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EUROPA/826: Reichstagswahlen in Schweden - Sozialdemokraten nehmen Kurs auf die Regierungsübernahme (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Reichstagswahlen in Schweden
Sozialdemokraten nehmen Kurs auf die Regierungsübernahme

von Gero Maass
August 2014



• Seit 2006 ist die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens (SAP) in der Opposition. Kurz vor den Wahlen am 14. September 2014 herrscht nun aber Wechselstimmung im Land, was vor allem mit der sinkenden Popularität der jetzigen Mitte-Rechts-Regierung unter dem konservativen Premier Fredrik Reinfeldt zu erklären ist.

• Die SAP hat sich im Zuge der letzten Jahre inhaltlich und personell reformiert, um unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen an die Erfolge der Partei in der Vergangenheit anzuknüpfen. Zentral hierbei ist die Idee des »nordischen Modells« in der Wohlfahrtsstaatspolitik, welches traditionell von der Sozialdemokratie auf- und ausgebaut wurde. Dieses Modell wird seit Anfang des 21. Jahrhundert aber auch von den Konservativen für sich beansprucht.

• Bildung, Gesundheit und Arbeit - Kernelemente des »nordischen Modells« - sind auch die zentralen Themen im Vorfeld der Parlamentswahlen am 14. September 2014. Sinkende Qualität im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie die relativ hohe Arbeitslosigkeit sprechen deutlich gegen die Mitte-Rechts-Regierung und könnten entscheidend zum Machtwechsel im Falle eines rot-grünen Wahlsieges beitragen.

• Nichtsdestotrotz ist ein solcher Machtwechsel weiterhin unsicher, da in aktuellen Umfragen weder der Mitte-Rechts-Regierung noch der rot-grünen Opposition eine eigene Mehrheit vorhergesagt wird. Dadurch könnten die rechtspopulistischen Schwedendemokraten zum »Zünglein an der Waage« werden.



Hoffnung mit Signalwirkung

1889 wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP) gegründet und stellte 1896 mit Hjalmar Branting erstmals einen Abgeordneten im schwedischen Reichstag. Mit ihm trat sie 1920 als Juniorpartner der Liberalen in eine Regierung ein und stellte nach der Wahlrechtsreform 1921 erstmals einen Ministerpräsidenten (wenn auch nur für eine kurze Dauer). Es folgten Jahrzehnte der Hegemonie, in denen sie von 1932 bis 1976 mit absoluten Mehrheiten und später als Minderheitskabinette von 1982 bis 1991 und erneut ab 1994 fast dauerhaft den Ministerpräsidenten stellte.

Seit 2006 sitzt sie indes auf den Oppositionsbänken. Nach einigen Personalquerelen wird sie seit 2012 von Stefan Löfven geführt, der zuvor Vorsitzender der Gewerkschaft IF Metall war und über eine besonnene, zurückhaltende Persönlichkeit verfügt. Die SAP hat in den letzten zwei Jahren einen intensiven innerparteilichen Reformprozess sowie eine programmatische Erneuerung durchlaufen. All dies verbirgt sich hinter dem neuen Slogan der framtidspartiet, der Zukunftspartei, unterstrichen durch ein neues Parteiprogramm sowie den Namenszusatz unter dem alten Parteilogo.(1) Nach den Reichstagswahlen am 14. September dürfte sie aktuellen Umfragen zu Folge das Regierungsruder wieder übernehmen, doch der Vorsprung schmilzt.

Von einem Wahlsieg der SAP erhoffen sich nicht nur die Genossen im Norden Signalwirkung. Das nordische Modell genießt weltweit Anerkennung - und mit ihm die Sozialdemokratien dieser Länder, die in den vergangenen Jahrzehnten treibende Kraft beim Aufbau der Sozialstaaten waren. Derweil verweigern indes die Wähler nicht nur in Schweden der Sozialdemokratie die Gefolgschaft, sondern auch in den anderen Ländern.

