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FRAGEN/017: Lateinamerika - Boliviens Vizepräsident García Linera im Interview (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 31. März 2014

Lateinamerika: 'Plurinationale Gesellschaften, mononationale Staaten' - Boliviens Vizepräsident García Linera im Interview

von Marianela Jarroud


Bild: © Marianela Jarroud/IPS

Der bolivianische Vizepräsident Álvaro García Linera während seines Chile-Besuchs Ende März 2014
Bild: © Marianela Jarroud/IPS

Santiago, 31. März (IPS) - Er selbst bezeichnet sich als einen aus dem Leid der Indigenen hervorgegangenen Marxisten. Andere halten ihn für einen der wichtigsten Vordenker Lateinamerikas des 21. Jahrhunderts. Wie Boliviens Vizepräsident Álvaro García Linera kürzlich im IPS-Interview erklärte, ist die Region zwar plurinational, wird aber weitgehend von mononationalen Staaten regiert, "die sich bis zu einem gewissen Punkt völkermordend verhalten".

Der 51-Jährige gilt als rechte Hand von Boliviens erstem indigenem Staatspräsidenten Evo Morales. Er war Mitglied der Stiftung des bolivianischen 'Túpac-Katari-Guerilla-Heeres', einer maoistischen Bewegung zur Unterstützung des indigenen Kampfes, was ihm fünf Jahre Gefängnis einbrachte. 1997 wurde er aus dem San-Pedro-Gefängnis in der bolivianischen Hauptstadt La Paz entlassen.

García Linera ist zudem ein vehementer Befürworter der Klage Boliviens gegen Chile vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag für einen Zugang zum Meer, den sein Land im Pazifikkrieg von 1879 bis 1883 verloren hatte. Er ist zuversichtlich, dass sich beide Staaten nach der Rückkehr von Michelle Bachelet an die Macht am 11. März wieder einander annähern werden.

"Wenn schon ein Diktator wie (Chiles Augusto) Pinochet in den 1970er Jahren vorgeschlagen hat, Bolivien den Zugang zum Meer zu ermöglichen, besteht Hoffnung, dass eine demokratische und sozialistische Regierung im 21. Jahrhundert diesem Recht der Bolivianer zum Durchbruch verhilft", meinte er während eines Blitzbesuchs in Chile Ende des Monats.

Boliviens Vizepräsident war nach Santiago gekommen, um den Ehrendoktor der privaten Universität der Künste und Sozialwissenschaften in der Hauptstadt Santiago in Empfang zu nehmen. Wie er am Rande der Veranstaltung gegenüber IPS erklärte, ist Bolivien, was die Rechte der indigenen Völker angeht, regionaler Vorreiter. Abgesehen davon, dass das Land von einem Aymara-Indigenen geführt wird, erkennt die Verfassung von 2009 Bolivien als plurinationalen Staat an.

IPS: Ausgehend von der Erfahrung, die Bolivien mit einer indigenen Regierung gemacht hat - wie beurteilen Sie die Lage anderer indigener Völker Lateinamerikas, die ebenfalls ihre Rechte einfordern und vielleicht ebenso gern die politische Macht übernehmen würden?

Álvaro García Linera: In Bolivien ist es zu einem indigenen Erwachen gekommen. Keine Erfahrung wiederholt sich auf gleiche Weise, und es ist kaum zu erwarten, dass in anderen Ländern der Region das Gleiche geschehen wird. Doch die Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Gesellschaften plurinational sind, die Staaten hingegen nicht.

Es gibt eine soziale und kulturelle Diversität, eine mehr oder minder starke Präsenz indigener Völker. Doch der Staat verhält sich weiterhin monokulturell und - und bis zu einem gewissen Punkt - völkermordend. Bolivien hat allen anderen Ländern der Region die Erkenntnis voraus, das aber plurinationale Staaten eine Notwendigkeit sind.

IPS: Was kann das übrige Lateinamerika von Bolivien lernen?

