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NAHOST/1036: Ägypten hat gewählt, große Erwartungen und wenig Illusionen - das Pendel schlägt zurück (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Ägypten hat gewählt - große Erwartungen und wenig Illusionen
Das Pendel schlägt zurück

von Armin Hasemann
Juni 2014



• Ägypten hat sich entschieden: Erwartungsgemäß wurde der frühere Armeechef Abdel Fatah al-Sisi mit großer Mehrheit in das Amt des Präsidenten gewählt. Die Wahlbeteiligung lag nach offiziellen Angaben der Wahlkommission bei 47,3 Prozent und blieb damit weit unter den Erwartungen. Es ist Sisi nur teilweise gelungen, die jungen, säkular und demokratisch gesinnten Menschen zu mobilisieren, die Träger der revolutionären Ereignisse von 2011 und 2013 waren.

• Die Gesellschaft ist zutiefst polarisiert. Die Zeichen stehen auf Lagerdenken und nicht auf Dialog. Unterstützung für Sisi kommt von der alten Verwaltungselite und der Wirtschaftselite des Landes. Die islamistische Opposition wurde durch das Verbot der Muslimbrüder deutlich geschwächt, gegnerische Stimmen aus dem säkularen Lager wurden gekonnt übertönt.

• Kern der Kampagne waren der Kampf gegen den Terrorismus und die Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung. Konzepte für die Lösung der gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes wurden weder präsentiert noch diskutiert.

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Am 26. und 27. Mai 2014 fanden in Ägypten Präsidentschaftswahlen statt. Wie erwartet ging der General Abdel Fatah al-Sisi nach vorläufigen Angaben mit fast 93 Prozent als strahlender Sieger aus den Wahlen hervor. Sein einziger Herausforderer, der Linkspopulist Hamdin Sabahi, konnte 3 Prozent auf sich vereinigen. Die Wahlbeteiligung lag nach offiziellen Angaben nur bei rund 47,3 Prozent. Das lässt allerdings unberücksichtigt, das ein beachtlicher Teil der potenziellen Wähler - und insbesondere Wählerinnen - gar nicht in den Wählerlisten verzeichnet waren und so aus formalen Gründen nicht teilnehmen konnten. Die tatsächliche Beteiligung dürfte damit also noch darunter liegen.

Mit den Präsidentschaftswahlen ist formal ein weiterer, entscheidender Schritt getan, die im August 2013 nach dem Sturz der Regierung Mursi eingeleitete Übergangsperiode zu beenden. Parlamentswahlen werden in der zweiten Jahreshälfte erwartet, einen Termin dafür gibt es aber noch nicht.

Wahl ohne echte Alternativen

Die Wahl galt allgemein bereits seit Wochen als entschieden. Seit dem Verfassungsreferendum im Januar konzentrierte sich die öffentliche Diskussion auf die Frage, ob General Sisi kandidieren würde oder nicht. Die Kür wurde inszeniert, wie die Vorbereitungen zur Ankunft eines Heilsbringers. Der durch die Unterstützung der Protestierenden vom 30. Juni 2013 und das anschließende harte Durchgreifen der Armee unter seiner Führung zum Volkhelden avancierte Sisi ließ sich vom Volk drängen, ja flehentlich auffordern, die Herausforderung anzunehmen und das Land als eine Art neuer Pharao aus der »rückständigen Finsternis in eine strahlende Zukunft« zu führen. Und dann war es soweit - der General erhörte die Bitten des Volkes. Schwieriger gestaltete sich die Suche nach geeigneten Gegenkandidaten. Schließlich sollte die Wahl nicht nur frei und fair ablaufen, es sollte auch eine Wahl geben. Doch die politischen Lager taten sich schwer, auf diese Situation eine passende Antwort zu finden. Die nach dem Sturz vollkommen aus dem politischen Geschehen verbannten Muslimbrüder konnten keinen eigenen Kandidaten nominieren. Die Salafisten optierten für einen Pakt mit dem General und die säkularen Kräfte zeigten sich gespalten. Während sich die Sozialdemokraten einer Wahlempfehlung enthielten, riefen eine Reihe von Parteien aus dem bürgerlichen wie linken Spektrum ihre Anhänger zur Wahl Sisis auf. Wenige andere, darunter die links-liberale, aus den Protagonisten der Revolution hervorgegangene Dustur-Partei, sprachen sich für den unabhängigen Gegenkandidaten Sabahi aus. Einen eigenen Kandidaten nominierte dagegen keine der Parteien. Sabahi schien bereits in den ersten freien Wahlen von 2012 ein aussichtsreicher Kandidat zu sein und hatte damals die breite Unterstützung des säkularen, demokratischen Lagers. Überraschenderweise schaffte er es damals jedoch nicht in die Stichwahl. Die jetzige Kandidatur wirkte wie ein zweiter Aufguss. Sie hatte weder Schwung noch gewann sie Unterstützung. So gelang es insbesondere nicht, die große Zahl der Nichtwähler davon zu überzeugen, dass Sabahi eine echte und womöglich gar bessere Alternative zu Abdel Fatahl al-Sisi darstellen könnte.