In Schweden gab es zwar bereits früher einen bürgerlichen Ministerpräsidenten, aber die SAP kam stets als führende Kraft zurück. Umso traumatischer war die erneute Niederlage, die 2010 auf die verlorenen Reichstagswahlen vier Jahre zuvor folgte und das Selbstbewusstsein der Partei tief erschütterte. Etwas später vielleicht als anderswo hat auch die schwedische Sozialdemokratie jene tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen erreicht, die der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch kürzlich auf drei Punkte brachte(2):

• Die industrielle Arbeiterschaft, auf welcher die Stärke der Sozialdemokratie gründete, befindet sich im Zuge der ökonomischen Strukturveränderungen im Niedergang.

• Auch die Gruppe der öffentlichen Bediensteten, als zweites wichtiges Standbein, ist im Schrumpfen begriffen - auch wenn Schweden (wie alle anderen nordischen Länder) trotz erster Privatisierungen immer noch über einen der größten sozialstaatlichen Dienstleistungssektoren mit entsprechender öffentlicher Beschäftigung verfügt.(3)

• Schließlich ist insgesamt eine Machtverschiebung weg von der Arbeit und hin zum Kapital als Folge der wirtschaftlichen Globalisierung zu beobachten: Laut OECD(4) gehört Schweden immer noch zu den Ländern mit der gerechtesten Einkommensverteilung. Gleichzeitig verzeichnete das Land jedoch zwischen 1985 bis 2010 den steilsten Anstieg aller OECD-Länder bei der Ungleichkeit.


Diskurshoheit über das nordic model verloren

1928 entwarf der damalige SAP Vorsitzende Per Albin Hansson seine Vision vom Folkhemmet.(5) Die Wahlen 1932 brachten die Sozialdemokraten erstmals als führende Kraft an die Regierung. Mit Beschäftigungs- und Strukturprogrammen bekämpfte die neue Regierung erfolgreich die Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929. 1938 legte man mit dem Abkommen von Saltsjöbaden den Grundstein für die dauerhafte schwedische Sozialpartnerschaft. Schweden begann den Aufbau seines »Volksheims« - des Wohlfahrtsstaates, der das Land bis heute prägt. Das nordic model ist zwar immer noch der Dreh- und Angelpunkt der gesellschaftspolitischen Erzählung der schwedischen, ja aller nordischen Sozialdemokratien.(6) Gesellschaftlicher Wandel, Migration und Globalisierungsdruck nagen indes am politischen Vertrauen in staatliche Institutionen und am Kommunitarismus als prägende Elemente der nordischen Sozialordnungen. Schwedens Sozialdemokraten begannen schon in den 80er Jahren mit einer Debatte über Effizienzsteigerungen im öffentlichen Sektor und seiner Öffnung für privatwirtschaftliche Anbieter. Allerdings haben die nordischen Sozialdemokratien die Diskurshoheit über die Richtung von Wirtschaft und Gesellschaft in ihren Ländern verloren. Auch die konservativen Parteien bekennen sich im Grundsatz zum Sozialstaat und versuchen zumindest einen Teil der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungen auch als ihren politischen Erfolg zu reklamieren. Sie mahnen indes Korrekturen an, verweisen im Vorfeld der Wahlen etwa auf die Wartelisten im Gesundheitsbereich und versprechen Besserung durch mehr privatwirtschaftliches Engagement im steuerfinanzierten Dienstleistungssektor.

Allen voran begann die schwedische liberal-konservative Sammlungspartei Moderaterna (»Die Moderaten«) unter ihrem jungen Vorsitzenden Fredrik Reinfeldt 2003 ganz nach Blairs New Labour, aber unter anderen politischen Vorzeichen, die Partei als nya moderaterna (»Neue Moderaten«) zu positionieren. 2006 übernahmen sie die Regierungsgeschäfte und firmieren seit ihrem Parteitag Ende letzten Jahres im Logo mit dem Zusatz als »Schwedens Arbeitspartei«. In Norwegen beherzigte die konservative Partei Høyre ebenfalls erfolgreich diese Strategie.

