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FRAGEN/020: Gespräch mit Jefim Berschin... Ukraine - Nationalismus - Russischer Maidan - Alternativen (Kai Ehlers)


Ukraine - Nationalismus - Russischer Maidan - Alternativen:

Kai Ehlers spricht mit dem russischen Dichter-Schriftsteller Jefim Berschin

Januar 2015



Jefim Berschin ist Schriftsteller, Dichter, Journalist, Autor verschiedener Bücher, u.a. des auf Tatsachen basierenden essayistischen Romans "Wüstes Land", das er auf der Grundlage seiner Erfahrungen als journalistischer Berichterstatter in den Unabhängigkeitskriegen in Prednestrowien, Aserbeidschan und in den Tschetschenienkriegen nach der Auflösung der Sowjetunion schrieb. Berschin ist zudem Dialogpartner von Kai Ehlers in dem Buch "Russland. Herzschlag einer Weltmacht", das der Frage nachgeht, was das Russische an Russland ist. Das vorliegende Gespräch wurde aktuell per Skype geführt.


Kai Ehlers: Die politische Situation zwischen Russland und dem Westen ist sehr gespannt. Wo siehst Du die Gründe für diese Entwicklung?

Jefim Berschin: Ich denke, dass die Entwicklung schon seit langem läuft. Sie steuert jetzt auf den Höhepunkt zu. Es ist die Wirtschaft, die heute herrschende Konsumethik, die auf den Höhepunkt zutreibt. Nichts kann ewig wachsen. Es gibt eine Grenze, hinter der mit Notwendigkeit eine Expansionsdynamik eintritt; da geht es dann darum neue Märkte, neue Territorien als Absatzmärkte zu gewinnen.

KE: Du willst sagen, dass der gegenwärtige Krisenprozess unausweichlich ist?

JB: Ja, in dem System, das wir heute sehen ist dieser Konflikt programmiert. Man muss entweder anhalten oder es beginnt die Aggression - aber bei Beibehaltung des Systems kann man nicht anhalten. Bei dem heutigen Wertesystem ist der Krieg unausweichlich. - Das heißt, unmissverständlich gesprochen, die Welt braucht neue Entwicklungsmodelle.

KE: Welche Rolle siehst Du für Russland in dieser Situation?

JB: Russland spielt darin eine zweitrangige Rolle. Warum? Weil die Marktwirtschaft, die Konsumwirtschaft in Russland noch jung ist, sie braucht noch keinen solchen großen Raum. Russland unterscheidet sich, was seinen wirtschaftlichen Weg, seine Entwicklung betrifft, nicht sehr von den westlichen Ländern. Es ist zurzeit nur noch etwas zurück.

Russland fordert immer wieder eine andere Weltordnung. Ich denke, dass Putin mit seiner Sicht des Multipolaren, die er kürzlich wieder auf dem Waldai-Forum vorstellte, so etwas wie ein Zeitfenster für Alternativen öffnen könnte. Eine multipolare Welt wäre selbst natürlich noch kein Wertewechsel, aber wenn sie zustande käme, könnte uns das die Chance öffnen, Alternativen zu entwickeln, vielleicht an dem großen Krieg soeben vorbei zu schrammen.

Ich denke, Putin sieht, dass ein anderer Typ von Entwicklung nötig ist. Aber er kann selbst nicht formulieren, wie dieser Weg konkret aussehen könnte. Er ist im Grunde selbst ein Neoliberaler. Alles, was er sonst noch sagt, dass Russland anders sei, dass man an Traditionen anknüpfen müsse und dergl., sind Schutzaussagen. Bei uns besteht überhaupt die ganze Regierung aus Liberalen. Sie agieren mit absoluten liberalen Methoden.

KE: Wir haben also heute die paradoxe Situation, dass der der Liberalismus weltweit in der Krise ist, aber in Russland gibt es sehr viele Liberale?

JB: So ist es, sehr viele. Bei uns verstehen viele Menschen sehr oft gar nicht, dass sie Liberale sind. Sie denken, sie seien keine Liberalen, sie beschimpfen die Liberalen und dabei begreifen sie nicht, dass sie auf dem wirtschaftlichen Gebiet selbst Liberale sind.

KE: Denkst Du, dass bei Euch ein Maidan möglich ist?

