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NAHOST/1009: Shabab al-thaura - die symbolische Macht der ägyptischen Revolutionsjugend (inamo)


inamo Heft 73 - Berichte & Analysen - Frühjahr 2013
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Shabab al-thaura: Symbolische Macht der Revolutionsjugend

von Sarah Wessel



Während vor der "25. Januar Revolution" die Jugend überwiegend als passiv und unpolitisch angesehen wurde und in der Regel nur im Kontext eines massiven demographischen Entwicklungsproblems rezipiert wurde, wendete sich dieses Bild nach den Umbrüchen um 180 Grad: Die shabab al-thaura, die ägyptische Revolutionsjugend, gilt als diejenige Gruppe, die die Revolution initiiert und durchgesetzt hat. Der Ausdruck shabab al-thaura steht seitdem für eine politisch aktive und selbstbestimmte Bevölkerungsgruppe, die offenbar keine Differenzierung nach sozialen oder ökonomischen Kriterien kennt.


Aufgrund des abrupten Imagewandels und der Bedeutsamkeit, die der Jugend während der Revolution zugeschrieben wurde, ist es nicht überraschend, dass zahlreiche Studien nun die verschiedenen Jugendgruppierungen, deren Entwicklung in den vergangenen Jahren sowie deren politischen Einstellungen und Einflussmöglichkeiten untersuchen und fragen, inwieweit es sich bei der Revolution um einen Generationenumbruch handelt. Zur Jugend dazugehörig gilt diesen Studien zufolge, wer in eine definierte Altersgruppe (häufig 19 - 30) fällt.


Shabab-al-thaura: diskursives Kollektiv oder leerer Signifikant
Angesichts der Zersplitterung der Jugendgruppierungen und deren Anzahl ist jedoch fraglich, wie diese tatsächlich politisch Einfluss nehmen konnten und können: Immer wieder wurde von vielen Seiten moniert, dass die Jugendgruppen nicht in der Lage waren, "echte" Repräsentanten zu politischen Verhandlungen mit dem Militärrat oder der Übergangsregierung zu schicken. Dies war die Begründung dafür, dass die Jugendgruppen nach und nach immer seltener in direkte Verhandlungen mit den zu dem jeweiligen Zeitpunkt regierenden Personen und Gruppen eingebunden wurden.(1)

Jüngste Studien zeichnen sogar ein Bild der Revolution fernab der Jugendrevolution, die alle Schichten umfasst: "The Egyptian revolution was very much of a revolution of the middle-aged, the middle class, professionals, and the religious."(2) Selbst wenn man solche Studien mit Vorsicht zu genießen hat - wie will man bewerten, wer an der Revolution teilgenommen hat?, wer die Revolution initiiert hat?, wer auf den einschlägigen Demonstrationen war?, etc. - suggerieren diese Studien und Aussagen, dass die Jugend eine weniger wichtige Rolle als allgemein angenommen in der Revolution gespielt haben könnte.

Um diesen Widerspruch aufzulösen, scheint es mir naheliegend, die Stärke der shabab al-thaura weniger in ihren konkreten politischen Einflussmöglichkeiten zu suchen: Die shabab al-thaura hat vor allem symbolische Macht. Um ihre Bedeutsamkeit zu erfassen, plädiere ich daher dazu, sie als diskursives Kollektiv oder als leeren Signifikanten(3) zu begreifen. Es geht im Folgenden also nicht darum, die politischen Partizipationsstrategien von Gruppierungen, die aus Jugendlichen bestehen, zu untersuchen - vielmehr wird die shabab al-thaura als ein Konstrukt verstanden, das von verschiedenen Gruppen verwendet wird, um Interessen, Forderungen und Repräsentationsansprüche zu legitimieren und zu stärken. Zunächst werde ich drei Narrative der shabab al-thaura zur Zeit der Revolution - in der Phase, in der das diskursive Kollektiv der Revolutionsjugend entstanden ist - beschreiben. Anschließend werde ich zeigen, dass sich selbst im Verlauf des von vielen als frustrierend empfundenen Transformationsprozesses die Idee der shabab al-thaura nicht verändert hat. Am Beispiel der Parlamentswahlen zeige ich, wie durch den Rückgriff auf die Revolutionsjugend der politische Diskurs beeinflusst wurde. Abschließend werde ich darlegen, inwieweit die Beschreibung der shabab al-thaura als leeren signifikanten oder als diskursives Kollektiv einen zentralen Beitrag zum Verständnis des Transformationsprozess in Ägypten leisten kann.


