Nie war die stärkste Partei so schwach wie diesmal die VVD, selten einmal die Verluste einer Liste so hoch wie die des CDA. Die Koalitionsbildung ist daher selbst für niederländische Verhältnisse kompliziert, mehrheitsfähig sind nur Parteienkonstellationen, gegen die mindestens einer der Partner handfeste Vorbehalte hegt.

Hinter solchen vordergründigen Erscheinungen stehen Verschiebungen in der Tektonik des Parteiensystems. Die Krise der Volksparteien ist jenseits des Rheins weit fortgeschritten und hängt mit vielfach zitierten gesellschaftlichen Veränderungen zusammen: mit dem Schwund der Zahl an Gläubigen, dem Rückzug der Arbeitsgesellschaft, mit Individualisierung, Bildungsexpansion und Wertewandel. Statt weniger homogener Großblöcke müssen Volksparteien heute ein unübersichtliches Mosaik unterschiedlicher Lebensstile, Mentalitäten und Werthaltungen integrieren, wollen sie an alte Erfolge anknüpfen. Da das unmöglich ist, verlieren sie nach allen Seiten - wie die PvdA, die bei der jüngsten Parlamentswahl gleichermaßen an die rechtspopulistische PVV wie an deren politische Antagonisten, die dezidiert antipopulistische, links-elitäre D66 Stimmen abgeben musste.

Die Krise der Volksparteien hängt auch damit zusammen, dass der traditionellen "Befriedungspolitik" seit einigen Jahren die materiellen Grundlagen entzogen sind. Es ist ja kein Zufall, dass die Wissenschaft die Glanzzeit der niederländischen Parteienstabilität und des Konsenses von 1917 bis 1967 datiert, also in dem Jahr der sogenannten pacificatie (Befriedung) beginnen lässt, dem Ende des Wahlrechts- und Schulstreits zwischen Liberalen und Konfessionellen. Befriedung hieß schon damals, dass letztlich beide Seiten ihren Willen bekamen - oftmals durch eine breit gestreute Verteilungspolitik. Volksparteien als Abbilder der Gesamtgesellschaft im Kleinen waren in der Vergangenheit stets Parteien des Wohlfahrtsstaates, wenn man so will: des "sozialen Kapitalismus". Als ihre Meisterleistungen gelten heutigen Historikern kostspielige Wohlfahrten, die sich in zusätzlichen Wählerstimmen niederschlugen.

In dem Maße, in dem nun auch die Volksparteien seit den 80er Jahren auf die neue liberale Doktrin von Leistungskürzungen, Steuersenkungen und einer profitmaximierenden Angebotspolitik einschwenkten, kappten sie die Verbindungen zu eben jenen Gruppen, die von den staatlichen Sozialleistungen unmittelbar profitierten. Besonders deutlich ist dies bei der niederländischen PvdA, die unter Wim Kok als eine der ersten europäischen Sozialdemokratien den Dritten Weg einschlug, bei Arbeitern seither massiv an Resonanz verlor und bei den Parlamentswahlen in dieser Wählergruppe gleich von drei Parteien ein- oder überholt worden ist, von der linkssozialdemokratischen SP über die rechtspopulistische PVV bis hin zur rechtsliberalen VVD.


Ende der Versäulung

Die Markanz der Schwäche der Volksparteien, die Dramatik ihrer Gewinne und Verluste bei Wahlen, hängt aber auch mit den Eigenheiten der niederländischen Versäulung zusammen. Hier zeigt sich die stabilisierende Funktion äußerer Feindbilder - bzw. die destabilisierende ihres Fehlens. Im Unterschied zu Deutschland und Österreich sind die niederländischen Parteien grundsätzlich seit 1917 kooperations- und koalitionsfähig, spätestens Anfang der 30er Jahre verabschiedete sich auch die Sozialdemokratie vom Marxismus und Klassenkampf. In der Nachkriegszeit koalierte dann in wechselnden Bündnissen jeder mit jedem, antagonistische politische Lager gab es - mit Ausnahme vielleicht in den 70er Jahren - nicht. Als sich schließlich in den 60er Jahren die Säulen auflösten, schwanden die Wählerloyalitäten in den Niederlanden besonders stark, weil eben nach dem Verlust der inneren Bindekräfte keine äußeren Abstoßungseffekte ihre kompensatorische Wirkung entfalteten. Es war gerade die Konsensorientierung der Organisationen, ihre Anpassungsbereitschaft an den Zeitgeist, die einerseits bei der katholischen Kirche den Mitgliederschwund beschleunigte, sodass die Entkonfessionalisierung in den Niederlanden besonders rasant vonstatten ging, und die andererseits die Auflösung traditioneller Parteibindungen sowie die Entkopplung der Parteien von den weltanschaulichen und sozioökonomischen Konfliktlinien forcierte. Der Verlust ihrer Anstößigkeit, der Mangel an Eigensinn und Widerborstigkeit beraubte die Parteien ihrer Anziehungskraft, ihres "Zündstoffs". 2006 wählten nur noch 18% der Niedrigverdiener die alte Arbeiterpartei PvdA, bereits vier Jahre zuvor erklärten Religion und soziale Klasse nur noch 28% des Wählerverhaltens, und 2010 schließlich wurde die antiklerikale PVV von Geert Wilders zur stärksten politischen Kraft ausgerechnet in Limburg, der katholischen Herzregion des CDA.