JB: Ich denke, nein. Ein Maidan kommt nicht von selbst. Ein Maidan muss vorbereitet werden. Für den Maidan wird großes Geld gebraucht, wird eine Ideologie, werden Organisatoren gebraucht und es braucht Kräfte, die auf den Maidan gehen, sehr starke Kräfte.

KE: Was das betrifft: Geld ist vorhanden, Menschen, die sich als Organisatoren betätigen wollen, gibt es auch. Putin ist als Feind ausgemacht. Alles ist da, also, was fehlt noch?

JB: Das ist zurzeit alles Fantasie. Putin ist erstens nicht Feind...

KE: ... aber bei uns wird er als Feind aufgebaut.

JB: Ja bei Euch ...! Aber der Westen hat bei seinem Versuch, Putin zu beseitigen, zwei große Fehler gemacht. Man hat zwei Dinge nicht begriffen: Erstens - unter der Tatsache, dass der Westen in die Ukraine gegangen ist, haben sehr viele unserer großen Geschäftsleute und sogar einige Oligarchen gelitten. Sie hatten gemeinsame Unternehmen mit der Ukraine, da waren große Gelder investiert, dieses Geld ist jetzt verloren. Das sind Milliarden von Dollars. Deshalb können diese Oligarchen Putin nicht stürzen. Putin ist für sie ein Beschützer. Er hilft ihnen. Das ist das Eine. Der zweite Fehler betrifft Fragen der Mentalität: Der Westen begreift nicht, dass Russland ein etwas anderes Land ist. Unsere Menschen spüren sehr genau, was Aggression ist. Wenn sie eine Aggression fühlen, dann schließen sie sich zusammen. Je größer die Aggression, umso stärker entwickelt sich der Widerstand dagegen.

KE: Das war so in der Geschichte...

JB: Das ist auch jetzt so. Natürlich wird das Leben bei uns in nächster Zeit schlechter werden, aber die Mehrheit der Menschen ist bereit das zu ertragen. Ihnen ist klar, dass die Unabhängigkeit des Landes teurer ist. Wenn Russland seine Unabhängigkeit verliert, dann wird es sich niemals normal entwickeln können.

KE: Könnte sich aus dieser Situation ein russischer Nationalismus entwickeln?

JB: Eine gewisse Gefährdung besteht. Aber schauen wir uns erst einmal an, was heute Nationalismus sein kann: Heute kann man nicht mehr von ethnischem Nationalismus sprechen. Klar, gibt es an verschiedenen Orten der Welt auch noch ethnischen Nationalismus. Zum Beispiel im Nahen Osten. Aber generell muss man heute eher von, sagen wir, einem Nationalismus der Zivilisationen sprechen.

KE: Erkläre mir, was Du darunter verstehst.

JB: Widersprüche zwischen verschiedenen Zivilisationen. Deshalb sehen wir auch in der Ukraine, wie dort auf beiden Seiten Menschen aus derselben Nationalität kämpfen, aber aus verschiedenen Zivilisationen. Russen kämpfen als Patrioten der Ukraine, Russen kämpfen auch im Donbass, Ukrainer kämpfen im Donbass....

KE: Ja, ein ziemliches Durcheinander. Wie unterscheiden sie sich?

JB: Sie unterscheiden sich - (lacht) - nun, äußerlich in gar nichts. Sie unterscheiden sich durch ihre zivilisatorischen, durch ihre kulturellen Sichtweisen. Wenn wir die Propaganda beiseitelassen, dann können wir sagen: der Unterschied liegt darin, dass große Gebiete der Ukraine Teil der Russischen Welt sind. Wodurch zeichnet sich die Russische Welt aus? Sie war nie eine nationale. Russland war nie ein Nationalstaat. Ethnischen Nationalismus hat es bei uns nicht gegeben und kann es auch nicht geben. Russland - das ist ein zivilisatorisch zu definierender Raum, in dem viele Völker miteinander leben. Die Menschen im Osten zeichnen sich dadurch aus, das sie in diesem Raum aufgewachsen sind. Die westliche Ukraine, ihre verschiedenen Teile waren dagegen immer wieder Bestandteil von Nationalstaaten. Die Menschen dort kennen nichts anderes. Sie verstehen es nicht, einfach so in einem Zivilisationsraum zu leben. Für sie gibt es nur den Nationalstaat.