Eine Wahlkampagne fand kaum statt. Zu kurz war der Kampagnenzeitraum und zu beschränkt die offiziell zur Verfügung gestellten Mittel. Da die vom Präsidentschaftswahlkomitee erlassenen Bestimmungen in diesem Bereich unzureichend waren, konnte Sisi über die offiziellen Mittel hinaus beachtliche Unterstützung aus dem privaten Mediensektor mobilisieren, so dass seine Präsenz hier deutlich überwog.

Dem Lager der Unterstützer Sisis war sehr wohl bewusst, dass die Wahl in erster Linie aufgrund des Mangels glaubwürdiger Alternativen entschieden werden würde. Aussichtslos war der Gedanke, die Unterstützer der Muslimbruderschaft für sich zu gewinnen, die nach vorsichtigen Schätzungen etwa ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung ausmachen dürften. Wenig vielversprechend schien es auch, diejenigen, insbesondere jüngeren Wähler zu überzeugen, die als Träger der Revolution auf den Straßen für die Demokratie gekämpft hatten. Diese, etwa ein weiteres Drittel der Wähler ausmachende Gruppe hatte es im Nachgang des Umsturzes nicht vermocht, die revolutionäre Energie in den Aufbau neuer, tragfähiger politischer Strukturen zu lenken und der breiteren Bevölkerung überzeugende Alternativen anzubieten und zeigt sich desillusioniert. Sie würde nun die Wahl großenteils boykottieren oder ungültige Stimmen abgeben. Folgerichtig konzentrierte sich die in einer Atmosphäre extremer gesellschaftlicher Polarisierung ablaufende Wahlpropaganda des früheren Armeechefs fast ausschließlich auf die verbleibenden 30-Prozent der wahlentscheidenden Bevölkerung. Diese Unterstützergruppen, auf die im Folgenden näher eingegangen wird, umfassen Ägyptens Militär, die Wirtschaftselite des Landes und einen großen Teil des alten Establishments. Soziologisch betrachtet ist sie überwiegend mittleren bis höheren Alters und stark weiblich geprägt. Das Lager der Nichtwähler_innen umfasst dagegen - abgesehen von den Anhängern der Muslimbrüder - vor allem Mitglieder der jüngeren Generation und ist stärker männlich geprägt. Ursächlich für die höhere Mobilisierung von Frauen scheint unter anderem zu sein, dass diesen der Schrecken über die gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Regierung Mursi noch in den Knochen steckt. Gleichzeitig scheinen viele aufgrund des allgemeinen Verfalls der öffentlichen Sicherheit und der Zunahme von Übergriffen auf Frauen auf allen Ebenen stärker als die männliche Bevölkerung für das Versprechen der Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit empfänglich zu sein, das den Kern der Kampagne Sisis bildete.

