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LATEINAMERIKA/1143: Chile - Mapuche auch weiterhin ausgegrenzt, Gesetzesänderungen statt Dialog (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. September 2010

Chile: Mapuche auch weiterhin ausgegrenzt - Gesetzesänderungen statt Dialog

Von Daniela Estrada


Santiago, 16. September (IPS) - Um den Konflikt mit den Mapuche im Süden des Landes zu beenden und 34 indigene Häftlinge zur Aufgabe ihres mehr als zweimonatigen Hungerstreiks zu bewegen, treibt die chilenische Regierung Gesetzesreformen voran. Experten zufolge geht das 'Friedensangebot' jedoch nicht weit genug. Sie fordern konstruktive Gespräche und das Eingeständnis, das der Konflikt mit der rund eine Million Mitglieder zählenden Volksgruppe politische Wurzeln hat.

Die ersten der jetzt 34 Mapuche-Häftlinge traten am 12. Juli in den Hungerstreik. Sie waren auf der Grundlage eines Anti-Terror-Gesetzes aus der Zeit der Diktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Brandstiftung, illegaler Landnahmen und anderer Delikte zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden.

Die Anwendung des Anti-Terror-Gesetzes erlaubt Richtern, besonders hohe Strafen zu verhängen und die Rechte von Angeklagten erheblich einzuschränken. Geheime Ermittlungen gegen die Betroffenen sind ebenso erlaubt, wie ein ausgedehnter Zeugenschutz und der lange Verbleib in Untersuchungs- oder Präventivhaft.


Sorge um reibungslose 200-Jahrfeier

Nachdem der Hungerstreik zunächst von den Massenmedien praktisch ignoriert worden war, wird ihm nun offenbar aus zwei Gründen mehr Aufmerksamkeit zuteil. Zum einen hat der Hungerstreik bereits zahlreiche internationale Reaktionen hervorgerufen. Zum anderen wird befürchtet, dass es während der Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit am 18. und 19. September zu Todesfällen kommen könnte.

Um den Konflikt zu lösen, hat der rechtsgerichtete Staatspräsident Sebastián Piñera dem Parlament in diesem Monat zwei Vorschläge für die Reform des Anti-Terror-Gesetzes und der Militärgesetzgebung vorgelegt. So sollen Militärgerichte künftig nicht mehr für Zivilisten zuständig sein, wie dies der Interamerikanische Gerichtshof bereits seit 2005 vergeblich gefordert hat. Das Anti-Terror-Gesetz soll dahingehend verändert werden, dass es auf einige Straftaten, die den Hungerstreikenden zur Last gelegt werden, nicht mehr angewandt werden darf, was eine Strafmilderung für die Häftlinge zur Folge hätte.

Bei den anberaumten Reformen handele es sich um "lange aufgeschobene Verpflichtungen des Staates", moniert jedoch José Araya, Koordinator der zivilgesellschaftlichen Organisation 'Observatorio Ciudadano'. "Die Forderungen der Mapuche betreffen nicht nur sie selbst. Sie spiegeln vielmehr eine Problematik der gesamten chilenischen Zivilgesellschaft wider." Sollten sie erfüllt werden, würde die gesamte chilenische Gesellschaft profitieren, ist er überzeugt.


Forderung nach Abschaffung des Anti-Terror-Gesetzes

Trotz dramatischer Gewichtsverluste und der Gefährdung ihrer Gesundheit wollen die Mapuche ihren Hungerstreik so lange fortführen, bis ihre Bedingungen erfüllt werden: die Abschaffung des Anti-Terror-Gesetz, der Beginn eines Dialog sowie die Einrichtung einer Kommission, die die Einhaltung erzielter Kompromisse kontrolliert.

"Die Abschaffung des Anti-Terror-Gesetzes ist die Voraussetzung für Verhandlungen, die das Problem auf der politischen und nicht auf der rechtlichen Ebene lösen können", meint der Historiker Igor Goicovic von der staatlichen Universität in Santiago. Goicovic war einer der Initiatoren einer Erklärung zugunsten der Mapuche, die von 180 Historikern aus aller Welt unterzeichnet wurde.

In Chile gebe es einen 400 Jahre alten politischen Konflikt, der lange vor den Diskussionen um die inhaftierten Mapuche begonnen habe, so der Wissenschaftler. "Die 'Kriminalisierung' des Protests der Mapuche durch eine antiterroristische Gesetzgebung" sei keine Lösung des Problems.


Heißes Eisen blieb liegen

Auch Angehörige des konservativ bis links orientierten oppositionellen Parteienbündnisses 'Concertación de Partidos por la Democracia' beklagen den fehlenden Dialog zwischen Mapuche und Staat. Doch gerade dieses Bündnis, das Chile seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 regierte, hatte das Anti-Terror-Gesetz ohne wenn und aber zur Anwendung gebracht. Die gewaltbereiten Mapuche wurden als kleine Minderheit innerhalb dieses indigenen Volkes betrachtet und die überdurchschnittlich hohe Armut als Ursache für die Gewalt im Süden des Landes angeführt, wo die Mehrheit der indigenen Volksgruppe lebt.

Piñera und andere Regierungsvertreter riefen die hungerstreikenden Mapuche Anfang September auf, ihren Protest zu beenden. Sie sicherten zu, dass die Gesetzesreformen schnellstmöglich in beiden Kammern des Parlaments diskutiert würden - direkte Gespräche mit den protestierenden Häftlingen lehnen sie jedoch ab. Die Vermittlungsgespräche überließen sie verschiedenen Kirchen und zivilgesellschaftlichen Akteuren.


Mapuche wollen mehr Land zurück

Viele Mapuche-Gemeinschaften im Süden Chiles fordern das Land zurück, das ihnen der Staat Ende des 19. Jahrhunderts weggenommen hatte. Heute befinden sich die umstritenen Gebiete mehrheitlich im Besitz privater Holzunternehmen. Die Mapuche halten die seit 1994 zurückgegebenen 660.000 Hektar Land für unzureichend. Einige Indigenen-Organisationen fordern außerdem kollektive und kulturelle Rechte ein, die ihnen ein gewisses Maß an Autonomie gewähren.

Bisher sind drei Mitglieder der ethnischen Gemeinschaft bei Landbesetzungen durch Polizeigewalt ums Leben gekommen, zwei von ihnen während der Regierungszeit der Sozialisten unter Michelle Bachelet (2006-2010).

Alfredo Seguel von der Mapuche-Arbeitsgruppe für kollektive Rechte ist der Ansicht, dass die Regierung Bachelet eine Reihe von Gelegenheiten wie den 15. September 2008 ungenutzt verstreichen ließ, um mit den Mapuche in einen nachhaltigen Dialog zu treten. An jenem Tag hat Chile die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifiziert, die die Rechte indigener Völker festschreibt.

Araya wirft sowohl der Piñera- als auch der Vorgängerregierung vor, im Konflikt mit den Indigenen an einem neoliberalen Wirtschaftskurs festzuhalten, aus Angst, dass eine Rückgage der strittigen Territorien die Entwicklung des Landes hemmen werde. "Die Rückgabe von Land", so der Menschenrechtsbeobachter, "wird nicht ohne den Widerstand der Forstunternehmen vor sich gehen". (Ende/IPS/beh/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2010