Als natürliche Regierungspartei vertrauten die Sozialdemokraten zu lange allein auf »ihre« Ministerialbürokratie und verloren den Kontakt zur progressiven intellektuellen Elite ihrer Länder. Dies spiegelt sich auch in der Schwäche der Think Tanks links der Mitte wider. Durch die Bank ist die Politikberatung des rechten Spektrums viel besser aufgestellt. Die insbesondere von schwedischen Arbeitgebern finanzierte Denkfabrik Timbro nimmt mit Recht für sich in Anspruch, die Debatte der regierenden konservativ-liberalen Moderaten stark mit beeinflusst zu haben. Private choice in the public sector. The new Swedish welfare model - unter diesem Titel firmiert eine ihrer Studien. Für den Tenor des Schwerpunktberichts des Economist (vom 2.2.13) über das new nordic model hat er Pate gestanden. Was dem internationalen Publikum als neues, zukunftsweisendes Modell verkauft wird, ist im Land selbst jedoch höchst umstritten.

Die Sozialdemokraten sind bemüht die gesellschaftliche Debatte wieder anzuführen. Im Verein mit FaFo, dem führenden nordischen sozialwissenschaftlichen Institut in Oslo, spürt die Vereinigung der nordischen sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften (SAMAK) den Zukunftsherausforderungen der nordischen Wohlfahrtsstaaten nach. Ende 2014 wollen sie die Ergebnisse ihres Vorhabens nordic model 2030(7) präsentieren. Auch in der politischen Rhetorik des Zukunftskontrakts der SAP stehen der Verweis auf einen investiven Sozialstaat mit Ausgaben für Bildung, Forschung und Familien zur Sicherung von Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit der weltmarktoffenen Ökonomien an erster Stelle.


Mitgliederschwund, Überalterung und die Erosion der strategischen Partnerschaft mit den Gewerkschaften

Die SAP, als mit Abstand mitgliederstärkste aller politischen Parteien in den fünf nordischen Ländern, verzeichnet seit Mitte der 80er Jahre einen kontinuierlichen Rückgang ihrer Mitglieder und zählt heute unter 100.000 Parteigänger. Fast die Hälfte ihrer Mitglieder ist im Pensionsalter. Parallel dazu zerbröseln die Milieus der Arbeiterbewegung, die in Schweden über Zeitungen bis Arbeiterbildungsstrukturen (ABF) besonders eng geknüpft waren. Der Gewerkschaftsdachverband LO besitzt mit Aftonbladet gerade noch eine überregionale Zeitung. Die enge, personelle und institutionengestützte Kooperation zwischen sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften besteht heute eigentlich nur noch in Schweden und Norwegen.

Zudem stagnieren oder fallen in allen nordischen Ländern die Mitgliederzahlen der LO - blue-collar -Gewerkschaften. Dagegen wachsen die Mitgliederzahlen der politisch nicht gebundenen Angestelltengewerkschaften (white-collar) kontinuierlich. In der Werbung der white-collar Beschäftigten sind die schwedischen Gewerkschaften (auch im Vergleich zu ihren nordischen Schwesterbünden) sehr erfolgreich. Auch wenn der Organisationsgrad und die Tarifbindung bröckeln, befinden sich beide Gewerkschaftsverbände im internationalen Vergleich indes immer noch auf hohem Niveau: In Schweden organisieren sich über 70 Prozent der Arbeitnehmer (1990: 82 Prozent) in den drei großen Gewerkschaftsbünden LO (1,5 Millionen), TCO (1,2 Millionen, v. a. Angestellte) und SACO (650.000, v. a. Akademiker). 88 Prozent der Beschäftigten werden von einem Tarifvertrag abgedeckt. Gesellschaftspolitisch sind die Gewerkschaften damit weiterhin die zentralen Garanten des schwedisch-nordischen Modells.