Mubarak, Tahrir, Deutschland: Drei Narrative der shabab al-thaura
Am 10. Februar 2011 als die Demonstrationen auf dem Tahrir und in anderen Teilen Ägyptens auf ihrem Höhepunkt waren, kündigte Husni Mubarak an, dass er nicht vor den Wahlen im September zurücktreten würde. Er leitete seine Rede mit dem folgenden Satz ein: "I am addressing the youth of Egypt today in Tahrir Square and across the country. I am addressing you all from the heart, a father's dialogue with his sons and daughters."(4)

In der Rede folgten weitere Appelle an die Eltern der jungen Demonstrierenden, diese zur Vernunft zu bringen. Mubarak deklarierte die Proteste als "Jugenddemonstrationen", um dadurch deren Legitimität abzustreiten. Implizit sandte er die Botschaft, dass es sich bei den Demonstranten nicht um eine repräsentative Mehrheit an Ägyptern handelte, sondern um Jugendliche, die aufgrund mangelnder Lebenserfahrung den Ernst der Politik nicht erfassen könnten und daher irrational und emotional handelten. Er präsentierte sich als der strenge "Vater" dieser Jugendlichen, der deren Verwirrung zwar nachvollziehen, aber aufgrund seiner verantwortungsvollen Haltung und seiner moralischen und politischen Verpflichtungen dem Land gegenüber nicht nachgeben kann.

Gleichzeitig verwendeten auch zahlreiche Demonstranten und Aktivisten den Begriff shabab al-thaura, um dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass es sich bei der Jugend, um ein Kollektiv handelt, das keine religiösen, sozialen und geschlechtsspezifische Differenzen kennt. Die Repräsentation als eine neue ungespaltene Generation sollte den Demonstrationen Legitimität verleihen. Nach dem Rücktritt Mubaraks wurde die Revolutionsjugend als Helden und Märtyrer Ägyptens gefeiert, die es unter Einsatz ihres Lebens geschafft hatte, sich gegen die Ungerechtigkeiten des Mubarak-Regimes zu widersetzen. Die Revolutionsjugend stand und steht seitdem für Gerechtigkeit, gegen Korruption, für ein besseres Ägypten, Meinungsfreiheit und Demokratie, für eine vielversprechende Zukunft - kurz: für das Gute.

Nicht nur, aber auch in den deutschen Medien, wurde das Narrativ der Jugendrevolution sehr stark gekoppelt mit dem Narrativ, dass es sich bei der shabab al-thaura um ein liberales und säkulares Kollektiv handele. Rahab el-Mahdi, eine assoziierte Professorin an der Amerikanischen Universität Kairo, erklärt diese Darstellung wie folgt:

"In the case of Egypt, the recent uprising is constructed as a youth, non-violent revolution in which social media (especially facebook and twitter) are Champions. The underlying message here is that if these "middle-class" educated youth (read: modern) are not "terrorists," they hold the same values as "us" (the democratic West), and finally use the same tools (facebook and twitter) that "we" invented and use in our daily-lives. They are just like "us" and hence they deserve celebration."(5) Der deutschen Regierung ermöglichte diese Darstellungsweise, Gelder zur "Unterstützung des Transformationsprozesses"(6) nach Ägypten zu transferieren, ohne auf massive Gegenwehr aus der eigenen Bevölkerung zu stoßen. Eine finanzielle Unterstützung in dieser Form wäre im Falle einer islamisch oder islamistisch gefärbten Revolution äußerst unpopulär gewesen.


Das Narrativ der liberalen, säkularen Revolution
scheint allerdings nur sehr bedingt zuzutreffen. Exemplarisch für mehrere Interviews möchte ich einen Teil aus einem Gespräch vom 20.3.2012 mit vier Studentenvertretern wiedergeben, von denen drei die Muslimbrüder unterstützen und kurz vor dem Interview nach Deutschland gereist waren, um dort mehr über die Studentenparlamente zu erfahren. Alle vier waren während der Revolution bei den Demonstrationen auf dem Tahrir:

Studentin A: Wir müssen noch viel tun. Die Leute müssen mehr Verstehen lernen, wie Demokratie funktioniert. Das ist viel Arbeit.