Dennoch blieb die Wahlbeteiligung nicht nur schwach, sondern sogar weit unter den Erwartungen und Hoffnungen der Organisatoren. Am Spätnachmittag des zweiten Wahltages wurde deshalb kurzerhand verkündet, dass die Wahllokale einen weiteren Tag geöffnet bleiben würden. Parallel dazu gab es verschiedene offizielle und offiziöse Überlegungen und Andeutungen, Nichtwähler mit Sanktionen zu belegen. Bereits im Vorfeld gab es Hinweise darauf, dass Wähler insbesondere in den am stärksten von der wirtschaftlichen Not betroffenen Gebieten durch materielle Anreize ermuntert worden waren, sich an der Wahl zu beteiligen.

Lagerdenken ohne Aussicht auf Verständigung

Die Wahlen haben die gesellschaftliche Polarisierung, die sich bereits kurz nach dem Sturz der Regierung Mursi zeigte und in Gewalt eskalierte, weiter verstärkt. Der Riss geht dabei quer durch Familien, trennt aber auch Generationen. Durch das Verbot der Muslimbruderschaft und ihres politischen Arms, der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (Freedom and Justice Party, FJP) ist ein großer Teil der Bevölkerung der Möglichkeit beraubt worden, sich auf legale Weise am politischen Geschehen zu beteiligen. Auch viele derer, die die - großenteils berechtigte - Kritik an der Regierung Mursi teilen und eine bittere Bilanz dieses sowohl für die demokratische wie für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung verlorenen Jahres ziehen, kritisieren die Modalitäten des Umsturzes. Sisi hingegen hat bereits deutlich gemacht, dass er gewillt ist, mit harter Hand und weitreichender Autorität zu regieren. Dialog ist seine Sache nicht. Die Opposition wird es schwer haben und nur dann überleben oder gar kurz- bis mittelfristig das politische Geschehen beeinflussen können, wenn sie geeint auftritt, konstruktiv glaubwürdige Alternativen vorschlägt und nicht den Versuchungen der Blockadehaltung erliegt.

Das Lager Sisis greift zur Absicherung seines Machtanspruchs auf zentrale Teile des alten Establishments zurück. Die Sicherheitsapparate finden zurück zu ihrer vorrevolutionären Rolle, und die Mechanismen einer überbordenden, auf gegenseitige Gefälligkeiten fußenden Verwaltung fügen sich reibungslos in das System ein. Sicher wird Sisi von Teilen der breiteren Bevölkerung als Garant dafür gesehen, dass das Schreckgespenst der Muslimbrüder nicht wieder aus dem Schatten auftaucht und versucht, seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen durchzusetzen oder das Land mit Terror und Gewalt zu überziehen. Die von den Medien aufgebaute Rolle als Volksheld gab Sisi in politisch weniger engagierten oder von drei Jahren revolutionärer Wirren und der wirtschaftlichen Not ausgelaugten Kreisen großen Rückenwind während seiner Kampagne.

Die größte Unterstützung kommt aber von jenen, die zur Absicherung ihrer Partikularinteressen auf ein Mindestmaß von Stabilität und Sicherheit angewiesen sind und den Fortbestand der alten Ordnung dafür bereitwillig akzeptieren. Zu marktbeherrschend ist die Stellung einzelner Wirtschaftsmoguln, zu dicht die Verflechtung zwischen Staat und Unternehmen, zu intransparent so mancher Vorgang, als dass die Beteiligten ein ernsthaftes Interesse an der Überprüfung und Veränderung dieser Strukturen haben könnten. Dies gilt insbesondere für Unternehmen mit Tätigkeitschwerpunkt im Hoch-, Tief- oder Wohnungsbau. Auch das Militär selbst ist hier ein Schlüsselakteur. Der Anteil der Wirtschaftleistung des Militärs, dessen wirtschaftliche Aktivitäten seit den Zeiten Mubaraks kontinuierlich gewachsen sind, wird Schätzungen zufolge mit mindestens einem Drittel des Bruttosozialproduktes angegeben - mit einem Schwerpunkt im Bereich staatlicher Infrastrukturprojekte.

