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GRIECHENLAND/002: Die Krise des Parlamentarismus in Griechenland (spw)


spw - Ausgabe 6/2011 - Heft 187
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Die Krise des Parlamentarismus in Griechenland

Von Gregor Kritidis


Historische Brüche lassen sich häufig erst im Nachhinein in ihrer Bedeutung erfassen. Die Revolte in Griechenland im Dezember 2008 gehört zu derartigen Ereignissen; sie markiert den politisch-moralischen Zusammenbruch der nach dem Sturz der Diktatur 1974 etablierten sozialen und politischen Ordnung und die Stunde der Wahrheit für die hochfliegenden Wunschträume der neoliberalen "Modernisierer". Im Mainstream der europäischen Presse war insbesondere die ehemals sozialistische PASOK als Kraft der Erneuerung gefeiert worden, die aus Griechenland die "seriöse Hellas AG" gemacht habe.(1) Große Investitionen in die Infrastruktur, niedrige Löhne und umfassend deregulierte Arbeitsverhältnisse sollten die Grundlage für ein dauerhaftes ökonomisches Wachstum bilden. Wachstumsraten von über vier Prozent jährlich verdeckten dabei die zunehmenden sozialen und ökonomischen Widersprüche sowohl innerhalb Griechenlands als auch in der Eurozone. Im Dezember 2008 offenbarte sich die faule Grundlage der ökonomischen Expansion. Die griechische Regierung schlug daraufhin den Weg ein, der sich historisch immer wieder bewährt hat: Sie leistete den Offenbarungseid und suchte Rückendeckung bei starken Partnern im Ausland.

Im Mai 2010 unterzeichnete die Regierung Papandreou, getrieben von den Ereignissen und unter massivem Druck der EU, einen Kreditvertrag über 80 Mrd. Euro mit den Ländern der Eurozone (30 Mrd. steuerte zudem der IWF bei), zu dessen Bestandteilen das in Griechenland mittlerweile berüchtigte "Memorandum" gehört. Eine Beteiligung des Parlaments - die griechische Verfassung sieht für die Ratifizierung derart weitreichender internationaler Verträge eine 3/5 Mehrheit vor - fand nicht statt, stattdessen wurde mit einfacher Mehrheit ein Gesetz verabschiedet, wonach die Verträge ab ihrer Unterzeichnung gültig sind. Selbst Abgeordnete und Funktionäre der seinerzeit allein regierenden PASOK reden mittlerweile von einem Staatsstreich, mit dem in Griechenland die bürgerlichen Eliten, die Troika, bestehend aus: Vertretern der EU, der EZB und des IWF, sowie durch die von dem Deutschen Horst Reichenbach geleitete "Task-Force" faktisch die Macht übernommen und eine drakonische Austerity-Politik umgesetzt haben.(2) Mit der Beteiligung der faschistischen LAOS an der von dem Banker Lukas Papadimos geleiteten Regierungskoalition hat diese moderne Form der Diktatur seit November 2011 an Kenntlichkeit gewonnen.

Mit dem Vertragswerk wird der Regierung in Athen genau vorgeschrieben, in welchem Zeitraum welche Maßnahme zu treffen ist. Praktisch alle Gesetze, seien sie steuer-, struktur- oder ordnungspolitischer Natur, sind von der Troika vorgegeben. Ob Eingriffe in die Tarifautonomie, die Zusammenlegung von Kommunen oder Sondersteuern aller Art - es gibt quasi für alle Bereiche staatlicher Tätigkeit ein Durchgriffsrecht aus Brüssel. Ganz Griechenland mitsamt allen mobilen und immobilen Sachwerten ist zudem praktisch verpfändet. Es ist auch nicht möglich, Verträge mit Dritten einzugehen - ganz offensichtlich eine Klausel, die Verträge mit chinesischen Investoren, die sich bereits vor Ausbruch der offenen Krise große Anteile der Häfen von Saloniki und Piräus gesichert haben, ausschließen soll. Zudem gibt es keine Möglichkeit, die Kreditverträge nachträglich zu modifizieren oder juristisch anzufechten. Sie unterliegen auch nicht etwa EU-Recht, wie man annehmen sollte. Grundlage ist vielmehr das britische Recht, das die Position des Gläubigers besonders stärkt. Der Staatsrechtler Ciorgos Kassimatis, der in den 1980er Jahren die griechische Regierung juristisch beraten hat, spricht in diesem Zusammenhang von einer "Aufhebung der Verfassung" sowie einer "Abtretung von Souveränitätsrechten".(3) Die parlamentarische Demokratie ist kaum mehr eine Attrappe, hinter der sich der autoritäre Maßnahmestaat formiert.

Dagegen hat sich erheblicher Widerstand formiert, der vor allem von den Parteien der parlamentarischen Linken, den Gewerkschaften und zahlreichen kleineren Organisationen getragen wird.(4) Eine wichtige Rolle spielt dabei die Forderung, die Staatsschulden von einer unabhängigen, international besetzten Kommission auf ihre Legitimität hin untersuchen zu lassen. Als Grundlage dazu fungiert das Konzept der "illegitimen Schulden"; dabei handelt es sich u.a. um solche Schulden, die staatliche Funktionsträger im Zusammenhang mit Formen der Vorteilsnahme zu Lasten der Bevölkerung aufgenommen haben. Als Vorbild dient insbesondere Ecuador, das 2008 nach einem Schulden-Audit 70 Prozent der Staatsschulden zu illegitimen Schulden erklärt und nicht zurückgezahlt hat.