Tabelle 1: Wahl- und Umfrageergebnisse der schwedischen Parteien (in Prozent).Quelle: Das Statistisches Zentralamt (SCB) erhebt zweimal im Jahr (Mai und November) die Parteipräferenzen



Schwierigere Machtperspektiven als in der Vergangenheit

In Schweden gehören Minderheitsregierungen zum Normalfall. In der Vergangenheit haben insbesondere die Sozialdemokraten davon profitiert. Anfangs konnten sie oft sogar absolute Mehrheiten erzielen und haben später immerhin als stärkste Kraft in Form von Minderheitskabinetten mit wechselnden Mehrheiten jahrzehntelang regiert. Dabei kam ihnen oftmals die Uneinigkeit im bürgerlichen Lager zugute. In dem Maße, wie es den Parteien rechts von den Sozialdemokraten gelang ihre Differenzen zu überbrücken und formale Koalitionen einzugehen, wurde die Luft für die Sozialdemokraten dünner. Wie die jüngste Vergangenheit zeigt, landen sie dann auch als stärkste Parlamentsfraktion auf der Oppositionsbank.

Wenn jetzt Parlamentswahl wäre, würde die SAP mit 30 Prozent mit Abstand zur größten Partei im neuen Reichstag. Zumindest zwei Wermutstropfen mischen sich jedoch in die jüngsten Meinungsumfragen:

• Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten weisen mit 9 bis 10 Prozent weiterhin einen großen Stimmenzuwachs auf. Geschickt wird von ihnen das fast schon traditionelle Anti-Migrations-Image mit Europaskeptizismus und einem guten Schuss Sozialpopulismus gewürzt. Eine für die Sozialdemokraten gefährliche Mischung - im ganzen Norden. In Norwegen sind die Rechtspopulisten nun Teil der Regierung. In Schweden könnten sie zum Königsmacher avancieren.

• Eine Regierungsübernahme der Sozialdemokraten gelänge nur mit Unterstützung von mindestens einer der kleineren Parteien. Schwierige Koalitionsverhandlungen sind dabei bereits vorauszusehen, da sich auch innerhalb des linken Parteienspektrums die Positionen zur zukünftigen Ausrichtung des Wohlfahrtstaates teilweise grundlegend unterscheiden. Während die bürgerliche Allianz immer wieder auf ihre einheitlichen Politikpositionen verweist.

Im Gegensatz zu 2010 (mit der Ankündigung eines links-grünen Bündnisses) wollen die Sozialdemokraten allerdings diesmal allein in den Wahlkampf ziehen. Sie wollen die Blockbildung wieder aufbrechen und sich dadurch mehr Machtoptionen erarbeiten. Als Kandidat für eine Zusammenarbeit gelten die Grünen (MP). Doch auch sie haben schon signalisiert, dass es eine Kooperation nur um den Preis einer formalen Koalition geben wird. Hinter den Kulissen bereiten sich deshalb auch die Sozialdemokraten auf eine Koalition vor. Rechnet man in Kategorien eines Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Lagers, so käme die derzeitige Regierungskoalition zusammen nur noch auf knapp 37 Prozent der Stimmen, ein rot-rot-grünes Bündnis hingegen auf knapp 50 Prozent. Die positiven Umfrageergebnisse für die Oppositionsparteien sind dabei in erster Linie auf den Stimmenzuwachs bei den Grünen und der Linkspartei zurückzuführen. Sie sind weniger ein Erfolg der Sozialdemokraten, die vor allem neue Stimmen aus dem Mitte-Links-Lager erhalten. Vielleicht reichen auch einige Prozentpunkte weniger, falls eine oder beide der kleineren bürgerlichen Koalitionsparteien unter die Vierprozenthürde fallen sollten. Als parlamentarische Stütze für eine rot-grüne Koalition käme auch die Feministische Initiative in Frage. Sie trifft mit ihrem feministisch ausgerichteten Parteiprogramm und ihrer populären Parteivorsitzenden Gudrun Schyman den Nerv der Zeit und konnte schon bei der Wahl zum Europäischen Parlament (EP) im Mai aus dem Stand heraus einen Sitz gewinnen. Auch bei den Reichstagswahlen könnte der Partei nun der Sprung über die Vierprozenthürde durchaus gelingen. Im EP hatte sich ihre Abgeordnete der sozialdemokratischen Fraktion angeschlossen.


