Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → AUSLAND


LATEINAMERIKA/1929: Nach der Wahl in Bolivien (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Nach der Wahl in Bolivien

Von Thomas Guthmann


(La Paz, 8. November 2019, npl) - "Ich habe dreimal Evo Morales gewählt", erklärte mir eine Bekannte kurz nach der Wahl in einem mondänen Café im reichen Süden von La Paz und seufzte: "Dieses Mal ging es wirklich nicht mehr, aber Carlos Mesa konnte man eigentlich auch nicht wählen". Das Statement bringt das ganze Dilemma derjenigen zum Ausdruck, die in der Präsidentschaftswahl gerne Kandidat*innen gesehen hätten, die sich mit Vorschlägen einbringen, wie sie das Land gestalten wollten. Stattdessen wurde seit Anfang des Jahres in Bolivien vor allem darüber gestritten, wer ein legitimer Kandidat für die Wahlen sei. Dabei lastete Evo Morales ganz klar der Makel an, dass er in einem Referendum 2016 kein Mandat für eine weitere Wiederwahl erhalten hatte. Eine knappe Mehrheit stimmte damals gegen eine Verfassungsänderung. Damit blieb die Amtszeit eines Präsidenten oder eine Präsidentin auf zwei direkte Wahlperioden beschränkt. Auf der anderen Seite warf die regierende MAS, die Bewegung zum Sozialismus, Carlos Mesa vor, ein Kandidat der Vergangenheit zu sein. Dieser war bereits unter Sánchez de Lozada Vizepräsident. Nachdem dieser 2003 wegen anhaltender Unruhen fluchtartig das Land verlassen musste, war Mesa Präsident bis 2005.

Dabei hätte es eigentlich genügend Wahlkampfthemen gegeben. Die erschreckend hohe Zahl der Frauenmorde, Fragen der Wirtschaftspolitik, Bildungspolitik oder Umweltschutz. Denn viele Projekte des Wandels, für den die MAS einstehen wollte, sind seit geraumer Zeit ins Stocken geraten. In der Umweltpolitik erlebte Bolivien im August ein Disaster. Nachdem die Regierung zur Ausdehnung der Landwirtschaft begrenzte Brandrodung erlaubte, brannten knapp vier Millionen Hektar Wald im Department Santa Cruz ab, weil die Feuer außer Kontrolle gerieten. Anstatt hier Akzente zu setzen und damit beim Wahlvolk zu punkten, blieb es jedoch weitgehend bei Personalfragen. Der Wirtschaftswissenschaftler Huáscar Salazar beschrieb die Situation im Wahlkampf als eine, in der programmatisch beide Seiten "ein Programm verfolgen, dass die Ausweitung des extraktivistischen Wirtschaftsmodells vorsieht". Während die thematischen Unterschiede gering seien, würde die Debatte durch formale Gegensätze aufgeladen, "bei denen der eine die Notwendigkeit unterstreicht, den 'Prozess des Wandels' fortzuführen, und der andere die 'Wiedererlangung der Demokratie' fordert". Da auch die Medien keine inhaltliche Wahlberichterstattung verlangten, plätscherte der Wahlkampf, abgesehen von einigen kleineren Zwischenfällen, so vor sich hin. Morales und die MAS versuchten staatstragend, jedes störende Rauschen zu vermeiden und die wichtigsten Kandidaten der Opposition, Carlos Mesa und Oscar Ortíz beharkten sich gegenseitig. Lediglich Chi Hyun Chung, Kandidat der Christlich Demokratischen Partei PDC und evangelikaler Pastor, machte durch sexistische und homophobe Aussagen inhaltlich von sich reden.