García Linera: Zunächst einmal zeigt der Fall Bolivien, dass die Bewegung der Indigenen, die in unserem Land in der Mehrheit sind, das Soziale dem Machtpolitischen überordnet. Auch wenn in anderen Teilen der Region der indigenen Bewegung keine politische Führungsrolle zukommt, ergibt sich für Sektoren wie etwa dem Sozial-, Kultur-, Arbeitnehmer- und städtischen Bereich, die auf Gleichheit, Gerechtigkeit oder Anerkennung hinarbeiten, die zwingende Notwendigkeit, das Thema der sozialen und politischen Plurinationalität anzuerkennen. Das ist bisher noch nicht geschehen und eine Botschaft, die Bolivien mitzuteilen hat.

Die zweite Botschaft lautet: Das Volkstümliche, in seinen unterschiedlichen Ausprägungen, kann dem Staat und dem Land als Ausgangspunkt für Diskussionen dienen. Es ist durchaus möglich, sich die Führung eines Staates und die Definition seiner Ziele vom Volk, von der sozialen Organisation und von den Sozialbewegungen her denken zu lassen.

IPS: Welche Rolle kommt den Indigenen in Bolivien derzeit zu? Ist es ihnen, die in der Mehrheit sind, gelungen, eine entsprechende wirtschaftliche und politische Dominanz zu erreichen?

García Linera: Ja. Sie, die einst dominiert, diskriminiert und als minderwertig und unfähig betrachtet wurden, sind heute an der Regierung und an der Macht. Die indigene Logik und die indigenen Organisationsstrukturen, sich zu mobilisieren, zu diskutieren und Entscheidungen zu treffen, sind zentraler Teil der staatlichen Ausrichtung.

IPS: Was muss noch im Rahmen der von Morales geführten Kulturrevolution getan werden, um die Armut zu besiegen?

García Linera: Wir sind schon ganz gut vorangekommen. Die extreme Armut, die Menschen zwingt, mit weniger als einem US-Dollar am Tag auszukommen, belief sich noch vor acht Jahren auf 45 Prozent. Vier, fast fünf von zehn Indigenen waren betroffen. Doch inzwischen ist die extreme Armut auf 20 Prozent zurückgegangen. Auch wenn sie noch immer sehr hoch ist, konnte sie immerhin um 25 Prozentpunkte gesenkt werden. Das zeigt, wie wichtig es ist, die gemeinsamen Reichtümer für die Bekämpfung der historischen Ungleichheit und Armut auszugeben.

Es bleibt noch viel zu tun. Doch immerhin gestalten nun diejenigen sozialen Sektoren, die zuvor nicht von den öffentlichen Strategieplänen berücksichtigt worden waren - die Bauern- und die indigene Bewegung - unter Einbeziehung der anderen Sektoren die öffentliche Agenda.

Inzwischen werden fast die Hälfte die öffentlichen Ausgaben, den einst marginalisierten Kreisen des Landes bereitgestellt. Die Mittel, dem Staat zur Verfügung stehen, haben sich seit der Nationalisierung der Erdgas- und Ölreserven, die zuvor weitgehend auf Unternehmerkreisen konzentriert waren, fast verneunfacht.

Es findet eine zunehmende Potenzierung der indigenen und kleinbäuerlichen Wirtschaft sowie der vernachlässigten Stadtbevölkerungsgruppen statt, was zur Verbesserung der Lebensverhältnisse führt.

Bevor wir an die Macht kamen, lag das durchschnittliche Jahreseinkommen der Bolivianer bei 800 US-Dollar. Heute sind es 3.300 Dollar. Auch wenn dieser Betrag im regionalen Vergleich noch recht niedrig ist, hat er sich zumindest vervierfacht. Und wenn wir diesen Rhythmus von Stabilität und Wachstum beibehalten, werden sich 2020 die Realeinkommen der Bolivianer auf 12.000 Dollar hochschrauben. Damit läge das Land nicht mehr so krass wie zuvor unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt.

Und noch eine Zahl: Vor acht Jahren war Chile um das 13-Fache reicher als Bolivien. Die Kluft war riesig. Inzwischen ist der Abstand auf das Achtfache zurückgegangen. Sobald wir das Ende dieses Jahrzehnts erreichen, wird der Wohlstand Chiles nur noch vier Mal und 2025 nur noch doppelt so hoch sein wie unserer. Das heißt: Es lässt sich mehr Reichtum genieren und an die verteilen, die ihn am dringendsten brauchen, was vorher nicht der Fall war. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnoticias.net/2014/03/america-latina-es-plurinacional-y-sus-estados-etnocidas/

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IPS-Tagesdienst vom 31. März 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2014