Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

LATEINAMERIKA/1246: Kuba - Rege Beteiligung an öffentlichen Anhörungen zu Wirtschaftsreformkurs (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. März 2011

Kuba: Rege Beteiligung an öffentlichen Anhörungen zu Wirtschaftsreformkurs

Von Dalia Acosta und Ivet González


Havanna, 11. März IPS) - In Kuba haben sich im Vorfeld des sechsten Parteitages der Kommunistischen Partei (PCC) Millionen Bürger an den öffentlichen Anhörungen über den künftigen wirtschaftlichen und sozialen Reformkurs des sozialistischen Inselstaates beteiligt.

Den Teilnehmern ging es in erster Linie um Fragen, die ihr Leben unmittelbar betreffen, etwa die Zukunft der 'libretas', den in den 1960er Jahren eingeführten Bezugskarten für rationierte und Lebensmittel zu Vorzugspreisen, oder die drohenden Massenentlassungen in Staatsbetrieben.

Nach Angaben der offiziellen Tageszeitung 'Granma' wurden während der Anhörungen 619.387 Vorschläge, Anregungen und Kritikpunkte gesammelt. Wie Marino Murillo Jorge, Vizepräsident des kubanischen Ministerrats, bekannt gab, hatten bis zum 7. Februar mehr als sieben Millionen Kubaner an den von der Partei einberufenen Sitzungen teilgenommen, um die 'Richtlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partei und der Revolution' zu diskutieren, das zentrale Dokument des bevorstehenden PCC-Parteitags.

Der seit 2002 mehrmals verschobene Kongress wird Staatpräsident Raúl Castro zufolge die Vorschläge der Bürger bei der Annahme des Dokuments berücksichtigen. Viele Kubaner hatten zunächst erstaunt auf die Ankündigung Castros vom letzten Jahr reagiert. In Expertenkreisen wird es allerdings als folgerichtig betrachtet, dass die Regierung schwerpunktmäßig über den künftigen ökonomischen Kurs beraten will. "Die Wirtschaft ist das Fundament, auf dem alles ruht", sagte ein Wissenschaftler, der ungenannt bleiben wollte.

Beobachter sehen es an der Zeit, dass die Regierung die bisherigen improvisierten Wirtschaftsmaßnahmen zu einer klar definierten Strategie weiterentwickelt. Unter die Epoche des real existierenden Sozialismus, in der Kuba Seite an Seite mit den Verbündeten des Ostblocks stand, müsse endlich ein Schlussstrich gezogen werden, hieß es. Stattdessen sollten die gegenwärtigen Bedürfnisse des Landes berücksichtigt werden.

Gemäß den PCC-Richtlinien sollen die Staatsunternehmen nach wie vor der tragende Pfeiler der Wirtschaft bleiben. Andererseits sollen aber auch gemischte Kapitalgesellschaften und Kooperativen zulässig sein. Der Staat will zudem Bauern das Recht geben, brachliegendes Land zu nutzen. Kubaner dürfen zudem Wohnraum vermieten und als Selbstständige arbeiten. Ziel sei es, "die Effizienz der sozialen Arbeit zu steigern", geht aus dem Papier hervor.


Sorge um die 'libretas'

Mariela Castro Expín, eine Tochter von Staatspräsident Raúl Castro und der verstorbenen Frauenaktivistin Vilma Espín, hält die Umgestaltung der kubanischen Wirtschaft in Krisenzeiten für ein äußerst schwieriges Unterfangen. Angesichts der für die Bevölkerung prekären Lage könnten Subventionen nicht von heute auf morgen abgeschafft werden, warnte die Leiterin des Nationalen Zentrums für Sexualerziehung.

"Ausschlaggebend für eine demokratische Gesellschaft ist die Bürgerbeteiligung", sagte Castro Espín. "Die Tatsache, dass diesem Aspekt (durch die Anhörungen) die Bedeutung beigemessen wird, die er verdient, erfüllt mich mit der Hoffnung, dass wir einen Weg einschlagen, der dem Sozialismus näher kommt, wie ich ihn verstehe."

"Wir sind es nicht gewohnt, tiefgehende Diskussionen zu führen. Wir sind es eher gewohnt, Anweisungen zu folgen", meinte hingegen der Essayist Fernando Martínez Heredia in Anspielung an eine weit verbreitete Kritik, der Mangel an Eigenständigkeit vieler Kubaner stehe dem politischen Wandel im Wege. Als positiv bewertete Martínez Heredia jedoch eine Rede des Staatspräsidenten vom Dezember. Darin hatte Castro von einem erhöhten Diskussionsbedarf und der Notwendigkeit gesprochen, dass die Verantwortlichen im Lande ihren Verpflichtungen nachkommen müssten.

Der Mangel an bürgerlicher Partizipation und Kontrolle gilt als historischer Schwachpunkt des kubanischen Politikmodells. Jetzt stellt er nach Ansicht von Analysten das größte Hindernis für den Transformationsprozess dar. Denn der größte Widerstand gegen das neue Wirtschaftsmodell kommt aus den personell aufgeblähten Staatsbetrieben, in denen die Beschäftigten nun um ihre bislang sicheren Arbeitsplätze fürchten.


Vorschläge aus dem Web

Die Diskussionen der letzten Monate über den neuen Wirtschaftskurs beschränkte sich jedoch nicht nur auf die von der PCC organisierten Anhörungen. Vertreter der Zivilgesellschaft nutzten inoffizielle Kanäle wie Internet, Blogs, soziale Netzwerke und vor allem E-Mails, um ihre Vorstellungen eines künftigen Kubas zu unterbreiten.

Bürgerinitiativen wie die Schwarzenvereinigung 'Cofradía de la Negritud' und das 'Red Protagónica Observatorio Crítico', ein Netzwerk, das sich für Sozial- und Kulturprojekte engagiert, forderten in Online-Foren, bei der Festlegung des politischen Fahrplans auch Fragen wie Rassismus, Gleichberechtigung, Klimaschutz und freien Informationszugang zu berücksichtigen.

In einem Leitartikel der katholischen Online-Zeitschrift 'Espacio Laical' der erzbischöflichen Diözese von Havanna hieß es, dass Kuba in der jüngsten Vergangenheit eine zunehmende Diversifizierung ihrer sozialen Identitäten erfahren habe. Dieser Entwicklung sei eine große Vielfalt von Vorschlägen zu verdanken, die durchaus dem Dialog und Konsens förderliche Gemeinsamkeiten enthielten. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehöre der Wunsch nach größeren Freiheiten und Rechten. (Ende/IPS/kb/ck/2010)


Links:
http://www.cubadebate.cu/wp-content/uploads/2010/11/proyecto-lineamientos-pcc.pdf
http://www.cenesex.sld.cu/
http://espaciolaical.org/
http://www.ipsnoticias.net/print.asp?idnews=97744

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 11. März 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2011