KE: Aber auch in der Ukraine leben Menschen in verschiedenen Kulturen miteinander. Und das auch schon lange.

JB: Das ist wahr. Aber heute hat die Galizische Ideologie gesiegt. Das ist die Ideologie Galiziens, die nur den Nationalstaat kennt. Obwohl auch dort Menschen verschiedener Nationalitäten wohnen, sollen doch alle Ukrainer sein, Ukrainer im engen nationalen Verständnis, per Sprache, Riten usw. Für Russen ist absolut unverständlich, warum nicht eine zweite Sprache erlaubt sein soll. Warum nicht Russisch als zweite Sprache? Warum nicht auch Ungarisch?

KE: Was ist mit den Russen, die jetzt ins Land kamen, in den Osten, um dort zu wirken? Viele von ihnen waren doch eindeutig Nationalisten, voran Alexander Dugin [1] z.B., aber auch andere.

JB: Ich bin kein Freund Dugins, aber man muss klarstellen: Dugin ist kein Nationalist, er ist ein Ideologe eines All-Eurasischen Raumes. Das meint nicht Nation, auch nicht Ethnie, das meint den Raum, der die Völker verbindet, die im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, in Europa oder in Asien leben. Im Kern steht dahinter das Verständnis, dass alle Völker, die dort leben, auch in diesen Raum gehören.

KE: Und was ist mit den Völkern, die nicht dazu gehören?

JB: Man hat Dugin bei einer TV-Sendung dazu befragt. Er hat richtig geantwortet: Nicht zu diesem Raum gehören die Völker des mittleren Asiens und die baltischen Staaten, wie sie heute sind. Sie sind anders. Sie sind Fremde.

KE: Nun, lassen wir Dugin. Da gibt es noch einiges Dunkles zu klären, speziell sein Verhältnis zur nicht-russischen Welt, die er offenbar dominieren möchte. Wichtiger ist mir zu hören, worin sich Putin oder die Menschen, die Novorossia propagiert haben von Dugin unterscheiden. Bei uns werden sie alle über den nationalistischen Kamm geschoren.

JB: Putin ist natürlich nicht Nationalist; er ist Internationalist. Er ist russischer Patriot, Internationalist im Rahmen des Staates, in dem wir leben. Er ist, um es so zu sagen, kein russischer, sondern ein russländischer Patriot. Er kann gar nichts anderes sein. Er ist Präsident Russlands. Und in dieser Weise ist er Patriot. Anders in Kiew. Wenn die Führung in Kiew sich Patrioten nennt, dann glaube ich ihnen das nicht. Patrioten können ihr Land nicht abgeben wie eine Kolonie. Das haben die Kiewer aber getan. Die russische Führung kann so etwas nicht. Anfang der 90er hat es auch bei uns solche Versuche gegeben, da war Russland schon beinahe eine Kolonie. Aber da liegt genau der Grund für die heutigen Schwierigkeiten zwischen Russland und dem Westen, die nämlich daher kommen, dass Putin Russland aus dem Stadium der Kolonie befreit hat. Er hat sich darum bemüht, dass Land wieder in seine Unabhängigkeit zu führen. Ein unabhängiges Russland versteht man im Westen jedoch als Bedrohung, nicht militärisch, aber ökonomisch. Denn wenn sich Russland ruhig entwickelt, dieses riesige Land, wenn es sich normal entwickelt, wenn es seine eigene Wirtschaft aufbauen kann, dann wird es zu einem sehr starken Konkurrenten. Das können sie nicht gebrauchen.

KE: Würdest Du die Leute, die im Osten als Autoritäten auftraten, auch als Patrioten bezeichnen?

JB: In den Donbas kamen verschiedene Leute, sehr verschiedene, unter ihnen auch russische Nationalisten. Das stimmt. Unter ihnen aber auch einfache russländische Patrioten. Dorthin sind Menschen der verschiedensten Nationalitäten gegangen, Freiwillige, ich wiederhole: aus verschiedenen Nationalitäten. Unter ihnen auch Freiwillige aus Europa. Wie soll man die nennen? Nationalisten? Es kamen sowohl Tschechen, wie auch Slowaken; sogar Franzosen waren dort und Griechen, Serben und andere.