Die Wahlkampfthemen - Beschäftigung und mehr Steuern für Bildung und Soziales

Schon im Dezember 2013 positionierte der frisch ernannte Wahlkampfleiter der SAP (Jan Larsson, ein enger Mitarbeiter des früheren Ministerpräsidenten Göran Persson) die Partei mit den Prioritäten Arbeit, Bildung und Wohlfahrt für die Reichstagswahlen am 14. September. Dies sind alles Politikfelder, wo der SAP auch andere Erhebungen unterstreichen, dass hier in den Augen der Wähler ihre zentralen Kompetenzen liegen. 35 Prozent der Stimmen gab der Wahlkampfleiter als Zielmarke aus. Für die Europawahlen im Mai legte er die Hürde dagegen niedriger. Hier wollte die SAP lediglich 25 Prozent erreichen, was sie mit 24,2 Prozent nur knapp verfehlte - durch starke Konkurrenz im linken Lager und einem überragenden Ergebnis für die Grünen (15 Prozent). Für Wahlwerbung wollen die Sozialdemokraten 2014 umgerechnet 7,8 Millionen Euro ausgeben.

Schon im April 2013 hatte der Parteivorsitzende Stefan Löfven auf dem SAP-Parteitag in Göteborg die Losung ausgegeben, dass das Land in Sachen Beschäftigung wieder Nummer eins in Europa werden müsse. Tatsächlich lag die Arbeitslosigkeit vor allem bei den Jugendlichen mit 23,9 Prozent(8) (Juni 2014) sogar noch knapp über dem EU-Durchschnitt (23,7 Prozent),(9) was in den Augen der schwedischen Bevölkerung viel zu hoch ist. Während Parteien und Medien bislang die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik in den Vordergrund der politischen Auseinandersetzung rücken, deuten Umfragen darauf hin, dass in der Bevölkerung vor allem Fragen zum Zustand des Gesundheits- und Bildungswesens als prioritär erachtet werden.

Diese Entwicklung ist auch auf einen grundlegenden Wandel des schwedischen Wohlfahrtsstaates in den letzten zwei Jahrzehnten zurückzuführen: Der privatwirtschaftliche Einfluss auf Angebote im öffentlichen Sektor ist erheblich gewachsen. Die derzeit in Schweden geltende Regelung hatte in den vergangenen Jahren mehrfach für Diskussionen gesorgt. Es wurde bekannt, dass freie Träger unter anderem im Schul- und Altenpflegebereich und beim Betreiben von Asylbewerberheimen mit Hilfe von Steuergeldern auf legalem Weg hohe Gewinne erzielten. Diese Öffnung hatten die sozialdemokratischen Regierungen in den 90er Jahren vorsichtig miteingeleitet. Seit 2006 haben die beiden konservativen Reinfeldt-Kabinette diese Regelung noch erheblich ausgeweitet, so dass in jüngster Zeit das Ausmaß der privaten Anbieter wie deren Gebaren bezüglich der Gewinnentnahmen stark in die Kritik geraten ist.

Die Qualität des schwedischen Schul- und Gesundheitswesens ist gesunken. Im Europäischen Gesundheitskonsumenten-Index 2013 fällt Schweden ebenso zurück wie in den PISA-Vergleichsstudien.(10) Die SAP möchte nicht nur im Gesundheitswesen die Qualität öffentlicher Dienstleistungen wieder heben. Dabei stellt sie sich nicht prinzipiell gegen private Angebote (und die erzielten Gewinne). Sie will jedoch Standards und Regulierungen anziehen. Die Linkssozialisten, einer der beiden potentiellen Koalitionspartner oder zumindest parlamentarischer Unterstützer, sehen das ganz anders: Sie sind für ein striktes Verbot von Gewinnen. Nicht ganz so strikt äußern sich auch weite Teile der LO-Gewerkschaften, die für eine Deckelung der Gewinnentnahmen plädieren.