Entscheidende internationale Unterstützung kommt aus den Monarchien am Arabischen Golf, insbesondere aus Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Kuwait. Ohne deren Finanzhilfen in Milliardenhöhe, die unmittelbar nach dem Umsturz zu fließen begannen, müsste Ägypten den Staatsbankrott erklären. Abgesehen von den politischen Gründen, die hinter dieser Allianz stehen - die Golfmonarchien fürchten das Erstarken der Muslimbrüder im eigenen Land und sehen die ägyptische Führung darüber hinaus als potenten Partner im Dauerkonflikt mit dem Iran - sind es wenig überraschend vor allem wirtschaftliche Interessen, die eine entscheidende Rolle spielen. Die Direktinvestitionen der drei Staaten liegen in etwa auf dem Niveau derjenigen aus westlichen Ländern (46 Mrd. im vergangenen Jahr). Diese gilt es abzusichern. Darüber hinaus fließen gerade durch Großaufträge im Infrastrukturbereich beachtliche Summen an Firmen aus den jeweiligen Geberländern zurück.

Auf der anderen Seite steht das Lager der Sisi-Gegner, das sich aus den Anhängern der Muslimbrüder, Unterstützern Sabahis und der großen Zahl der nicht mit den Muslimbrüdern sympathisierenden Nichtwähler zusammensetzt. Während die Positionen und Beweggründe der Muslimbrüder hinreichend bekannt sind, lohnt es sich an dieser Stelle, einen näheren Blick auf die beiden anderen Gruppen zu werfen.

Die Wähler Sabahis rekrutieren sich vor allem aus dem säkularen, überwiegend links-orientierten Spektrum derer, die die Revolution von 2011 getragen haben. Allerdings ist es Sabahi nicht gelungen, die Unterstützung aller Parteien dieses politischen Spektrums zu gewinnen. Hinzu kommt, dass die nicht-organisierten jugendlichen Aktivisten politisch gespalten waren. Während sich beispielsweise die Dustur-Partei offiziell für Sabahi ausgesprochen hatte, hat die Egyptian Social Democratic Party (ESDP) sich einer Empfehlung enthalten. Ein kleinerer Teil der revolutionären Kräfte - so die Sammlungsbewegung der Tamarrod, die 2013 entstanden war, um die Proteste gegen die Muslimbrüder zu kanalisieren und maßgeblich am Sturz des Mursi-Regimes beteiligt gewesen war - hat sich hinter Sisi gestellt. Insbesondere die jüngere Generation hat er aber nicht mobilisieren können.

Derjenige Teil der Nichtwähler_innen, der nicht zu den Anhängern der Muslimbrüder zu rechnen ist - nach groben Schätzungen etwa die Hälfte - umfasst einen großen Teil der revolutionären Jugend. Viele Aktivisten und Gruppierungen, wie die Bewegung 6. April als größter organisierter Gruppe mit einem landesweiten Netzwerk, wurden zwischen den verschiedenen traditionellen Kräften und dem Militär zerrieben. Gestern noch gefeiert für ihren Enthusiasmus und Mut, der innerhalb von anderthalb Jahren zwei unliebsame Regime zu Fall gebracht hatte, werden sie heute stigmatisiert, verdächtigt oder angeklagt, Chaos und Anarchie im Lande zu verbreiten und die nationale Sicherheit zu gefährden. Das von der Übergangsregierung verabschiedete neue Demonstrationsgesetz, das vorschreibt, Versammlungen und Kundgebungen vorab dem Innenministerium anzuzeigen und den Sicherheitskräften weitreichende Befugnisse gibt, hat zu einer Welle von Verhaftungen junger Aktivisten geführt. Vom Geist der Revolution, als junge Ägypter es wagten, ihren Ärger und Protest auf die Straße zu tragen, das Regime herauszufordern und für eine neue Ära rechtschaffener Regierungsführung, sozialer Gerechtigkeit und den Respekt individueller Rechte und Freiheiten zu kämpfen, ist kaum etwas geblieben. Nur die Schranken der Angst und Einschüchterung scheinen ein für alle Mal durchbrochen zu sein. Jede künftige Regierung wird sich über kurz oder lang auf Widerstand einstellen müssen, wenn zentrale Bedürfnisse der Bevölkerung unbefriedigt bleiben.