KE: Also wie muss man die Motive dieser Menschen dann verstehen?

JB: Noch einmal: sie sind sehr unterschiedlich. Sagen wir so: was für Menschen waren es in Spanien, die damals in den Dreißigern dorthin gingen?

KE: Du willst die Ukraine mit Spanien vergleichen?

JB: Ja, in einigen Aspekten kann man den Vergleich ziehen. In den Osten der Ukraine kamen Menschen, die mit einem neuen Faschismus kämpfen wollen. Solche Menschen kommen vor allem aus dem Westen. Und natürlich auch zum Teil aus Russland. Freiwillige.

KE: Aber man kann Poroschenko und Jazenjuk doch nicht einfach als Faschisten bezeichnen. Sie sind erklärte Neo-Liberale, die Faschisten benutzen. Das mag noch übler sein, weil es unter demokratischer Maske geschieht, aber man muss genau sein, denke ich.

JB: Das gilt wohl für Poroschenko, aber nicht für Jazenjuk. Jazenjuks kürzlich in Deutschland abgegebene Erklärung, russische Truppen seien Endes zweiten Weltkriegs in die Ukraine und nach Deutschland "eingefallen" macht deutlich, dass er in der Tendenz selbst nationalistisches, neofaschistisches Gedankengut vertritt. Der Hintergrund dazu ist: Er kommt aus der Galizischen Ideologie, über die wir sprachen. Damit gehört er zu den Kräften, die im zweiten Weltkrieg eine Niederlage erlitten: Eine Niederlage erlitt im zweiten Weltkrieg auch Deutschland; eine Niederlage erlitten die Truppen der westlichen ukrainischen Nationalisten, die Banderisten; eine Niederlage erlitt auch Rumänien; eine Niederlage erlitt Ungarn; eben alle die, die in der Hitler-Koalition waren. Jazenjuk spricht jetzt wie ein Mensch, der im Krieg eine Niederlage erlitt.

KE: Du willst sagen, er redet als Revanchist?

JB: Ja, und wichtig ist auch, dass er diese Worte nicht irgendwo sagte, sondern eben in Deutschland. Jazenjuk versteht sehr gut, dass Deutschland eine Niederlage erlitt, und er setzt darauf, dass es in Deutschland Kräfte gibt, die wie er selbst auf Revanche aus sind.

KE: Ein interessanter Gedanke, bemerkenswert, aber ...

JB: ... für Euch ist so etwas vielleicht neu, aber wir haben solche Dinge schon viele Male gehört. Man redet von solchen Dingen. Man hat sich eine neue Ideologie geschaffen. Viele Menschen in der Ukraine begreifen dabei nicht einmal, dass sie zu Neo-Nazisten geworden sind. Sie denken, das sei alles normal, sie denken, dass sie für eine richtige Sache einstünden. In diesem Sinne arbeitet die Propaganda heute derartig effektiv, dass sie die Menschen zu echten Idioten macht. Du hast mich nach dem Nationalismus in Russland gefragt. Ich befürchte sehr, dass Faschismus so ein Wahnsinn ist, der sich erheben könnte. Wenn er in der Ukraine möglich ist, dann kann er auf diese oder andere Weise auch zu uns kommen. Zurzeit ist das nicht so. Aber das kann sehr wohl sein. Und das ist natürlich gefährlich.

KE: Du meinst, dass Jazenjuks Ideologie im westlichen Teil der Ukraine und in Kiew allgemein verbreitet ist?

JB: Ich denke, ja. Das ist die aktuell dort herrschende Ideologie.

KE: Und was siehst du im östlichen Teil? Wie ist es dort?

JB: Im östlichen Teil hast Du eine vollkommen andere Ideologie. Im östlichen Teil leben die Menschen, die den zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Kannst Du Dir vorstellen, was mit denen geschieht, wenn sie etwas von einem Helden Bandera[2] oder Schuchewytsch[3] hören müssen? - Das sind ihre Feinde; das sind die Feinde, mit denen ihre Großväter, ihre Väter im Krieg gekämpft haben.

KE: Sie leben noch mit dem Patriotismus des vaterländischen Krieges.