Die Erfolge der Grünen und Feministischen Initiative bei den Europawahlen zeigen zudem das Fragen der Umwelt- und Klimapolitik sowie Gleichstellung beim Wahlvolk immer höher im Kurs stehen.



Perspektiven - Zu vage, zu zaghaft?

Er sei zu zaghaft, zu unkonkret und zu sehr an den sozialen wie wirtschaftlichen Bedürfnissen der Mittelschichten orientiert, kritisieren Beobachter den vorsichtigen Wahlkampf der sozialdemokratischen Parteiführung um Löfven, die Generalsekretärin Carin Jämtin, die wirtschaftspolitische Sprecherin Magdalena Anderson und Fraktionschef Mikael Damberg. In der zweiten Reihe sollen die strategischen Parteiköpfe Hans Dahlgren (Parteikanzleichef und Schatzmeister), Emma Lennartson (Fraktionsgeschäftsfüherin) und Jan Larsson (Wahlkampfleiter, Staatssekretär und Pressesprecher des letzten sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Persson) für eine erfolgreiche Wahl und Regierungsübernahme sorgen. Einen wichtigen Posten in einem von der SAP geführten Kabinett dürfte auch Margot Wallström für sich reklamieren. Nach Jahren als EU-Kommissarin und im Dienste der Vereinten Nationen kehrt die Spitzenpolitikerin wieder in die schwedische Innenpolitik zurück. Sollte dem jetzigen Vorsitzenden der Erfolg versagt bleiben, dürfte sie sich in einer Diskussion um die Nachfolge in der Parteiführung große Chancen ausrechnen.

Fluchtpunkt der Sozialdemokraten ist die Wechselstimmung im Land: Nach acht Jahren im Amt macht der Ministerpräsident einen ideenlosen, abgearbeiteten Eindruck. Er habe zudem ein Bild vom Zustand der Gesellschaft, dass nicht mehr mit den Lebensrealitäten weiter Bevölkerungsteile übereinstimme.(11) Die Hoffnung, dass die Reinfeldt-Regierung schon allein im Zeichen ihrer Abnutzung untergeht, könnte sich indes als trügerisch erweisen. Bereits beim letzten Wahlgang hatten die Sozialdemokraten zunächst vorne gelegen und dann ist ihnen im Endspurt die Luft ausgegangen. Jüngste Umfragen geben diesen Befürchtungen neue Nahrung: Das Meinungsforschungsinstitut SIFO sah die SAP im Juni nur noch bei 29 Prozent. Manche Parteigänger mahnen eine deutlichere Abgrenzung an - insbesondere bei Fragen hinsichtlich Privatisierung, Bildung und der Zukunft des Wohlfahrtsstaates. Zumal der konservative Regierungschef mehr und mehr Merkelsche Wendigkeit an den Tag zu legen versucht: Die Anteil der Steuern am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im Zuge der Steuererleichterungspakete in den Regierungsjahren von Reinfeldt von 48,9 Prozent (2005) auf 44,6 Prozent (2012) gesunken. Nun hat er eine Kehrtwende angekündigt.

Der Profilierungsspielraum ist ökonomisch gesehen auch nicht sehr groß: Schweden ist im Vergleich zu anderen EU-Ländern gut durch die Nachwehen der Eurokrise und die Rezession im EU-Raum gekommen. Die SAP konzentriert sich auf mehr arbeitsplatzschaffende Investitionen (Gewerkschaftspartner LO mahnt hier sehr viel mehr an) und plädiert für höhere Steuern zur Finanzierung der Servicedefizite im Sozial- und Bildungssystem. An den wunden wirtschaftlichen Punkt des Landes mögen sich beide Lager nicht so recht heranwagen: Die Staatsverschuldung ist zwar gering, aber die private Verschuldung der Haushalte für Immobilien und hochwertige Kosumgüter ist rasant angestiegen. Erst in diesem Jahr zwang die Regierung die Banken zu einer höheren Eigenkapitaldeckung. Kreditnehmer können nun für Immobilienkäufe auch wieder zur schrittweisen Kreditrückzahlung verpflichtet werden. Bislang umfassten die Rückzahlungsmodalitäten allein die Zinsen und Kredite konnten ohne Eigenkapitaleinsatz der Kreditnehmer aufgenommen werden. Daneben mahnte die EU-Kommission in ihrem jüngsten Europe 2020 in Sweden-Report an, dass der Immobilienmarkt ausgeweitet sowie der Wohnungs- und Hausbau angekurbelt werden müsse. Er würde den Bedarf bei weitem nicht decken und laufe Gefahr im Zeichen rasant steigender Immobilienpreise in einer Spekulationsblase zu enden.