Opposition sprach schon vor der Wahl von Betrug

Letztlich kam ein Wahlergebnis heraus, das im Rahmen des Erwartbaren lag. Evo Morales verlor massiv an Stimmen, blieb dennoch mit Abstand Wahlsieger, der zweitplatzierte Carlos Mesa schnitt etwas stärker ab als erwartet. Auf dem dritten Platz landete als Überraschungskandidat Chi Hyun Chung, der durch sein strikt konservatives, antifeministisches und homophobes Familienbild den Kandidaten der Cruzeños, Oscar Ortíz, auf den vierten Platz verwies. Da es bei der Auszählung der Stimmen am Wahlabend des 20. Oktober zu Unstimmigkeiten kam - zunächst lag Carlos Mesa nur sieben Punkte hinter Evo Morales, am nächsten Tag waren es mehr als zehn Prozentpunkte - akzeptierte die Opposition das Ergebnis nicht. Bereits vor den Wahlen hatte die Opposition eine reguläre Durchführung der Wahlen angezweifelt und verkündet, es würde ein Wahlbetrug organisiert. Am Montag, 21. Oktober kam es im Süden des Landes, in Potosí, Sucre und Tarija zu heftigen Ausschreitungen. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Büros der Wahlbehörde in Brand gesetzt.

In Santa Cruz rief die Opposition zu einer unbefristeten Blockade auf. Seitdem ist die Wirtschaftsmetropole des Landes paralysiert. Auch im Süden des Landes gibt es Blockaden und Proteste. In anderen Regionen, wie dem Regierungssitz La Paz, gibt es zwar Proteste, diese haben bisher jedoch nicht die gleiche Kraft entfaltet. Hier kommt es bisher nur partiell zu Störungen des öffentlichen Lebens, vor allem wegen Demonstrationen nahe des Regierungspalastes. In El Alto, der zweitgrößten Stadt, die indigen geprägt ist, verläuft das Leben weitgehend normal. Im Panorama der Proteste spiegelt sich die Spaltung des Landes wider, die sich bereits in den Wahlergebnissen zeigte.


Morales hat sich von der Bevölkerung entfernt

"Man kann den Verschleiß von Evo Morales und seine Entfernung von der Bevölkerung nicht mehr leugnen", meint der Journalist Julio Prado und ergänzt: "Er kam an die Macht, weil er einmal Teil der einfachen Leute war. Aber in den letzten fünf Jahren hat er keinen Kontakt mehr zu den Leuten." In der Tat haben sich Regierung und Präsident in der vergangenen Regierungsperiode weiter von einer Regierung mit Beteiligung der sozialen und indigenen Bewegungen entfernt und immer mehr mit traditionellen Methoden des Machterhalts regiert. Bereits 2011 hatte die Regierung im Streit um den Bau einer Überlandstraße im indigenen Gebiet TIPNIS den Bruch des Einheitspakts indigener Organisationen in Kauf genommen und danach bei verschiedenen Gelegenheiten die Strategie der Spaltung sozialer Bewegungen nach dem Motto 'teile und herrsche' betrieben. Es handelt sich hier um eine Rückkehr der paternalistischen Republik, in der klientelistische Strukturen und Loyalitätsverhältnisse eine wichtigere Rolle spielen, als themenorientierte Politik. Unter diesen Bedingungen ist eine Polarisierung entstanden, die, so Salazar, "die Kämpfe, wie den Widerstand gegen den Extraktivismus, tendenziell unsichtbar macht."

Das Regieren basiert schon seit längerer Zeit auf einem extraktivistischen Wirtschaftsmodell. Forderungen wie die Autonomie indigener Gebiete, der Schutz von Mutter Erde, einer alternativen wirtschaftlichen Entwicklung oder der Bildungsreform, wurden weitgehend ins Reich der Sonntagsreden verwiesen. Für Gabriel Villalba, junger Anwalt aus La Paz und MAS-Anhänger, ist diese Politik notwendig. "Es ist blauäugig zu glauben, dass ein alternatives Wirtschaftsmodell ohne eine Entwicklung möglich ist. Zuerst müssen wir die Wirtschaft mit der Ausbeutung der Ressourcen entwickeln, und dann können wir über Alternativen nachdenken. Wir haben in den vergangenen Jahren große Erfolge erzielt." Die MAS setzte im Wahlkampf von Anfang an darauf, dass die gute Wirtschaftslage ausreichen würde, um die Wähler*innen zu überzeugen, dass es gut sei, weitere fünf Jahre mit der MAS zu leben. Bis zum 20. Oktober schien diese Strategie aufzugehen.