JB: Das ist nicht nur Patriotismus. Ich werde oft gefragt, ob Russen die Deutschen heute für Feinde halten. Meine Antwort: Nein, natürlich nicht. Zu den Deutschen gibt es ein gutes Verhältnis. Warum? Weil es von Seiten Deutschlands keinen Versuch einer Revanche gab. Wenn man aber heute in Deutschland ein Denkmal für Hitler aufbauen würde, dann würden unsere Leute natürlich sehr nachdenklich...

KE: ...aber das ist heute nicht so...

JB: ...Gott sei Dank! Aber ich erkläre Dir, warum ich das sage: Weil man in der Ukraine dem ukrainischen Hitler, Bandera, bereits ein Denkmal errichtet hat.

KE: Hast Du Angst, ein neuer Faschismus könnte entstehen?

JB: Selbstverständlich, wie könnte ich keine Angst davor haben. Und das wäre eine neue Katastrophe. Ich fürchte, sie ist möglich. Für einen neuen Faschismus gibt es heute sehr gute Sponsoren. Auf jeden Fall schon mal bei den ukrainischen Faschisten. Sie haben sehr gute Unterstützer. Reiche. Aus dem Westen. Und im Land selbst läuft die Propaganda schon viele Jahre. Die Ideologie ukrainischer Unabhängigkeit ist ganz auf antirussischen Ressentiments aufgebaut. Ich kenne das. Ich habe mich ja oft in der Ukraine aufgehalten. Ich war im Jahr zwei, drei Mal dort. Ich kenne mich da gut aus. Ich habe dort TV geschaut, ich habe Zeitungen gelesen, ich habe verstanden, was sie da machen. Sie haben dort eine neue Generation in diesem Geiste erzogen, junge Leute, die nichts anderes kennen.

KE: Da ist also ein Riesenproblem herangewachsen. Was wird Russland tun?

JB: Es fällt mir schwer zu sagen, was Putin weiter tun wird. Zurzeit leben wir unter den Bedingungen von Sanktionen. Das Leben wird sich vermutlich verschlechtern. Ich weiß nicht in welchem Maßstab. Alles wird davon abhängen, wie schnell es gelingt, unsere eigene Wirtschaft aufzubauen. Die Ökonomen und Putin sagen, dafür sind zwei Jahre nötig...

KE: ...und die Bevölkerung bereitet sich darauf vor, wieder auf die Datscha zu gehen.

JB: Ja, da liegt die Lösung eines Grundproblems, das wir immer wieder haben: Man muss den Winter überleben. Wenn der Frühling kommt, kommt auch die Datscha. So war es immer. (lacht) In der schwersten Zeit als Jegor Gaidar[4] seine Reformen durchführte, hat selbst er das genau gewusst. Da gibt es eine hübsche Geschichte in den Erinnerungen von Tschubajs[5] über ihn. Tschubajs beschreibt ein Gespräch mit Gaidar: Als sie die Preise freigegeben hatten, als die Schocktherapie stattfand und sie im März 1993 miteinander sprachen, als die Situation sehr schlecht war, schreckliche Inflation usw., da stand Gaidar am Fenster, schaute lange hinaus. Sie hatten zuvor besprochen, dass die Krise jetzt auf dem Höhepunkt sei, wie es weiter gehen solle. Tschubajs meinte, dass sei jetzt vielleicht die Spitze. Da dreht sich Gaidar auf einmal um und sagt: 'Schau aus dem Fenster!' Tschubajs kommt. 'Nun was? Ich sehe nichts.' Aber Gaidar sagt: 'Verstehst Du nicht? Du siehst doch, dass der Schnee taut. Frühling!' 'Na und?' fragt Tschubajs. 'Das heißt', antwortet Gaidar, 'wir sind gerettet. Frühling, bald sind die Datschen wieder da.'

(Jefim Berschin und Kai Ehlers lachen beide befreit)

KE: Schöne Geschichte! Sie könnte schon das Ende unseres Gespräches sein. Aber da ist noch eine Frage. Welchen Ausweg siehst Du, wenn nicht Krieg?

JB: Was die Ukraine betrifft, so wird es da wohl weiter Krieg geben. Die gegenwärtige Regierung der Ukraine kann den Krieg nicht anhalten und sie will es nicht. Warum? Weil sie schon tausende Menschen getötet haben. Wenn sie heute mit den Führern von Donbas sprechen und einen Vertrag schließen, dann gibt es in Kiew einen neunen Umsturz. Dann kommen die Leute aus dem Osten mit der Frage zurück: Und wofür haben wir gekämpft?