Ich: Wen hast Du denn eigentlich gewählt?

Studentin A : Die Wasat-Partei.

Ich: Warum?

Studentin A: Naja, weil sie nicht liberal und auch nicht die Muslimbrüder sind. Sie sind eben in der Mitte. Die anderen haben aber die Muslimbrüder gewählt.

Studentin B: Die Wasat hat erst zu den Muslimbrüdern gehört, ist dann aber gegangen und hat sich distanziert.

Ich: Ach, hast Du doch die Wasat gewählt?

Studentin B: Nein, nein, ich bin Muslimbrüder. Und er hier auch.

Ich: In Deutschland wird das ja tendenziell als Widerspruch erfahren. Die Demonstrationsbewegung wird als liberal-säkular empfunden und man denkt, dass dann die eher ungebildete Mehrheitsbevölkerung die Muslimbrüder gewählt haben.

Student C: Ja, das stimmt aber nicht. Wir haben das auch gemerkt als wir in Deutschland waren. Aber wir vier waren alle auf dem Tahrir und sind Revolutionäre der ersten Stunde und wir waren von Anfang an mit den Muslimbrüdern. Es wird immer gesagt, dass die Muslimbrüder nicht an den Demonstrationen teilgenommen haben und den Tahrir verlassen haben, aber wir waren da.

Mubarak, deutsche Politiker und Medien sowie Demonstranten auf dem Tahrir selbst verwendeten den Begriff der Jugendrevolution und der shabab, allerdings mit drei unterschiedlichen Interessen. Alle drei Gruppen verwendeten unterschiedliche Narrative, die darauf zielten ein bestimmtes Publikum (ägyptische Bevölkerung und internationale Regierungen im F alle Mubaraks und der Demonstranten, die deutsche Bevölkerung im Falle der deutschen Regierung) zu überzeugen, die impliziten Forderungen und Interessen anzuerkennen.


Das unverletzbare Ideal der shabab-al-thaura
Nach Mubaraks Rücktritt hörten die Demonstrationen nicht auf. Immer wieder protestierten Gruppen auf dem Tahrir und anderen Orten aus unterschiedlichsten Gründen. Häufig gab es an einem Ort Demonstrationen für etwas und an einem anderen Platz gegen dieselbe Sache. Dies gipfelte in massiven Auseinandersetzungen kurz vor den Parlamentswahlen im Dezember 2011 auf der Straße Mohammed Mahmoud, in die viele Jugendliche involviert waren. Selbst am Tag vor der ersten Wahlrunde war noch nicht sicher, ob die Wahlen unter diesen Bedingungen stattfinden können und sollten. Viele meiner Gesprächspartner wurden angesichts der Vielzahl an Demonstrationen zunehmend verärgert, weil die Proteste sie an ihrer Arbeit behinderten oder sie der Meinung waren, dass durch sie der Demokratisierungsprozess und die politische und ökonomische Stabilität beeinträchtigt und verhindert würden.

Zwei Narrative zu diesen Ereignissen durchzogen die Diskussionen mit meinen Gesprächspartnern. Exemplarisch für diese Narrative zitiere ich drei meiner Informanten: Manal und Mona, die beide etwa im gleichen Alter (23, 25) und politisch aktiv sind, die Revolution unterstützten und mit Demonstranten auf der Mohammed Mahmoud Straße gesprochen hatten. Und Mohammed (29), der überzeugt ist, dass es für Ägypten das Beste gewesen wäre, wenn Mubarak geblieben wäre.