Insofern wirkt die Versäulung auch noch nach ihrem Ende auf die Topographie des niederländischen Parteiensystems ein, übrigens nicht bloß in Hinblick auf den Schwund der Volksparteien, sondern auch vor dem Hintergrund der "populistischen Welle" des letzten Jahrzehnts. Eine einzelne gesellschaftliche Gruppe war in den Niederlanden niemals mehrheitsfähig, konnte realistisch auch nie darauf hoffen, dies einst zu werden. Ein Kennzeichen der Versäulung war daher stets die Verhandlungsoffenheit auf der Ebene der Säuleneliten. Die Kultivierung der Bereitschaft zum Ausgleich, die Antizipation von Kompromissen bereits bei der Meinungsbildung in den einzelnen Säulen führte dazu, dass in den Niederlanden in der politischen Mitte ein besonders großes Gedränge herrschte, in dem grundsätzliche Streitfragen ausgeklammert, Kontroversen verpönt und elementare Abweichungen vom Elitenkonsens tabuisiert wurden. Für Populisten gibt es kein günstigeres Umfeld, da sich hier die Triftigkeit ihres zentralen Vorwurfs, ein Elitenkartell mit eigenen Interessen habe sich von der Gesellschaft abgekoppelt und handele dem Willen der Bevölkerung zuwider, zu bestätigen scheint.

Die Empfindung, bei politischen Entscheidungen kaum berücksichtigt zu werden, außerdem Gefühle von Unzufriedenheit, ja Verdrossenheit über Politik und Parteien sind denn auch keineswegs auf die Unterschichten oder Modernisierungsverlierer begrenzt, wenn auch die (Rechts-)Populisten unter letzteren überproportional abschneiden. Ebenso reüssiert die PVV von Wilders - ähnlich wie zuvor schon Fortuyn - in den gesellschaftlichen Mittellagen. Einer Studie von 2009 zufolge unterscheidet sich der typische PVV-Wähler in Einkommen, Alter und Wohnsituation nur wenig vom Durchschnittsniederländer.

Die Rechtspopulisten um Geert Wilders sind aber nur die spektakulärsten Profiteure der Verschiebungen im niederländischen Parteiensystem. Auch andere Parteien an den Rändern haben in den letzten Jahren deutlich hinzugewonnen, die SP 2006, D66 und GroenLinks 2010. Christdemokraten und Sozialdemokraten haben dagegen nicht davon profitiert, dass sie ihr Heil in der politischen Mitte gesucht haben. Vielmehr diagnostizieren politische Beobachter den Mangel an inhaltlicher Klarheit, ein unscharfes Profil und eine ambivalente Führerschaft als Nachteile der Volksparteien im Wettbewerb um Wählerstimmen. Die Mitte lässt sich nicht mehr mit dem Adenauerschen Diktum "Maß und Mitte" umschreiben - wenn sie es denn jemals tat. Politische Gemischtwarenläden, allgegenwärtige Relativierungen sowie inhaltliche Kanten- und Konturenlosigkeit stoßen sie eher ab.