KE: Die Jarosch-Leute, die Asow-Miliz und all die anderen...

JB: ...aber siegen können sie auch nicht. Das heißt - sie werden kämpfen. Aber lange können sie auch nicht kämpfen. Kiew hat ja jetzt schon eine volle Mobilisierung ausgerufen. Menschen dürfen schon ihre Städte nicht mehr verlassen. Alle Männer bis 60 Jahre hinauf, dürfen die Stadt ohne Erlaubnis der Militärbehörden nicht verlassen. Alle unterliegen der Mobilisierung. Die Menschen fliehen. Ich habe mit einem Freund aus der Dnjester-Republik gesprochen; das ist ja gleich nebenan. Er erzählt, dass dort viele Männer ankommen, die aus der Ukraine dorthin fliehen, um nicht eingezogen zu werden. In Moldawien ebenso. Wer es schafft, flieht auch nach Russland. Viele sind schon nach Russland geflüchtet. Wenn das so weitergeht, wird die Ukraine bald ganz ohne eigene Armee sein. Und das Land ohne ihre Bewohner. Man vernichtet physisch die eigene Bevölkerung. Putin hat gerade erklärt, dass das Gesetz, das den Aufenthalt von Ukrainern in unserem Land auf drei Monate begrenzt, ab sofort aufgehoben ist. Sie mögen kommen und sich hier aufhalten, sagte Putin. Weil sie nur als Kanonenfutter eingezogen werden. Besser sie leben bei uns.

KE: Bei uns heißt es, Putin heize die Unruhen im Osten an, um die Ukraine unter Druck zu halten und auf dem Weg das russische Imperium zu restaurieren.

JB: Wofür? Für Putin war vorher alles gut. Die Fabriken, die Anlagen arbeiteten. Man arbeitete zusammen. Nichts anderes brauchten unsere Industriebetriebe. Sie sprachen mit allen Präsidenten, sogar mit Juschtschenko. Die Fabriken arbeiteten für beide Seiten, mehr wollte niemand, und dass die Arbeitsverträge, die Verabredungen eingehalten würden. Alles andere hat Russland nicht interessiert. Man hätte sich vielleicht sogar mehr kümmern müssen, denke ich. Aber jetzt ist es zu spät. Jetzt ist der Osten, die ganze Ukraine für Russland nur noch eine Belastung. Russland braucht Ruhe für seine Entwicklung. Ganz anders die Amerikaner: Es ist ja für niemanden ein Geheimnis, dass im Generalstab der ukrainischen Armee heute die Amerikaner das Kommando haben. Sie laufen offen herum, sie kommandieren ganz offen. Das Kiewer TV zeigte Aufnahmen, ich betone: das Kiewer TV!, wie ein amerikanischer General ins Hospital geht, dort die Verwundeten besucht, ihnen dort irgendwelche Orden verleiht, ihnen versichert, wir werden noch siegen. So etwas zeigen sie bei sich im TV. Es gibt auch schon ukrainische Gefangene, die nur English sprechen können.

KE: Man könnte denken, dass dies alles auch für die USA keinen Sinn macht - ein zerrütteter Staat, ein verwüstetes Land, vertriebene Menschen...

JB: Das macht schon Sinn! Sie wollen das Ukrainische Fracking. Dafür braucht man nicht viele Menschen. Wenn ein paar Ukrainer übrigbleiben, reicht das, die können in den Gruben arbeiten. Das ist das Eine. Das zweite, das globale Ziel ist natürlich die Schwächung Russlands. Russland soll sich nicht entwickeln dürfen. Auch für die, die mit Russland kooperiert haben, gehen die Verluste schon in die Milliarden.

KE: Neuerlich ist die Rede von einer Verbindung zwischen der Eurasischen Union und der Europäischen Union als möglicher Lösung des Konfliktes. Unsere Kanzlerin Merkel stellt Russland eine Freihandelszone von Wladiwostok bis Lissabon in Aussicht...