In den jüngsten TV-Debatten unterstrichen die bürgerlichen Koalitionäre immer wieder, dass man die Position der SAP kenne, indes würden sich die potentiellen Mitstreiter von den Grünen und der Linkspartei oftmals anders oder gar im Widerspruch dazu äußern (Beispiel: Aufstockung des Verteidigungshaushaltes). Eine rotgrüne Regierungslinie sei (im Gegensatz zum Bürgerblock) nicht erkennbar, die Wähler würden deshalb die Katze im Sack kaufen.

Der Gewerkschaftsdachverband LO unterstützt die SAP im Wahlkampf mit einem 20-minütigen Dokumentationsfilm, der aus ihrer Sicht eine detaillierte negative Bilanz der Reinfeldt Jahre zieht.(12) Der politisch nicht gebundene Dachverband der Angestellten TCO hat keine Wahlempfehlung abgegeben. Bei den beiden letzten Urnengängen haben deren Mitglieder mit für den bürgerlichen Erfolg gesorgt. Diesmal zeigen Umfragen in ihren Kreisen ein anderes Bild. Auch sie unterstützen den LO-Slogan »Sverige kan bättre« (Schweden kann es besser).

Tabelle 2: Wirtschaft und Gesellschaft - Schweden und Deutschland im Vergleich


Nach der Sommerpause nimmt der Wahlkampf nun an Fahrt auf. Ministerpräsident Reinfeldt kämpft derweil mit härteren Bandagen für den Fortbestand der bürgerlichen Koalition. In seiner Sommerrede vom 17. August 2014 eröffnete er ein neues Spielfeld: die schwedische Flüchtlings- und Immigrationspolitik. Auf der einen Seite plädierte er weiterhin für ein offenes Schweden. Anderseits würde der erwartete Flüchtlingsanstieg jedoch den Spielraum öffentlich finanzierter Vorhaben vor allem im sozialstaatlichen Bereich begrenzen. Was ein klarer Seitenhieb für die SAP ist, mag auf den ersten Blick auch als Abgrenzung gegenüber den schrillen Slogans der rechtspopulistischen Schwedendemokraten erscheinen. Es könnte sich auch als Wahlkampfkniff erweisen, indem es potentielle SAP-Wähler in das rechtspopulistische Lager treiben soll. Die Schwedendemokraten könnten mit einem guten Ergebnis (über 10 Prozent) zum Königsmacher zwischen den zwei politischen Lagern avancieren. Im Zuge seiner Rede während der politischen Almedalen-Woche im letzten Jahr hatte es der konservative Premier noch kategorisch abgelehnt, sich mit deren Stimmen erneut zum Regierungschef wählen zu lassen. Nach einigen unklaren Aussagen während des Wahlkampfauftakts bekräftigte Reinfeldts Partei nun diese Linie. Auch die anderen Mitte-Rechts-Parteien bekräftigten, im Falle eines rot-grünen Wahlsieges ihre Stimmen niederzulegen, um somit der Opposition die Regierungsgeschäfte zu überlassen. Es ist aber zu erwarten, dass Reinfeldt und seine Koalitionspartner nun ein ähnliches Angebot seitens der rot-grünen Opposition erwarten. Das politische Wochenmagazin Fokus titelte in seiner jüngsten Ausgabe (22.8.14): »Was kostet Jimmie Akesson?« (der Parteichef der SD).