So hat die PvdA auf der linken Seite die Hegemonie eingebüßt und konkurriert hier nun mit drei anderen Parteien (D66, GroenLinks, teilweise auch SP) um die besserverdienenden, höher gebildeten, urbanen Kulturlinken. Gleichzeitig wechseln Arbeiter bei Wahlen heute von der SP zur PVV, nur nicht mehr zur PvdA. Dem CDA seinerseits droht ebenfalls eine Auffächerung des konservativen Spektrums. Eine dezidiert konservative Partei, so eine neuere Analyse der Edmund-Burke-Stiftung, die sich eindeutig gegen die Probleme und Auswüchse der "politischen Korrektheit", des "Multikulturalismus" und des "Werterelativismus" positionieren würde, die eine restriktive Migrationspolitik verträte und die christliche Lehre als Leitfaden ihres Handelns wählte, eine solche Partei rechts vom CDA besäße ein großes Potenzial. Auch ohne eine solche Abspaltung verloren die Christdemokraten bei der Parlamentswahl 2010 massiv bürgerliche Wähler an die wirtschafts- und sozialpolitisch scharf neuliberal profilierte VVD.


Wachsende Integrationsprobleme

Die rechtsliberale VVD ist neben der Wilders-Partei die große Gewinnerin der diesjährigen Wahl. Das mag zunächst verwundern, galten die Rechtspopulisten doch als Fleisch vom Fleische der Rechtsliberalen. Und in der Tat kommen die führenden Vertreter des zeitgenössischen niederländischen Rechtspopulismus, Rita Verdonk und Geert Wilders, aus der VVD. Auch verlor die VVD zuletzt stark an die rechte Konkurrenz. Plausibel ist diese Vermutung zumal insofern, als die niederländischen Rechtspopulisten eine schroff ablehnende Haltung gegenüber muslimischen Einwanderern paaren mit liberalen Forderungen in anderen gesellschaftspolitischen Fragen, wie den Homosexuellenrechten oder der Genforschung, folglich begründet auch als Nationalliberale bezeichnet werden könnten und von daher in Konkurrenz zur VVD stehen. Und doch haben beide Parteien im Juni 2010 massiv gewonnen, haben sowohl Mark Rutte (VVD) als auch Wilders (PVV) vom Parteiaustritt des Letzteren und seiner Parteineugründung profitiert. Mit getrennten Kräften konnten beide das Spektrum des niederländischen Rechts- und Nationalliberalismus optimal ausschöpfen. Rutte gewann mit einem neuliberalen und hochgelobten Programm bei Wirtschaftsbürgern, Besserverdienenden und in der Boomregion Brabant. Die PVV ihrerseits wilderte im alten sozialdemokratischen Wählerreservoir, bei frustrierten Unterschichten und ängstlichen Mittelschichten, denen die PvdA viel zu sehr zum Bestandteil der politischen Klasse geworden ist, die aber die alte Establishmentpartei VVD niemals hätte gewinnen können.

Abspaltungen können sich also mittelfristig durchaus lohnen - für beide Seiten. Ob hingegen die Ausdifferenzierung des Parteienspektrums dem gesellschaftlichen Zusammenhalt à la longue nutzt oder eher schadet, ist ungewiss. Für wachsende Integrationsprobleme spricht, dass die Anhänger der neuen Parteien ein geringeres gesellschaftliches Engagement an den Tag legen als Wähler der Traditionsparteien CDA, PvdA und VVD. Dafür sprechen auch soziologische Forschungen, die bei neuen Unterschichten eine Tendenz zur gesellschaftlichen Abkopplung sowie zum Rückzug in ein nörgelndes Abseits diagnostizieren und die zugleich eine hochmobile, globalisierte Oberschicht sich herausbilden sehen, die für die Dauer demokratischer Entscheidungsfindungen, die Verwaschenheit von Kompromissen und die Kosten gesellschaftlicher Solidarität zunehmend weniger Verständnis aufbringt. Doch könnte die Ausdifferenzierung des Parteiensystems ja auch einfach die gesellschaftliche Pluralisierung spiegeln, dem liegen nicht den Anfängen der Volksparteien ebenfalls gesellschaftliche Spaltungen zugrunde, wie auch die Formulierung von Protest und Verdrossenheit sowie die Kritik am bestehenden politischen System?


Matthias Micus (* 1977) forscht derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter zum Niedergang der Volksparteien in Deutschland, Österreich und den Niederlanden am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Matthias.Micus@demokratie-goettingen.de

Andreas Wagner (* 1982) promoviert mit einer Arbeit zu Erosionsprozessen und Organisationsreformen christdemokratischer Parteien in Deutschland, Österreich und den Niederlanden am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Andreas.Wagner@demokratie-goettingen.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010, S. 8-11
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2010