Mona (24.11.2011): "Es gibt so viel Gewalt. Der Militärrat reagiert mit so viel Gewalt. Und die jugendlichen reagieren auch mit Gewalt. Die Leute fordern, dass der Militärrat zurücktritt, aber wer soll dann die Macht übernehmen? Ich bin gegen die Demonstrationen. Ich verstehe, dass das gegen den Militärrat ist. Aber ich habe bei vielen Jugendlichen den Eindruck, dass sie das alles nur zum Spaß machen. Dass sie Steine werfen und sich schlagen, zum Spaß. Sie denken überhaupt nicht über die Konsequenzen nach. Erst gehen sie irgendwohin und mittags sagen sie dann, dass sie ein bisschen Steine schmeißen auf den Tahrir gehen. Wenn wir die Wahlen abhalten, werden alle sagen, dass das Parlament nicht repräsentativ ist und wieder auf die Straße gehen. Wenn wir die Wahlen verschieben, werden die Leute auch auf die Straße gehen und glauben, dass der Militärrat seine Macht nicht abgeben wird." Auf die Frage, wer denn die Gewalttätigen seien, antwortet sie: "Da sind vor allem die ultraz(7) ganz vorne. Der Platz ist in drei Gruppen geteilt. Es gibt die Polizei und das Militär und dann gibt es noch eine dritte Gruppe. Da bin ich mir sicher. Und sie machen etwas. Vielleicht baltageya."(8)

Manal (24.11.2011) argumentiert hingegen: "Es war ein ständiges hin und her zwischen Polizei und den Jugendlichen. Als ich nach Hause bin - Du weißt die meisten meiner Freunde sind für den Militärrat und Tantawi - da habe ich ihnen gesagt, wenn ihr jetzt nicht wisst, was los ist, dann kündige ich meine Freundschaft. Auf Mohammed Mahmoud kämpfen Jugendliche, die besser sind als Du und ich, gegen den Militärrat."

Mohammed (05.10.2011): "Meiner Meinung nach sind die shabab al-thaura diejenigen, die die Revolution initiiert haben, nicht diejenigen, die jetzt auf dem Tahrir-Platz stehen und Lärm machen. Die, die jetzt auf dem Tahrir stehen, sind irgendwelche Feiglinge, die ihre individuellen Forderungen durchsetzen wollen, aber nicht am Anfang der Revolution dabei waren."

Während diejenigen, die die Demonstrationen gut hießen, die Demonstranten als die "echte shabab al-thaura" bezeichneten, deklarierten diejenigen, die sich gegen die Proteste aussprachen, die Demonstranten als "baltageya" oder als "Feiglinge". Die Idee der shabab al-thaura bleibt in beiden Narrativen unverletzt und unverändert: Die shabab steht in den Augen meiner Gesprächspartner weiterhin für das Gute und die gerechte Sache.


Shabab-al-thaura vs. fulul: Die Parlamentswahlen 2011/2012
Nach der Revolution entstanden viele neue Parteien und Koalitionen, vor allem religiöse Parteien, wie die Partei des Lichts und die Partei Freiheit und Gerechtigkeit (hizb al-nur, hizb hurreya wa adala) sowie liberal und säkular orientierte Parteien, wie der ägyptische Block und die Koalition "Die Revolution geht weiter" (kutla masriya, thaura mustamirra). Sie konkurrierten gegen traditionelle Parteien, die bereits vor der Revolution existiert hatten, wie z.B. die al-wafd. Alle Parteien, Kandidaten und andere öffentliche Personen warben während des Wahlkampfs und der politischen Ereignisse im Jahr 2011 damit, die shabab al-thaura besonders gut zu repräsentieren. Das verfolgte Ziel war, den Eindruck zu vermitteln, dass sie prorevolutionär sind. Dadurch konnten die Parteien sich vom alten Regime distanzieren und die Werte, für die die Revolutionsjugend steht, inkorporieren.(9) Ein interessantes Fallbeispiel hier ist die Koalition thaura mustamirra. Die Koalition wurde noch kurz vor den Wahlen im Oktober 2011 gegründet, um die Stimmen des Tahrir und der Revolutionsjugend in das Parlament zu bringen.(10) Sie beklagten, dass alle Parteien beanspruchten, die Revolutionsjugend am besten zu repräsentieren, was aber in Wirklichkeit nicht zuträfe. Dies sei der Grund, warum sie sich formiert hätten.

Die shabab al-thaura diente also nicht nur für viele Parteien als Instrument, sich als prorevolutionär darzustellen, der Anspruch die shabab al-thaura zu repräsentieren, führte sogar zur Gründung einer Koalition.