Insgesamt haben sich die Fronten zwischen den einzelnen Lagern weiter verhärtet. Während ein Dialog mit den Anhänger_innen und Sympathisant_innen der Muslimbrüder von vornherein abgelehnt und somit ein Drittel der Bevölkerung von der Gestaltung des künftigen Gesellschaftsmodells ausgeschlossen wurde, scheint zunehmend auch der Dialogfaden zwischen den Anhängern Sisis und all denen, die für den Aufbau einer echten demokratischen Alternative eingetreten waren, zu reißen.

Mangel neuer Konzepte

Lange Zeit hatte sich das öffentliche Interesse einzig auf die Frage konzentriert, ob Abdel Fatah al-Sisi zur Wahl antreten wird, oder nicht. Die Frage nach Antworten und Konzepten zur Lösung der gravierenden Probleme des Landes trat angesichts der sich stetig verschlechternden allgemeinen Sicherheitslage und der terroristischen Bedrohung durch al-Qaida-Zellen auf dem Sinai und gewaltbereiten Teilen der Muslimbruderschaft und anderer islamistischer Gruppierungen weitgehend in den Hintergrund. Sisi wurde stilisiert als wohlwollender Militärchef, der schließlich nur auf stetes Drängen des darbenden Volkes und im höheren Interesse des in seinen Grundfesten bedrohten Landes einwilligte, die Last der Präsidentschaft auf seine Schultern zu laden.

Entsprechend ausweichend fielen seine Antworten aus, als er nach erfolgter Kandidatenkür wiederholt auf sein Programm angesprochen wurde. In einem in den Medien ausgestrahlten Interview ließ er beispielsweise wissen, das Volk habe ihn gedrängt, das Amt zu übernehmen. Um über ein Programm nachzudenken habe ihm bisher die Zeit gefehlt. So gibt es wenig Konkretes darüber zu berichten, ob und was sich unter der Regierung Sisis für die breitere Masse der Bevölkerung verändern wird. Die Spielräume sind angesichts der Abhängigkeit von internationalen Gebern und der katastrophalen wirtschaftlichen Situation eng begrenzt. Vieles deutet darauf hin, dass die in den Grundzügen als wirtschaftsliberal zu charakterisierende Wirtschaftspolitik, die schon das Regime Mubarak vertrat und von den Muslimbrüdern im Wesentlichen fortgeführt wurde, auch weiterhin Bestand haben wird. Die prekären Lebensverhältnisse der Bevölkerungsmehrheit werden sich dadurch allerdings nicht verändern, so dass das Protestpotenzial weiterhin bestehen bleibt. Die Strategie besteht darin, mit den Finanzspritzen aus arabischen Golfstaaten Zeit zu kaufen und gleichzeitig mit den Mitteln des Sicherheitsapparates die Kontrolle über gewaltbereite Elemente innerhalb der Gesellschaft wiederzugewinnen. So sollte die gefühlte und tatsächliche öffentliche Sicherheit deutlich verbessert, das Vertrauen auswärtiger Investoren und der so dringend benötigten Touristen wiedererlangt und die Wirtschaft wiederbelebt werden. Ob diese Rechnung aufgeht, ist allerdings ziemlich fraglich. Mittelfristig wird keine Regierung daran vorbeikommen, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, nämlich Subventionen abzubauen, überfällige Strukturreformen durchzuführen, für mehr Wettbewerb und Transparenz zu sorgen und den Haushalt zu konsolidieren. Erst wenn mit diesen Reformen die benötigten Spielräume gewonnen werden, sind dringend notwendige und seit Jahren vernachlässigte Investitionen beispielsweise in das Bildungs- und Gesundheitssystem realistisch.