Morales' Macht wackelt

Anfang November ist das Bild ein anderes. Das Land erlebt heftige Auseinandersetzungen und es ist alles andere als sicher, ob Morales auch die nächsten fünf Jahre an der Macht bleibt. Im Moment zählen Experten*innen der OAS die Stimmen aufgrund der Wahlbetrugsvorwürfe erneut aus. Das Ergebnis wird in den kommenden Tagen erwartet*. Die Opposition hat jedoch bereits angekündigt, dass sie das Ergebnis nur dann anerkennt, wenn die OAS einen Wahlbetrug feststellt und die Wahl annulliert. Zudem werden seit einigen Tagen die Stimmen immer lauter, die einen sofortigen Rücktritt von Evo Morales fordern. Das zeigt, dass in der Opposition immer mehr radikale Kräfte die Oberhand gewinnen. Inzwischen hat Fernando Camacho, Vorsitzender des Bürgerkomitees von Santa Cruz, den Präsidentschaftskandidaten Carlos Mesa als Oppositionsführer in der öffentlichen Erscheinung abgelöst. Der frühere Vorsitzende der Jugendvereinigung Santa Cruz (Unión Juvenil Cruceñista), einer paramilitärisch organisierten ultrarechten Gruppe, die zu Beginn der Regierung von Morales mit rassistischen Aktionen gegen Indígenas auf sich aufmerksam machte, redet bei den Versammlungen gerne mit der Bibel in der Hand. Er hat inzwischen offen zum Sturz der Regierung aufgerufen und gebärdet sich als bolivianischer Guiadó. Im Gegensatz zu Mesa kann Camacho jedoch noch weniger im Hochland punkten, damit hat sich die Spaltung auch regional verfestigt.

Die MAS schart derweil ihre Anhänger*innen um sich. Das sind vor allem die sozialen Organisationen, die seit Jahren im Bündnis mit der Regierung stehen, wie die Frauenorganisation Bartolina Sisa, die nationale Koordination für den Wandel (CONALCAM) oder den Gewerkschaftsverband COB. Das Problem dabei: die Politik der vergangenen Jahre und die Strategie der Spaltung hat die Loyalitätsverhältnisse innerhalb der Gewerkschaft zur MAS ausgehöhlt. Ein Resultat ist, dass der Gewerkschaftsverband COB in seiner Position gespalten ist. Während die nationale Führung hinter Morales steht, haben sich einige regionale Verbände der Opposition angeschlossen. Auch innerhalb der indigenen Bevölkerung genießt die Regierung lange nicht mehr den Rückhalt. Die rücksichtslose Wirtschaftspolitik hat insbesondere die Indígenas vor den Kopf gestoßen, die auf eine autonome Verwaltung ihrer Territorien pochen. Zudem ist in den Städten eine neue junge Wähler*innenschicht herangewachsen, die sich nicht mehr in die alten Loyalitätsraster einordnen lässt. Dementsprechend ist man im Regierungslager nervös und agiert in der Öffentlichkeit bisher vorsichtig. Es scheint, als taste sie sich vor, indem sie mal staatstragende Verlautbarungen, mal scharfe Drohungen gegen die Opposition von sich gibt.