Die Entstehung der shabab al-thaura als ein diskursives Kollektiv, das für das Gute der Revolution steht, bedingte oder ermöglichte das Erscheinen eines weiteren Kollektivs: die fulul, die Schwänze des alten Regimes. Fulul verkörpern für viele meiner Gesprächspartner die veraltete Denkweise des "Mubarak-Regimes" und all das Schlechte, für das die Diktatur stand. Die fulul können daher als Gegenentwurf zu der Revolutionsjugend begriffen werden.(11)

Verschiedene Parteien und politische Gruppierungen(12) forderten kurz vor den Parlamentswahlen von dem Militärrat, das Wahlprozedere zu ändern mit der Begründung, dass zu viele fulul in das Parlament gewählt werden könnten, wenn die Regelung, dass ein Drittel der Parlamentssitze von unabhängigen Kandidaten besetzt werden muss, beibehalten würde. Die Parteien, so die Begründung der Gruppen, die diese Änderung herbeiführen wollten, würden tendenziell keine fulul als Kandidaten aufstellen, weil sie dann in Gefahr gerieten, nicht als prorevolutionär zu gelten. Auf Druck dieser Parteien und anderen Gruppierungen wurde das Wahlprozedere dahingehend verändert, dass schließlich auch Kandidaten aus Parteien für das Drittel der Parlamentssitze gewählt werden konnten.(13) Diese Änderung der Regelung führte Monate später zu der Auflösung des Parlaments, weil das Hohe Gericht sie als nicht verfassungsgemäß erachtete.(14)

Die Diskussion, wie alt ein Repräsentant zu sein hat, spielte während des Wahlkampfs im Kontext der Diskussion um fulul und shabab al-thaura eine wichtige Rolle. Beispielsweise teilten Jugendgruppen Handzettel mit Ratschlägen für die Wahl aus, in denen stand, dass man niemanden wählen solle, der älter als 50 sei.(15) Bei Fernsehinterviews wurden Kandidaten häufig zuerst nach ihrem Alter gefragt. Die Idee, das Alter und Einstellung (jung = Revolutionsjugend = gut; alt = Mubarakregime = schlecht) zwangsweise korrelieren, wurde von vielen meiner Gesprächspartner jedoch abgelehnt: "Shabab sind alle die, die aktiv sind und etwas ändern wollen. Es gibt auch shabab, die 50 sind. Ich bin zwar schon 32, aber noch shabab."(16)

Die richtige Einstellung und das Verhalten waren also eher ausschlaggebend, um jemanden als shabab zu bezeichnen. Ein hohes Alter wurde in den Diskussionen folglich zwar als Indikator dafür angesehen, dass man die Ideen des alten Regimes vertritt, war aber nicht zwangsweise ein Ausschlusskriterium um zur shabab zu gehören. Die Frage, wer ist fulul und wer shabab wurde viel diskutiert und zwang die ägyptische Bevölkerung zum Nachdenken, was sie als gut und schlecht erachteten.


Die Revolution ohne Vision
Auch wenn viele meiner tendenziell frustrierten Forschungsteilnehmer monieren, dass sich seit der Revolution nichts Verändert hat, argumentiere ich, dass sich die Perspektive vieler Ägypter auf ihre eigene Gesellschaft und die Wahrnehmung dieser sich radikal verändert hat. Das Erscheinen von neuen Kollektiven, die als solche in den politischen Diskurs eingespeist wurden, unabhängig ihrer realen Größe und direkten Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen, zwingt Bevölkerungsgruppen aus allen sozialen Schichten zu einem neuen Nachdenken über die Gesellschaft. Die shabab al-thaura kann hier als das erste diskursive Kollektiv bezeichnet werden, dass das Entstehen anderer Kollektive bedingte und ermöglichte. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der fulul. Durch das Auftreten neuer diskursiver Gruppen wird die gesellschaftliche Selbstwahrnehmung neu ausgehandelt. Politische Einstellungen werden dadurch generiert, modifiziert oder teilweise komplett umgeworfen, Wahlentscheidungen werden beeinflusst und alltägliche Strategien im Umgang miteinander verändern sich. Selim Shahine argumentiert beispielsweise, dass durch die (Selbst-)Zuschreibung der Jugend, eine neue Generation mit neuen Werten und Vorstellungen zu sein, die anderen Ägypter provozierten, über ihren Platz in der Generationenkette nachzudenken. (17)

Das Verstehen, wer und warum, wen in welche Gruppe einordnet, eröffnet damit eine Perspektive auf die gesellschaftliche Entwicklung und die politische Kultur und deren Wandel in Ägypten. Definiert man "Jugend" über eine bestimmte Altersgruppe, versperrt man sich die Möglichkeit zentrale soziale und politische Phänomene nachvollziehen zu können: Viel eher müsste gefragt werden, wie Jugend konstruiert wird. In einem Dorf auf dem Land, in dem meistens mit 20 oder 22 geheiratet wird, würde keiner den Verheirateten als Jugendlichen bezeichnen. Ein Unverheirateter mit 28 hingegen könnte von vielen durchaus noch als Jugendlicher angesehen werden, zumindest in den Großstädten.

Gleichzeitig wurde dargestellt, wie stark durch den Rückgriff auf diskursive Kollektive der politische Diskurs bestimmt wird, weil sie von real agierenden politischen Gruppen als Legitimation ihrer Interessen und Forderungen herangezogen werden können (Beispiel Wahlgesetzänderung). Diese Feststellung ist vor allem deswegen wichtig, weil sich während der Revolution keine Person oder einzelne Gruppe herauskristallisiert hat, die als Revolutionsführer angesehen wird und eine Zukunftsvision für Ägypten zugeschrieben wird. Viele meiner ägyptischen Interviewpartner führen die momentanen "chaotischen" Entwicklungen darauf zurück, dass es sich bei dieser Revolution - im Gegensatz zu der Revolution im Jahr 1952 - um eine führerlose Revolution handelt, um eine Revolution "ohne Vision".(18) Dies führt dazu, dass eine solche Vision im öffentlichen Diskurs ausgehandelt wird. Die potentielle Macht von zukünftigen politischen Repräsentanten oder der Grad der Einflussmöglichkeiten von verschiedenen Gruppen hängt dann davon ab, wie stark sie diesen Diskurs für sich vereinnahmen können.


Sarah Wessel, Doktorandin, Uni Hamburg, Institut für Politikwissenschaft. Die präsentierten Daten und Interviews wurden im Rahmen einer Feldforschung erhoben, die im Juni 2011 begann und Mitte 2013 abgeschlossen wird. Bisher wurden 200 semi-strukturierte Interviews geführt. 15 Personen aus unterschiedlichen sozialen Schichten wurden in regelmäßigen Abständen befragt. Die ausgewählten Zitate repräsentieren Narrative, die in ähnlich Weise in einer Vielzahl der Interviews erschienen. Die Namen aller Interviewpartner wurden geändert, es sei denn die Teilnehmer baten explizit darum, ihren Namen zu belassen.



Anmerkungen

(1) Anwar Al-Sadat, Sadat Museum, Minufiya, Interview vom 19.11.2011.

(2) Beissinger, Mark, Jamal, Amaney, Mazur, Kevin (2012): Who Participates in Democratic Revolutions? A Comparison of the Egyptian and Tunisian Revolutions. APSA 2012. Annual Meeting Paper. S. 5. Download: http://ssrn.com/abstract=2108773.

(3) Laclau, Ernesto, Mouffe, Chantal (1985): Hegemony & socialist strategy: towards a radical democratic politics. London: Verso.

(4) Husni Mubarak, BBC News Middle East (10.2.2011): Egypt unrest: Full text of Hosni Mubaraks speech. Download:
http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-12427091.

(5) El-Mahdi, Rahab (11.04.2011): Orientalising the Egyptian Uprising. In: Jadaliyya. Download:
http://www.jadaliyya.com/pages/index/1214/orientalising-the-egyptian-uprising.

(6) Auswärtiges Amt, Download:
http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Aegypten/Bilateral_node.html

(7) Fußballfanclub

(8) Bezahlte Schlägertrupps

(9) Mona (25), Kairo, Interview vom 07.09.2011.

(10) Koalition "Die Revolution geht weiter", Carnegie Endowment for International Peace Online 02.11.2011): Istikmal al-Thawra, Completing the Revolution Alliance. Download:
http://egypteletions.carnegieendowment.org/2011/11/02/istikmal-al-thawra-"completing-the-revolution"-alliance

(11) Es wäre dennoch zu kurz gegriffen, in den Dichotomien "Gut" und "Böse" zu denken. Es gibt noch weitere diskursive Kollektive, die die öffentlichen politischen Diskussionen geformt und geprägt haben.