Ausblick

Es deutet zurzeit nichts auf eine Kabinettsumbildung hin. Sisi scheint hier auf Kontinuität zu setzen. Es ist nicht auszuschließen, dass Sabahi sich nach den noch ausstehenden Parlamentswahlen in der Rolle des Oppositionsführers versuchen wird. Er hätte das Potenzial, die gespaltenen säkularen Kräfte zu einen. Wenn dies gelänge und dazu beitrüge, die gegenwärtigen Blockaden aufzubrechen, oppositionelle Kräfte in einen konstruktiven Dialog einzubinden, tragfähige und realistische Alternativkonzepte vorzuschlagen und so zu einem Wettbewerb der besten Ideen im Interesse der Zukunft des Landes zu gelangen, dann wäre dies eine sehr positive Entwicklung. Angesichts der Dimension der Probleme, mit denen sich Ägypten konfrontiert sieht, wäre ein breit abgestützter Dialog über geeignete Strategien mit Sicherheit wünschenswert. In der gegenwärtigen Polarisierung klingt das allerdings wenig realistisch. Auch bleibt abzuwarten, inwieweit das Parlament angesichts der verfassungsgemäß starken Position des Präsidenten tatsächlich ein Korrektiv bilden kann.

Es deutet derzeit vieles darauf hin, dass die Frustration insbesondere der jungen Generation, die sich um die Früchte der Revolution betrogen sieht, weiter zunimmt, dass die wirtschaftlichen Abhängigkeit von den arabischen Golfstaaten wächst und die sozialen Probleme nicht entschärft werden. Sisi hat ein gewaltiges Vorschusskapital an Vertrauen erhalten, was ihm eine begrenzte Zeit zum Handeln verschafft. All jene, die sich nach den turbulenten Jahren ohne spürbare Verbesserung ihrer persönlichen wirtschaftlichen und sozialen Lage danach sehnen, aufatmen zu können und ihre Familien wieder mit dem Notwendigsten zu versorgen, werden für eine Weile stillhalten. Sie werden abwarten, ob er die immensen Erwartungen erfüllen kann. Aus den oben diskutierten Gründen ist diese Ruhe allerdings trügerisch. Über kurz oder lang wird die Kontrolle und Unterdrückung von Unzufriedenen und Aktivisten nicht mehr darüber hinweg täuschen können, dass die Lebensbedingungen der Masse der Bevölkerung sich in keiner Weise verbessern. Das Dilemma, vor dem die Regierung Sisi steht ist, dass dazu eben jene Entscheidungen und Reformen notwendig sind, die die Interessen ihrer wichtigsten Unterstützergruppen tangieren. Diese Reformen sind somit extrem schwierig durchsetzbar, selbst wenn der politische Wille dafür bestünde. Sollte das nicht gelingen, ist der Ausbruch neuer Proteste oder von Hungerrevolten - wie einige Analysten befürchten - über kurz oder lang fast unausweichlich.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Abdel Fatah al-Sisi rein formal betrachtet auf demokratische Weise ins Amt gewählt worden ist, wobei laut des Berichts der EU-Wahlbeobachter der rechtliche Rahmen in einigen Aspekten hinter internationalen Standards zurückfällt. Der Bericht spricht dennoch von einer - von wenigen Unregelmäßigkeiten abgesehen - korrekt und im Rahmen geltenden Rechts durchgeführten Wahl. Ein Ausdruck breiter Unterstützung oder gar eines gesellschaftlichen Konsenses ist dies jedoch nicht. Ernsthafte Widerstreiter waren entweder gar nicht erst angetreten oder mit den zur Verfügung stehenden Mitteln bereits im Vorfeld an den Rand gedrängt worden. Die eigentlichen Herausforderungen stehen damit erst bevor. Es ist dem Land dringend zu wünschen, dass die Regierung in der Lage sein wird, diesen gerecht zu werden.



Über den Autor

Armin Hasemann ist Leiter der Landesvertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kairo.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2014