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LATEINAMERIKA/1435: Venezuela - Dekret zur Kontrolle von Informationen unter Beschuss (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Oktober 2013

Venezuela: Dekret zur Kontrolle von Informationen unter Beschuss

von Humberto Márquez



Caracas, 21. Oktober (IPS) - Ein neuer Erlass der venezolanischen Regierung lässt bei Politikwissenschaftlern, Historikern und Menschenrechtsorganisationen die Alarmglocken schrillen. Denn das Dekret zur Kontrolle von Informationen und 'Aktivitäten in- und ausländischer Feinde' greift auf Konzepte einer Doktrin der nationalen Sicherheit zurück, die den Militärdiktaturen in den 1970er und 1980er Jahren zur Rechtfertigung ihrer Menschenrechtsverletzungen diente.

Präsident Nicolás Maduro verfügte mittels dieses Dekrets die Einrichtung eines 'Strategiezentrums für die Sicherheit und den Schutz des Vaterlandes' (CESPPA), das relevante Informationen über vermeintlich feindliche Aktivitäten im In- und Ausland einfordern, sammeln und auswerten darf, ohne dass die dafür erforderlichen verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind.

Öffentliche und private Institutionen sind demnach dazu verpflichtet, CESPPA sämtliche "von der militärisch-politischen Führung der Boliviarischen Revolution angeforderten Informationen" zu liefern. Die neue Behörde ist ferner berechtigt, Informationen, Entwicklungen oder Umstände, die ihr im Verlauf ihrer Arbeit zur Kenntnis gelangen, geheim zu halten und/oder als geheim zu klassifizieren.

Maduro hat Generalmajor Gustavo González López zum ersten CESPPA-Chef ernannt. González López ist ein ehemaliger Kommandant der Bolivarischen Miliz, die der ehemalige Staatspräsident Hugo Chávez (1999-2013) zur Unterstützung der Armee, Marine, Luftwaffe und Nationalgarde geschaffen hatte.


Jeder ziviler Kontrolle enthoben

Der Zensur- und Geheimdienstcharakter der neuen Behörde hat innerhalb und außerhalb Venezuelas Erinnerungen an die in den 1970er und 1980er Jahren vorherrschende Sicherheitsdoktrin wachgerufen. "Es ist höchst alarmierend, dass CESPPA keinerlei bürgerlicher oder institutioneller Kontrolle etwa durch das Parlament unterliegt", warnte der argentinische Politikwissenschaftler Andrés Serbin.

"Unter dem Deckmantel dieser Doktrin haben Militärs an der Spitze rechter Diktaturen ihre politischen Feinde zu inländischen Feinden erklärt und sie über Jahrzehnte hinweg in etlichen Ländern ermordet, verschleppt und gefoltert", sagte Serbin, der der 1982 in Managua gegründeten und in Buenos Aires ansässigen Regionalen Koordinationsstelle für wissenschaftliche und soziale Forschung vorsitzt.

Fransisco Leal, Politologieprofessor an der kolumbianischen Andenuniversität, ist gleichermaßen beunruhigt. "Die damalige Sicherheitsdoktrin fußt auf der Idee, dass die staatliche Sicherheit Garant der gesellschaftlichen Sicherheit ist und deshalb der militärischen Kontrolle unterstehen muss", erläuterte er. "Auch konnte der externe Feind schnell durch einen internen Feind ausgetauscht werden."

Die Doktrin war wiederum Teil der US-Strategie, die Ausbreitung des Kommunismus auf dem amerikanischen Kontinent nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu verhindern, wie Edgar Velásquez, Historiker der kolumbianischen Cauca-Universtität, 2004 in einem Beitrag für die Zeitschrift Lateinamerikanische Studien der kolumbianischen Universität von Nariño schrieb.

Mittels dieser Doktrin sei es Washington unter anderem gelungen, seine Vormachtstellung über die lateinamerikanischen Länder zu konsolidieren, den Streitkräften besondere Aufgaben zuzuweisen und in lateinamerikanischen Ländern einem rechten politischen Gedankengut den Weg zu bereiten, betonte Velásquez. Charakteristisch für diese Entwicklung sei die Ausbildung von Militärs und Polizisten an der als 'Schmiede lateinamerikanischer Menschenrechtsverletzer' verrufenen US-Militärakademie 'Escuela de las Américas' 1946 in Panama gewesen.


Militarisierung ziviler Bereiche

Die Demokratisierungswelle in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in der Region habe diese Doktrin in Frage gestellt. Doch seien die Streitkräfte keiner tiefgreifenden Reform unterzogen worden, so der Wissenschaftler. Unter dem erneuten Einfluss Washingtons seien ihnen in mehreren Ländern Aufgaben der inneren Sicherheit zugewiesen worden. "Diesmal hießen die Feinde Drogenhandel und organisiertes Verbrechen."

Doch dieser Weg ist gefährlich, hat er der Doktrin der nationalen Sicherheit im lateinamerikanischen Kontext auf eine unterschwellige und unsichtbare Art neues Leben eingehaucht, wie aus einem Essay über die Auswirkungen des regionalen Strafrechts hervorgeht. Verfasser war der Jurist Mario Zamora, der inzwischen Sicherheitsminister von Costa Rica ist. Venezuela gehörte nicht zu diesem Kreis der Länder und wird seit 1999 von links orientierten Regierungen geführt, die seit Chávez einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts anstreben.

Die Gründung von CESPPA ist im Zusammenhang mit wiederholten Regierungsberichten über mutmaßliche Sabotageakte gegen die Stromversorgungssysteme und die Wirtschaft des Landes zu sehen. Am 30. September verwies Präsident Maduro drei US-Diplomaten des Landes, denen er vorwarf, zusammen mit der "extremen Rechten" hinter diesen Vorfällen zu stecken.

Sprecher der Regierung und der regierenden Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) hüllen sich seit der Veröffentlichung des umstrittenen Dekrets am 7. Oktober in Schweigen. IPS hat sich vergeblich um Stellungnahmen von PSUV-Abgeordneten bemüht, unter ihnen auch zwei Mitgliedern der Kommission für Volksmacht und Kommunikationsmedien. Diese gaben an, sich zunächst eingehender mit dem Dekret befassen zu wollen.


Bürger zu Denunzianten

Nach Ansicht von Rocío San Miguel, Leiterin der Nichtregierungsorganisation 'Bürgerliche Kontrolle für Sicherheit, Verteidigung und Streitkräfte', zielt die neue Organisation unter anderem darauf ab, "einzelne Bürger zu Spürhunden und Denunzianten" zu machen. "Institutionen und Personen sind verpflichtet, Informationen jeder Art weiterzugeben, die von der CESPPA angefordert werden", erklärte sie gegenüber IPS. "Und das Dekret berücksichtigt keinerlei Verfassungsvorgaben wie etwa die Tatsache, dass Bestimmungen über die Klassifizierung offizieller Dokumente einer gesetzlichen Grundlage bedürfen."

Die Allianz für die Meinungsfreiheit, der Journalistenvereinigungen und zivilgesellschaftliche Organisationen angehören, hat die unverzügliche Rücknahme des Dekrets verlangt, das "allen Verfassungsrechten auf Information und Zensurverbote zuwiderläuft". (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.cries.org/
http://ceilat.udenar.edu.co/wp-content/uploads/2011/01/revista-14-15.pdf#page=74
http://espaciopublico.org/
http://www.ipsnews.net/2013/10/cold-war-logic-takes-root-in-venezuela/
http://www.ipsnoticias.net/2013/10/logica-de-la-guerra-fria-se-afianza-en-venezuela/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. Oktober 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2013