Opposition will Druck aufrecht erhalten

Diese hat ein größeres Interesse an einer Verschärfung des Konflikts auf der Straße, denn nur so kann sie den Druck auf Morales aufrecht erhalten. Immer wieder kommt es zu heftigen Zusammenstößen zwischen Regierungsanhänger*innen und Oppositionellen*. Am Mittwoch, 6. November starb in Cochabamba ein Demonstrant, der dritte Tote im bisherigen Konflikt. In diesen Tagen ist der ultrarechte Fernando Camacho erneut nach La Paz gereist. Dort hat er mit den oppositionellen Cocaleros eine Verbrüderung inszeniert. Es scheint so, als ob er schnell eine Entscheidung sucht und den Druck jetzt am Regierungssitz konzentrieren will, "Bis Montag wird Evo Morales zurücktreten" hat er angekündigt und ergänzt: "Ich bleibe in La Paz, bis die Regierung abgedankt hat".

Möglicherweise braucht Camacho die Entscheidung, weil er die Blockade von Santa Cruz, die seit drei Wochen anhält, nicht mehr lange aufrecht erhalten kann. Ob die Strategie der Spannung aufgeht, ist jedoch ungewiss. Bisher sind die Truppen, die er in La Paz aufbieten kann, begrenzt. Die Studierenden der UMSA haben wenig Kampferfahrung und die Organisation der Coca-Bauern, ADEPCOCA, mit der er sich verbrüdert hat, ist durch interne Auseinandersetzungen geschwächt. Die Mittel- und Oberschicht aus der Zona Sur und Sopocachi organisieren Blockaden, die finden aber oft nur von nine to five und mit Mittagspause statt. Zudem gibt es einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung, die zwar Morales nicht mehr wollen, Camacho aber noch weniger. Viele wollen Camacho nicht folgen, vor allem in La Paz nicht und im indigenen El Alto noch weniger. Die Radikalisierung der Opposition zeigt ihre Schwäche. Denn die verschiedenen Fraktionen sind sich in der Ablehnung von Evo Morales einig, ansonsten sind sie aber zersplittert.


Frauen könnten einen Ausweg finden

Erst allmählich beginnt sich die Position stärker zu artikulieren, die sich auf keine der beiden Seiten stellt. Maria Galindo, bekannte Feministin in Bolivien, machte bereits vor der Wahl deutlich, dass sie keinen der "Streithähne" für wählbar hält. Dafür wurde sie von den Evo-Gegner*innen heftig ausgebuht. Sie hält Fernando Camacho für einen Faschisten, der weder Frauen, noch die Rechte der Indígenas respektiert. Es sind vor allem Frauen, die in den vergangenen Wochen Versammlungen im ganzen Land organisierten, um alternative Positionen zu bestimmen. Shezenia Hannover, Aktivistin aus El Alto sagt: "In der jetzigen Situation ist es wichtig, die Zivilgesellschaft zu stärken, damit wir die soziale Kontrolle zurück gewinnen und bestimmen können, wer regiert." Im Moment scheint es jedoch unmöglich, mit einer themenorientierten Position durchzudringen. Der Journalist Julio Prado sieht hier erst eine Möglichkeit in ein bis zwei Jahren. "Sollte Morales im Amt bleiben, dann bestünde die Möglichkeit, dass sich die Gesellschaft reorganisiert und in zwei Jahren ein Abwahlverfahren organisiert, das wäre laut Verfassung möglich."

Wer wissen will, welche Partei in Bolivien zu einem passt, kann den bolivianischen Wahlomat ausprobieren:
https://candidatxs.com.bo/#intro

* Anmerkung der Redaktion: Die Organisation Amerikanischer Staaten hat Unregelmäßigkeiten bei der Auswertung der Wahlergebnisse festgestellt. Präsident Morales hat nun dem wochenlangen Druck nachgegeben und Neuwahlen angekündigt.

Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Am 10. November 2019 erklärte Evo Morales seinen Rücktritt vom Amt des Präsidenten.


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/tagespolitik/nach-der-wahl-in-bolivien/


Der Text ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

*

Quelle:
poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
Köpenicker Straße 187/188, 10997 Berlin
Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: poonal@npla.de
Internet: http://www.npla.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang