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IRLAND/004: "Ein Irland - keine Grenzen" - Interview mit Gerry Adams (Info Nordirland/Baskenland)


Info Nordirland / Baskenland - 20. September 2011

"Ein Irland - keine Grenzen"

Der Wiederaufbau der kollabierten irischen Wirtschaft im Süden und der Aufbau im Norden lassen sich nur gemeinsam lösen.

Ein Gespräch mit Gerry Adams geführt von Uschi Grandel


Gerry Adams ist seit 1983 Präsident der irischen Linkspartei Sinn Féin und derzeit Abgeordneter des Dáil, des Parlaments der Republik Irland. Er gehört seit Anfang der 70er Jahre zu den führenden Persönlichkeiten der Irisch-Republikanischen Bewegung und ist einer der Architekten des irischen Friedensprozesses.

U. Grandel: Können Sie uns die zentralen Werte erläutern, die Sie als irischer Republikaner und Sinn Féin Mitglied vertreten?

G. Adams: Der irische Republikanismus ist historisch gesehen eine europäische politische Bewegung. Von der französischen Revolution beeinflusst, basiert er auf Werten wie Bürgerbeteiligung, Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit. Eine moderne Fassung des Republikanismus ist die Deklaration der irischen Republik im Jahre 1916. In ihr geht es darum, dass alle Menschen Rechte haben und Staat und Gesellschaft dementsprechend organisiert werden müssen.

U. Grandel: Damit die Menschen sich sicher fühlen können?

G. Adams: Genau. Es geht um die Gemeinschaft. Damit alltägliche Sorgen nicht der Entfaltung menschlicher Würde im Wege stehen.

U. Grandel: Kann sich die von der Finanzkrise gebeutelte Republik Irland unter dem Euro-Rettungsschirm sicher fühlen?

G. Adams: Überhaupt nicht. Ich sehe keinen Vorteil darin, unsere Finanzhoheit abzugeben. Irland wurde von den Engländern kolonialisiert. Der Kampf dagegen dauerte Jahrhunderte. Mit Verlaub, ich möchte nicht englische Herrschaft gegen deutsche oder französische Herrschaft eintauschen. Auf gleichberechtigter Basis können wir zusammenarbeiten.

U. Grandel: Wie kann Irland seine gegenwärtigen Schwierigkeiten überwinden?

G. Adams: Die jetzige Strategie funktioniert nicht und führt die irische Volkswirtschaft noch tiefer in die Krise. Die EZB fordert jedes Jahr 3 Milliarden Euro für toxische Banken. Ich kann darin keinen ökonomischen Sinn erkennen und auch keine Moral. Der IWF verlangt, dass wir unser Staatseigentum veräußern und Ausgaben kürzen. Auch das wird der irischen Bevölkerung nicht helfen.

Es gibt 6 Millionen Iren, davon 4,5 Millionen in der Republik Irland. Eine halbe Million Menschen hat dort keine Arbeit, viele junge Leute wandern aus. Wachstum ist nötig. Deshalb würden wir das Geld nicht in Banken stecken, sondern in Schulinfrastruktur, Breitbandkommunikation und Krankenhäuser. Das reduziert Defizite in diesen Sektoren und belebt die Bauindustrie.

Die Ökonomie muß den Menschen dienen. Dazu müssen wir Arbeitsplätze schaffen und erhalten. Für Deutschland ist das vielleicht eine kleine Zahl, aber in Waterford haben 575 Menschen kürzlich ihren Arbeitsplatz verloren und das ist ein großer Verlust für die Region.

U. Grandel: Wie beurteilen Sie die ökonomische Situation in Nordirland?

G. Adams: Die britische Regierung hat derzeit noch die Finanzhoheit im Norden Irlands. Wir wollen, dass diese Macht an die nordirische Regionalregierung in Belfast übertragen wird. Diese Position unterstützen alle in der nordirischen Regierung vertretenen Parteien, auch die Unionisten. Die britische Regierung hat Kürzungen angekündigt, das verschärft noch einmal die vorhandenen Probleme.

Es ist eine schräge Betrachtung, aber wir hatten in Nordirland nie einen "keltischen Tiger", einen wirtschaftlichen Aufschwung wie in der Republik Irland. Während der Jahre des keltischen Tigers wuchs der Reichtum im Süden Irlands enorm. Nicht für jeden, der keltische Tiger besuchte nicht alle, aber die Menschen arbeiteten sehr hart und hofften auf eine Chance. Wir argumentierten damals, dass der große Reichtum in nachhaltige Arbeitsplätze und öffentliche Dienstleistung investiert werden sollte, damit wir am Ende wenigstens etwas davon haben. Jetzt ist alles in Gefahr. Im Norden gibt es diese Enttäuschung nicht. Der Friedensprozess hat die Stimmung der Menschen gehoben. Wir haben es geschafft, den Konflikt zu überwinden, auch wenn viel zu tun bleibt.

Wir brauchen auf dieser kleinen Insel nun einen gemeinsamen Wachstumsprozess. Es muss ein gemeinsamer Prozess sein, weil es geradezu lächerlich ist, zwei getrennte Sektoren für Energie, Tourismus, Gesundheit, Industrie, Landwirtschaft und alle anderen Gebiete zu haben. Im nordirischen Friedensabkommen ist eine irlandweite Kooperation festgelegt, die in Zukunft verstärkt in allen Bereichen praktiziert werden wird.

U. Grandel: Das Motto ihres letzten Parteitags war aber "Für eine neue Republik" und nicht "Für ein vereinigtes Irland".

G. Adams: Es gibt keine Republik ohne die Vereinigung Irlands. Aber es hat sich als Ergebnis des Kollapses der Ökonomie im Süden und der Entwicklung neuer politischer Verhältnisse im Norden eine neue Diskussion mit Vertretern des Unionismus (für eine politische Union mit Großbritannien, fast ausschließlich protestantisch) entwickelt. Sie haben Reverent David Latimer Rede vor dem Sinn Féin Ard Fheis (Parteitag) gehört. Er ist Unionist und ganz sicher keiner unserer Unterstützer. Aber er hat seinen Standpunkt vertreten, wie wir uns als Gesellschaft entwickeln sollten. Diese Diskussion ist im Gange und bietet uns eine gute Möglichkeit, für eine neue Republik zu argumentieren.

Die Wurzeln des irischen Republikanismus reichen 200 Jahre zurück, als in Belfast ein Bündnis, das zumeist aus Protestanten bestand, sich für katholische Gleichberechtigung einsetzte. Es gab diese Art gemeinsamer Arbeit. Deshalb glaube ich, dass solche Argumente auf fruchtbaren Boden bei denjenigen fallen, die langsam beginnen, sich mit all diesen Themen auseinanderzusetzen. Das alte System der Dominanz hat nicht funktioniert, und war auch nicht mehr haltbar, nachdem die Menschen sich von ihren Knien erhoben haben. Und ich denke, dass mehr und mehr Unionisten sich aus alten Zwängen befreien.

U. Grandel: Was sind die drängenden Aufgaben, die im Friedensprozess zu lösen sind?

G. Adams: Wir brauchen einen Wachstumsprozess. Das ist von zentraler Bedeutung, weil wir eine ökonomische Dividende brauchen. Frieden ist wichtig, aber Frieden ist in seinem Kern Gerechtigkeit. Wir müssen sicher sein, dass unsere jungen Leute Arbeit finden, unabhängig von ihrem Hintergrund, dass sie Zugang zu Bildung erhalten und ihre Talente einbringen können. Die Plage des Sectarianism muß bekämpft werden.

U. Grandel: Könnten Sie für die deutschen Leser den Begriff "Sectarianism" erklären? Im Deutschen gibt es hierfür keine einfache Übersetzung.

G. Adams: Sectarianism ist der Cousin des Rassismus und er heißt "teile und herrsche". In anderen Ländern der Welt wird er von den imperialen Mächten benutzt, um Menschen auf der Grundlage von Rasse oder Hautfarbe zu spalten. In Irland war die Mehrheit der Menschen zufällig katholisch. Die Kolonisatoren benutzten die Religion, um die Menschen zu spalten. Das muss beendet werden. Wir müssen außerdem grundlegende Bürgerrechte gesetzlich festschreiben und eine gesetzliche Basis für die irische Sprache schaffen.

U. Grandel: Sie sind auch Schriftsteller und haben etliche Bücher geschrieben. Ist ein neues in Arbeit?

G. Adams: Ja, ich arbeite gerade gemeinsam mit einer Photographin an einem Buch namens "Ein Irland - keine Grenzen".

U. Grandel: Go raibh maith agath, Gerry! Vielen Dank für das Interview.


Eine gekürzte Version des Interviews mit dem Schwerpunkt wirtschaftliche Situation veröffentlichte die Junge Welt am 19. September 2011 unter dem Titel »Die jetzige Strategie führt uns noch tiefer in die Krise«:
http://www.jungewelt.de/2011/09-19/049.php

Die englischsprachige Version wird in Kürze auf Info Nordirland veröffentlicht.


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Quelle:
Info Nordirland / Baskenland
c/o Dr. Uschi Grandel
Holzhaussiedlung 15, 84069 Schierling
Telefon: 0049.(0)9451.949859
E-Mail: info@info-nordirland.de
Internet: www.info-nordirland.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2011