(12) Wie die Demokratische Allianz für Ägypten und die Tagammu Partei, vgl; International Foundation for Electoral Systems (01.11.2011): Elections in Egypt. Analysis of the 2011 Parliamentary Electoral System. IFES Briefing Paper. S. 3. Download:
http://www.ifes.org/-/media/Files/Publications/White%20PaperReport/2011/Analysis_of_Egypts_2011_Parliamentary_Electoral_System.pdf

(13) Supreme Council of the Armed Forces, Decree-Law 123/2011, Ahram Daily Online 1.10.2011, Egypt military rulers agree to amend election law. Download:
httpz//english.ahram.org.eg/News-Content/1/64/23093/Egypt/Politics-/Egypt-military-rulers-agree-to-amend-election-law.aspx

(14) Aliazeera English Online (14.06.2012): Egypt court orders dissolving of parliament. Download:
http://www.aljazeera.com/news/middleeast/2012/06/2012614124538532758.html

(15) Manal (23), Kairo, Interview vom 20.10.2011.

(16) Yussuf (32), Kairo, Interview vom 15.10.2011.

(17) Shahine, Selim (2011): Youth and the revolution in Egypt. In: Anthropology Today. Nr. 2. S. 1-3.

(18) Dr. Nourhan Al-Sheikh, Kairo Universität, Fakultät für Politikwissenschaft, Interview vom 30.11.11.

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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 73, Frühjahr 2013

Gastkommentar:
- Die Westsahara: The worst of the worst... Von Axel Goldau

Ägypten
- Die neue ägyptische Verfassung. Von Anja Schöller-Schletter
- Und täglich ruft die Wahlurne. Von Florian Kohstall
- Ägyptens Wirtschaft: Keine Rettung in Sicht? Von Amr Adly
- Arbeiter, Gewerkschaften und Ägyptens politische Zukunft. Von Joel Beinin
- Shabab al-thaura: Symbolische Macht der ägyptischen Revolutionsjugend. Von Sarah Wessel
- Frauenschwestern und Muslimbrüder: Parallelen. Von Gihan Abou Zaid
- Mursi auf Reisen: Alte Seilschaften, neue Netzwerke. Von Thomas Demmelhuber
- Scharf wie ein Skalpell - TV Satiriker Bassem Youssef. Von Martina Sabra

USA
- Beten in der St. Drohnen Kirche. Von Tom Engelhard

Mali
- Schmerzhafles Erwachen - Gespräch mit dem Schriftsteller Boubacar Boris Diop.
Souleymane Ndiaye: Gespräch mit Boubacar Boris Diop

Palästina/Israel
- Palästinenser in Jordanien und die Aberkennung der Staatsbürgerschaft. Hazem Jamjoum im Gespräch mit Anis F. Kassim
- Die Vertreibung der Palästinenser aus Kuwait. Eine Bilanz. Von Toufic Haddad - Das Palästinenserviertel Yarmuk mitten im syrischen Krieg. Von Moutawali Abu Nasser

Jordanien
- Jordanisches Demokratietheater: Die Wahl zum 17. Parlament. Von Malika Bouziane
- Die Wahlen in Jordanien: ein weiterer Schritt rückwärts. Von Hisham al-Bustani

Syrien/Kurdistan
- Kurden in Syrien - der andere syrische Aufstand. Von International Crisis Group

Sudan/Südsudan
- Walzer mit Bashir und Kiir. Von Roman Deckert und Tobias Simon

Wirtschaftskommentar
- Rassismus bei der Weltbank. Von Phyllis Muhammad

Zeitensprung
- Die deutschen Behörden und der Mord an Saleh Ben Youssef. Von Tobias Mörike

Kritik & Meinung
- Werner Rufzu Aissa Halidou, Heft 72

ex mediis
- D. Götting: "Etzel" / G. Hankel: Das Tötungsverbot im Krieg / S. El Feki: Sex und die Zitadelle / H. Albrecht, T. Demmelhuber (Hrsg): Revolution und Regimewandel in Ägypten / Judith Butler: Parting ways. Von Malcolm Sylvers, Norman Paech, Jörg Tiedjen, Nadine Kreitmeyer, Nils Fischer

Nachruf
- Akiva Orr (1931-2013). Von Lutz Fiedler

Nachrichten//Ticker

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Quelle:
INAMO Nr. 73, Jahrgang 19, Frühjahr 2013, Seite 22 - 25
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2013