Trotz bröckelnder Umfrageergebnisse könnte es aber für Stefan Löfven, wie für Helle Thorning-Schmidt von der dänischen Schwesterpartei vor drei Jahren, glücklich enden: Trotz des schlechtesten Ergebnisses der Nachkriegszeit übernehmen die Sozialdemokraten nach langen Oppositionsjahren in einem Koalitionsverbund wieder das Regierungsruder.

Anmerkungen

(1) http://www.socialdemokraterna.se/upload/Arrangemang/Kongress/Kongress_13/Beslut/Framtidskontraktet_beslutad_version.pdf

(2) Berliner Republik (BR) 6/2013.

(3) 1994 zählten sich 35 Prozent der Befragten zur Arbeiterklasse und 43 Prozent zur Mittelschicht - 2012 waren es 27 bzw. 49 Prozent. Untersuchung zitiert in: Tomas Berglung, Ingrid Esser, Modell i förandring. Landrapport om serige, NordMod 2030, Fafo (Oslo) 2014, S. 178. Zur Entwicklung der Beschäftigten siehe:
http://www.ekonomifakta.se/sv/Fakta/Arbetsmarknad/Sysselsattning/Privat-och-offentlig-sysselsattning/

(4) http://www.oecd.org/sweden/49564868.pdf

(5) »Das Fundament des Heims ist Gemeinsamkeit und Einverständnis. Im guten Heim gibt es keine Privilegierten oder Benachteiligte, keine Hätschelkinder und keine Stiefkinder. Dort sieht nicht der eine auf den anderen herab, dort versucht keiner, sich auf Kosten des anderen Vorteile zu verschaffen und der Starke unterdrückt nicht den Schwachen und plündert ihn aus. Im guten Heim herrschen Gleichheit, Fürsorglichkeit, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft. Auf das Volks- und Mitbürgerheim angewandt würde das den Abbau aller sozialen und ökonomischen Schranken bedeuten, die nun die Bürger in Privilegierte und Benachteiligte, in Herrschende und Abhängige, in Reiche und Arme, in Begüterte und Verarmte, in Ausplünderer und Ausgeplünderte teilen.« (eigene Übersetzung einer Rede vor der 2. Kammer des Reichstags, zitiert von Hirdman, Yvonne: Vi bygger landet. Den svenska arbetarrörelsens historia från Per Görtek till Olof Palme. Stockholm 1980, S. 255). Mit der Rolle des Begriff »Volksheim« setzt sich auseinander: Valeska Henze: Der schwedische Wohlfahrtsstaat. Zur Struktur und Funktion eines politischen Ordnungsmodells.
http://www2.hu-berlin.de/skan/gemenskap/inhalt/publikationen/arbeitspapiere/ahe_19.html.

(6) Mehr dazu: http://www.gegenblende.de/search/++co++d113f04a-f5d8-11e2-b1ea-52540066f352 sowie der Beitrag von Hakan Bengtsson in der Berliner Republik Nr. 1/2014.

(7) Mehr Infos: http://www.fafo.no/nordmod2030/about_nordmod_2030.html
Die Dokumentation vom britischen Fernsehsender Channel 4 über die skandinavischen Länder »Scandimania« (hier der link zum Schweden-Teil): http://youtu.be/6e4gC-YI_NE).

(8) http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&plugin=1&language=de&pcode=teilm021

(9) http://www.scb.se/Statistik/AM/AM0401/2013M11G/AKU201311_1574.XLS

(10) http://www.healthpowerhouse.com/files/ehci-2013/ehci-2013report.pdf
S. 23, Tabelle 4.1): Problematisch seien insbesondere die langen Wartezeiten. In Europa müssten Patienten nur in Serbien noch länger auf eine ärztliche Behandlung warten. Ähnlich im Bildungswesen:
http://skills.oecd.org/informationbycountry/sweden.html

(11) http://www.svd.se/opinion/brannpunkt/nagot-nytt-har-hant-ivaljaropinionen_3686294.svd

(12) http://www.reinfeldtssverige.se/



Über den Autor

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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2014