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LATEINAMERIKA/1213: Haiti - Schnelle Hilfe nach dem Beben, doch Mangel an Flexibilität lähmt Wiederaufbau (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. Januar 2011

Haiti: Schnelle Hilfe nach dem Beben - Doch Mangel an Flexibilität lähmt Wiederaufbau


Rio de Janeiro, 11. Januar (IPS) - Nach dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010 konnte Haiti auf schnelle und wirksame Hilfe aus dem Ausland zählen. Doch kommt der Wiederaufbau nur schleppend voran. Experten machen dafür einen Mangel an Flexibilität verantwortlich, der einer effektiven Zusammenarbeit zwischen internationalen Organisationen und lokalen Behörden im Wege stehe.

Ruben Cesar Fernandes, der Geschäftsführer der seit 2004 in Haiti tätigen Hilfsorganisation 'Via Rio', zieht ein Jahr nach dem verheerenden Beben vom 12. Januar eine ernüchternde Bilanz. Er mahnte institutionelle Reformen in den internationalen Organisationen an, damit Hilfsmaßnahmen zügig umgesetzt werden könnten. Der Dialog zwischen den politischen Entscheidungsträgern des Karibikstaats und den Koordinatoren internationaler Hilfsaktionen sei abgerissen, erklärte Fernandes.

Internationalen Finanzinstitutionen wie Weltbank und Interamerikanischer Entwicklungsbank warf Fernandes vor, "nicht darauf vorbereitet" zu sein, auf die Bedürfnisse von rund 1,3 Millionen Obdachlosen in der zerstörten haitianischen Städten einzugehen. Erschwerend kommt hinzu, dass mindestens zwei Drittel aller Erwerbsfähigen im Land arbeitslos oder unterbeschäftigt seien.

Wie Fernandes beklagte, wurde unter anderem das Zentrum von Port-au-Prince bislang nicht wieder aufgebaut. Das Projekt sei bereits vor 20 Jahren entworfen worden und beinhalte "interessante städteplanerische Ideen". Mehrere Zehntausend Menschen, die durch das Beben der Stärke 7 obdachlos geworden seien, müssten weiterhin in Lagern am Rand der Stadt leben, die bald zu riesigen Slums würden.


Kritik an langwierigen administrativen Verfahren

Der brasilianische Experte nannte es außerdem "absurd", dass bei allen mit Wiederaufbaugeldern finanzierten Projekten technische Evaluierungen und Umweltverträglichkeitsstudien und notwendig seien. Seiner Ansicht nach verfügen die internationalen Organisationen, die die langfristige Entwicklung im Blick haben, nicht über die richtigen Mechanismen für dringende Nothilfe.

Benito Baranda von der nichtstaatlichen Stiftung für ein solidarisches Amerika sagte IPS, dass auch die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen durch einen Mangel an Koordination beeinträchtigt worden sei. Er machte dafür das "Chaos" in den staatlichen Strukturen verantwortlich. Die lokalen Behörden hätten große Schwierigkeiten, Maßnahmen miteinander in Einklang zu bringen.

Barandas Stiftung hilft Haiti seit 1999 und entsendet seit 2003 Ärzte, Krankenschwestern und andere Fachleute in den Karibikstaat. Nach dem Erdbeben verstärkte die NGO ihre Hilfe, nachdem sie fast eine Million US-Dollar gesammelt hatte. Zurzeit engagieren sich die Helfer in einer Kampagne gegen die Cholera, an der seit dem vergangenen Oktober etwa 3.700 Menschen gestorben sind.

Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zum Wiederaufbau ist die unklare politische Lage seit den Wahlen am 28. November. Eine Beobachtermission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zählt die Stimmzettel erneut aus. Ende Februar soll eine Stichwahl stattfinden, obwohl die Amtszeit von Präsident René Préval bereits am 7. des Monats endet.


Mehr Geld erst nach Einsetzung der neuen Regierung

Mehrere internationale Organisationen hätten ihre Hilfen bis zum Antritt der neuen Regierung ausgesetzt, sagte Baranda. Erst dann werde wirklich Geld für den Wiederaufbau fließen. Im vergangenen März hatten Geber elf Milliarden Dollar für den Wiederaufbau zugesagt. Der Plan "sieht gut aus, muss aber noch von der neuen haitianischen Regierung angenommen werden", erklärte er. Außerdem müsse sich auch die Bevölkerung für den Plan einsetzen, um sein Scheitern zu verhindern.

Fernandes hält in dieser Lage vor allem "Flexibilität" für notwendig. Das staatliche brasilianische Agrarforschungsinstitut EMBRAPA habe wichtiges Know-How für die landwirtschaftliche Entwicklung in Haiti bereitgestellt, sagte der Sozialaktivist. Das Institut könnte aber noch mehr leisten, wenn es mit zwischengeschalteten Institutionen in Verbindung stünde.

'Viva Rio' ist seit 2007 an einem Programm zur Sanierung des Armenviertels Bel Air und seiner Umgebung beteiligt. Etwa 130.000 Einwohner von Port-au-Prince haben bisher von diesen Anstrengungen profitieren können.


Umstrittene Präsenz von UN-Truppen

Die weitere Präsenz der UN-Stabilisierungsmission in Haiti (MINUSTAH) sieht Fernandes für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung als unerlässlich, auch wenn die haitianische Polizei inzwischen effizienter geworden sei.

Anderer Ansicht ist der brasilianische Diplomat Richard Seitenfus, der bis vor kurzem die OAS in Haiti vertrat. Vor wenigen Wochen wurde er von seinem Posten abgezogen, nachdem er sich gegen den Verbleib der UN-Mission im Land ausgesprochen hatte. Haiti "ist keine internationale Bedrohung" und "nicht in einen Bürgerkrieg verwickelt", hatte er in einem Interview mit der Schweizer Zeitung 'Le Temps' erklärt. Der internationalen Gemeinschaft warf Seitenfus vor, nicht aus den Fehlern vor dem Erdbeben gelernt zu haben. Es seien weiterhin Soldaten entsandt worden. "Die Haitianer sind damit Gefangene auf ihrer eigenen Insel geworden."

Der haitianische Agronom André Yves Cribb teilt diese Haltung: Haiti brauche "weniger Soldaten und dafür mehr Ingenieure, Ärzte und Techniker". Die UN und die Geberstaaten müssten sich dafür einsetzen, gut ausgebildete Haitianer aus dem Ausland wieder in ihre Heimat zu holen und ihnen dort Arbeit zu sichern. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.vivario.org.br/publique/cgi/cgilua.exe/sys/start.htm?tpl=home
http://www.cirh.ht/sites/ihrc/en/Pages/default.aspx
http://www.un.org/en/peacekeeping/missions/minustah
http://www.americasolidaria.org//
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=97294

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 11. Januar 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2011