JB: Was für ein Klugchen! Das hat Putin schon vor Jahren vorgeschlagen, schon 2001 bei seinem ersten Besuch in Deutschland. Und was haben sie ihm geantwortet? Nichts! Stattdessen Erweiterungspolitik der EU. Dabei könnte man diese Probleme doch sofort entscheiden. Mit Israel z.B. hat Russland soeben problemlos eine Zollfreie Zone gebildet. Aber es hängt natürlich alles davon ab, zu welchen Bedingungen das geschähe.

KE: Natürlich, müsste Russland zuvor das Minsker Abkommen erfüllen, sagt Merkel.

JB: Ach, ja. Klar! (lacht) Aber es geht natürlich nicht nur um die Minsker Vereinbarungen. Es geht darum, dass es einen solchen offenen Zoll-Raum nur dann geben wird, wenn Russland zustimmt, nach den Bedingungen der Europäischen Union zu arbeiten. Aber Russland wird diesen Bedingungen nicht zustimmen. Jeder versteht, dass Russland dann eine große Kolonie der Europäischen Union würde.

KE: Boliviens Präsident Morales hat Russland eingeladen, der Gruppe 77+China beizutreten. Das könnte doch ein Ausweg aus der gegenwärtigen Klemme für Russland sein, oder?

JB: Die Union gibt es ja schon. Es gibt ja schon die gemeinsame Bank. Diese Bank haben Russland, Indien, Brasilien, China und Südafrika ja schon gegründet. Das einzige Problem besteht darin, dass diese Union zurzeit arm ist. Aber sie könnte das Fenster sein, von dem Du sprichst, um zukünftige Alternativen zu entwickeln. Damit kehren wir jetzt zum Kern zurück, nämlich, dass wir einen anderen Weg der Entwicklung der Menschheit brauchen.

KE: Ja, ich verstehe den Konflikt in der Ukraine so, dass Menschen dort einen solchen anderen Weg fordern, manche haben das formuliert, viele vielleicht auch ohne es genau artikulieren zu können: Ein Leben ohne Oligarchen, selbstbestimmt, autonom. Die Antwort der heute herrschenden Kräfte, in der Ukraine und bei ihren Unterstützern, ist aber auch klar erkennbar: Sie wollen dieses Aufbegehren niederschlagen.

JB: Ja, anfangs gab es diese Gedanken. Aber dann hat man das alles in Richtung des Nazismus gedreht.

KE: So ist es Jefim. Was werden wir tun?

JB: In der gegebenen Situation kann ich nichts mehr vorschlagen. Der Krieg findet schon statt. Man kann nur versuchen, den Menschen irgendwie zu erklären: Gut wird es nur, wenn der Krieg aufhört. Sofort. Schnellstens. Wenn er sich auswächst zu einem allgemeinen europäischen Krieg, dann wird es furchtbar. Das wird es eine totale Katastrophe.


Kai Ehlers ist Osteuropa-Experte, Autor und Journalist.

Dazu das Buch:
Kai Ehlers, Russland - Herzschlag einer Weltmacht.


Anmerkungen:

[1] Alexander Dugin, Geopolitiker mit weitreichendem Einfluss in nationalistischen Kreisen. Hier im Westen zurzeit als Idol eurokritischer Rechter im Gespräch.

[2] Stepan Banderea, ukrainischer Nationalist. Die Einordnung von Banderas Wirken und seiner Person ist in der heutigen Ukraine sehr umstritten. Während er vor allem im Westen des Landes von vielen Ukrainern als Nationalheld verehrt wird, gilt er in der Ostukraine, aber auch in Polen, Russland und Israel überwiegend als Nazi-Kollaborateur und Verbrecher. (nach Wiki)

[3] Roamn Schuchewytsch, Offizier der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA). Ebenfalls heute eine sehr umstrittene Figur. Im Jahre 2007 wurde ihm vom damals amtierenden Präsidenten Wiktor Juschtschenko posthum der Orden "Held der Ukraine" verliehen. Diese Auszeichnung wurde ihm am 21. April 2010 von einem Gericht in Donezk als unrechtmäßig wieder aberkannt. (nach Wiki)

[4] Jegor Gaidar, erster Premierminister unter Boris Jelzin. Er leitete die Schocktherapie der Privatisierung ein.

[5] Anatoly Tschubajs, nationaler Privatisierungsbeauftragter unter Gaidar

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Quelle:
© 2015 by Kai Ehlers
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2015


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