Die Brisanz dieser Initiative liegt in den Ursachen der griechischen Schuldenmisere begründet. Neben einer im internationalen Vergleich äußerst niedrigen Steuerquote - die griechische Oberschicht zahlt praktisch keine Steuern und verfügt nach Schätzungen allein in der Schweiz über Guthaben in Höhe rund 200 Mrd. Euro (5) - waren die zahlreichen Infrastrukturprojekte mit Korruption zu Lasten der griechischen Bürger verbunden. Exemplarisch dafür ist der Bau des Athener Flughafens sowie der Ausbau der Autobahn Athen - Saloniki. In beiden Fällen ist der Baukonzern Hochtief nicht nur am Bau beteiligt gewesen, sondern gehört auch zu den Anteilseignern der Betreibergesellschaft. Im Falle der Siemens-AG, die an zahlreichen Projekten beteiligt war, ist es zu Bestechungen in großem Umfang gekommen. Siemens hat Presseberichten zufolge die beiden großen Parteien mit Summen zwischen 100 und 150 Mio. Euro geschmiert. Im Bewusstsein der Bevölkerung ist Siemens ein Sinnbild für Korruption der politischen und ökonomischen Eliten geworden.

Ein weiteres Beispiel ist der exorbitante Rüstungshaushalt in Höhe von 4 Prozent des BIP, das entspricht etwa 10 Mrd. Euro pro Jahr. Beschafft wurden unter anderem französische Fregatten sowie U-Boote und Panzer aus Deutschland. Die damit einhergehende Korruption ist, insbesondere was den ehemaligen Verteidigungsminister Akis Tsochatsopoulos betrifft, mittlerweile aktenkundig. Nach Aussagen von Daniel Cohn-Bendit im Europaparlament haben die französische und die deutsche Regierung die finanziellen Zusagen der EU davon abhängig gemacht, dass die griechische Regierung die laufenden Aufträge nicht storniert. Gegenwärtig findet eine Auseinandersetzung zwischen der deutschen und der französischen Seite über die geplanten Lieferungen statt.(6)

Die Forderung nach einer Untersuchung der griechischen Staatsschulden unabhängig vom Parlament und der Justiz birgt also eine erhebliche Sprengkraft in sich, zielt sie doch auf den Zusammenhang von internationaler Kreditvergabe, öffentlichen Ausgaben und Korruption der politischen Klasse. Dies umso mehr, als mit den Kreditverträgen vom Mai 2010 eine nahtlose Fortsetzung und Radikalisierung der bisherigen politischen Linie vollzogen wurde. Durch das Programm der Troika wurde die griechische Ökonomie in eine tiefe Rezession getrieben und die Schuldenkrise weiter verschärft.

Ende Mai 2011 kam es nach arabischem Vorbild zu Massenprotesten, welche Regierungschef Papandreou Mitte Juni zum Rücktritt zwangen. Durch die Interventionen aus Berlin und Paris wurde er jedoch im Amt gehalten. Wenige Monate später befand sich die PASOK am Rande des Zerfalls, während die konservative Opposition nur widerstrebend ins Lager der "Troika" wechselte. Die im November gebildete Koalitionsregierung der "nationalen Rettung" kann sich einerseits auf eine große Zahl von Abgeordneten stützen. Andererseits zeigt der Umstand, dass die faschistische LAOS des bekennenden Rassisten und Antisemiten Giorgos Karatsaferis Teil der neuen Regierung ist, wie labil die politische Position der bürgerlichen Parteien geworden ist. Es ist dabei nicht nur das Athener Establishment, das demokratische Willensbildungsprozesse fürchtet. Auch die Verbündeten in der EU schrecken davor zurück. Das dokumentierten die hysterischen Reaktionen auf den taktischen Vorschlag Papandreous, ein Referendum über die Sparprogramme abzuhalten. Folglich wurde und wird alles unternommen, um die nächsten Wahlen möglichst weit in die Zukunft zu verschieben oder auch ganz zu suspendieren.(7)

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Einsicht, dass die gegenwärtige Regierung nicht abgewählt, sondern nur gestürzt werden kann, innerhalb der sozialen Bewegung an Boden. Es waren die großen Mobilisierungen, welche die bisherigen Formen der Machtausübung zersetzt und das Regime gezwungen haben, sich zu den bisher verschleierten Formen ökonomischen Autoritarismus auch politisch zu bekennen. Die Mittel der autoritären Konsensbildung schwinden jedoch dahin, je weiter die Dynamik der Krise voranschreitet. Im Frühsommer 2011 ist mit der Besetzung des Syntagma-Platzes in Athen eine demokratische Entwicklung von unten in Gang gesetzt worden, die auf Dauer schwerlich unterdrückt werden kann.

Dr. Gregor Kritidis ist Sozialwissenschaftler, Mitherausgeber des Online-Magazins "Sozialistische Positionen" (www.sopos.org) und Sekretär der Loccumer Initiatiative Kritischer WissenschaftlerInnen.



ANMERKUNGEN

(1) Süddeutsche Zeitung v. 8/9.4.2000.

(2) Hans Joachim Fuchtel, parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, soll jetzt im Auftrag der Regierung Merkel mit der Verteilung von 15 Mrd. Euro aus Mitteln der EU an griechische Kommunen der Troika den notwendigen politischen Unterbau organisieren.

(3) Giorgos Kassimatis, Oi paranomes symbaseis daneismou tis elladas. (Die rechtswidrigen Kreditverträge Griechenlands). Athina 2011.

(4) Vgl. Die Demokratie in Griechenland zwischen Ende und Wiedergeburt. http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/ DocumentServlet?id=26825

(5) FTD v.18.10.2011.

(6) Kathimerini v. 18.10.2011.

(7) Ein Terminvorschlag sieht die Zeit des Karnevals vor und ist daher kaum ernst gemeint.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2011, Heft 187, Seite 32-34
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2012