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NAHOST/1073: Tunis und Casablanca - Stadtentwicklungspolitiken zwischen "Worlding" und Sozialverträglichkeit (inamo)


inamo Heft 89 - Berichte & Analysen - Frühling 2017
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Tunis + Casablanca - Stadtentwicklungspolitiken zwischen "Worlding" und Sozialverträglichkeit

von Raffael Beier


2011 gerieten die arabischen Städte als Orte der Revolte in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Dieser Artikel widmet sich dem engen Verhältnis von Stadt und Protest und fragt, inwiefern die Stadtentwicklungspolitik in Tunis und Casablanca auf den Arabischen Frühling reagiert hat. Neben Versuchen der strukturellen Erneuerung der Stadtentwicklungspolitik in Tunesien und steigender Bedeutung der sicherheits- und stabilitätspolitischen Dimension in der Stadtplanung, sind zuletzt verstärkt Kontinuitäten, insbesondere im Hinblick auf den Bau von Großprojekten, zu beobachten.


Der sogenannte Arabische Frühling hat die arabischen Städte in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. Doch während die Ursachen und Auswirkungen der "Arabellions" auf politischer und sozialer Ebene ausgiebig thematisiert werden,[1] bleiben Debatten über Folgen für die Stadtentwicklung selten. Dabei finden sich durchaus Argumente dafür, Städte nicht nur als Austragungsorte der Proteste zu betrachten, sondern städtische Marginalisierungstendenzen als Katalysatoren und sogar Auslöser der Aufstände zu sehen.[2] Eine zunehmend nach außen orientierte Stadtpolitik neigte in der Vergangenheit dazu, eher globale Ambitionen zu verfolgen als sich drängenden lokalen Herausforderungen zu widmen. Nachfolgend werden daher Trends der Stadtentwicklung in Nordafrika in Bezug auf ihre Rolle für die Entstehung der Aufstände analysiert und es wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Stadtentwicklungspolitik auf den Arabischen Frühling reagiert hat. Von besonderem Interesse ist, ob ein Wandel hin zu einer stärker nachhaltigen Stadtentwicklung zu erkennen ist oder ob sich die Ziele und Strukturen der Stadtpolitik über die sozialen und politischen Umbrüche hinaus erhalten haben. Dies soll am Beispiel der beiden Hafenmetropolen Casablanca und Tunis aufgezeigt werden, deren Entwicklung in der Vergangenheit auf vergleichbaren Strategien beruhte. Die sehr unterschiedlichen Dynamiken des Arabischen Frühlings, die in beiden Städten zu beobachten waren, machen sie zu reizvollen Vergleichsobjekten.


Stadtentwicklungspolitik im Lichte globaler Ambitionen

In den späten 1980er Jahren erkannten führende Sozialwissenschaftler die Bedeutung sogenannter "Global Cities" oder "World Cities" als Knotenpunkte zunehmender internationaler Verflechtung. Dabei betonten sie die neue räumliche Konzentration globaler Steuerungsfunktionen in den Wolkenkratzern weniger urbaner Zentren des globalen Nordens und konzeptualisierten gleichzeitig weite Teile des globalen Südens als machtlose Globalisierungsperipherie. Viele wirtschaftlich erstarkende Staaten des Südens hatten jedoch die zunehmende sozioökonomische und politische Bedeutung städtischer Zentren erkannt und lehnten es ab, sich mit der Rolle der Peripherie zu begnügen. Ihrem Selbstverständnis als aufstrebende und machtvolle Globalisierungsakteure entsprechend begannen sie aktiv ihre Wahrnehmung in der Welt zu beeinflussen. Eines der Mittel war der Bau und die Vermarktung eigener Städte von Weltrang. In diesem Sinne begannen Stadtplaner in Asien, Afrika, Lateinamerika und der arabischen Welt vermeintlichen Global-City-Standards nachzueifern und errichteten immer höhere Türme und immer mehr "Waterfronts" mit immer spektakuläreren Skylines - oftmals vermarktet durch die Ausrichtung internationaler Mega-Events. Ein Blick auf die Golfstaaten zeigte, dass neuen Großprojekten kaum Grenzen gesetzt scheinen - weder finanzielle noch architektonische oder planerische.[3]

Dieses Wetteifern um städtebauliche Superlative, dieses Streben nach globaler Aufmerksamkeit beschrieben Roy und Ong 2011 in ihrem Buch Worlding Cities.[4] Anders als Sassens Konzept der Global Cities[5] sind Worlding Cities nicht das Produkt objektiv messbarer wirtschaftlicher Bedeutung und Macht, sondern der Versuch die eigene - subjektive - Position in der Welt aktiv zu beeinflussen. Worlding ist kein Privileg weniger führender Metropolen, sondern der Glaube jederzeit, überall und selbstständig Weltklasse erreichen zu können. Worlding Prozesse sind somit Ausdruck postkolonialer Emanzipation und gleichzeitig das in Glas und Stahl materialisierte subjektive Verständnis von nationaler Stärke und Modernität. Stadtplanung im Worlding-Kontext zeichnet sich durch enorme Geschwindigkeit und Dynamik sowie durch den permanenten globalen Vergleich und Wettkampf mit anderen Metropolen aus. Eine Folge ist beispielsweise die weltweite Zirkulation gleicher Planungstrends. Roy und Ong betonen zudem die Bedeutung neuer Süd-Süd-Allianzen aufstrebender Weltmarktakteure. Hierfür sind die Golfstaaten und ihr zunehmender Einfluss auf andere arabische Staaten ein gutes Beispiel. Worlding-Strategien sind in der arabischen Welt jedoch nicht auf die Golfstaaten beschränkt. Die Errichtung einer neuen Hauptstadt in der ägyptischen Wüste oder die Phantasmen des Städtebaukonzepts Kairo2050 stellen nahezu idealtypische Worlding-Projekte dar. Auch in den vermeintlichen Nebenzentren des arabischen Raums gehören Worlding-Strategien spätestens seit der Jahrtausendwende und unter dem zunehmenden Einfluss der Golfstaaten zum städtebaulichen Alltag.[6]

Marokkos König Mohammed VI. hat in Reden mehrfach die Bedeutung städtebaulicher Großvorhaben für die touristischen und wirtschaftlichen Ziele des Landes betont. Im Rahmen der nationalen Tourismusstrategie "Vision 2020", die zum Ziel hat, Marokko bis zum Jahr 2020 zu einer der Top-20 Touristendestinationen weltweit zu machen, soll Casablanca zum attraktiven Anziehungspunkt für internationale Geschäftsreisende ausgebaut werden. Mit Avantgarde-Architektur und prestigeträchtigen Kulturprojekten auf der einen und dem Neubau von Hotels und Kongresszentren auf der anderen Seite soll dieses städtebauliche Ziel von nationaler Priorität verwirklicht werden. Beispiele sind das Waterfront-Vorhaben "Casa Marina" mit seinen gläsernen Hotel- und Kongressgebäuden sowie der Bau des neuen Stadtteils "Casa Anfa" einschließlich des Teilprojekts "Casa Finance City" als neuem Zentrum marokkanisch-afrikanischer Wirtschaftsbeziehungen.

Vergleichbare städtebauliche Praktiken finden sich auch in Tunesien. Insbesondere die Bedeutung von Süd-Süd-Allianzen für städtebauliches Worlding ist im tunesischen Fall offensichtlich. Bereits 1987 - im Jahr der Machtübernahme Ben Alis - entstand ein Public-Private-Partnership mit einem saudischen Investor zur gemeinsamen Erschließung des Nordufers der Lagune von Tunis (Lac de Tunis). Der Einfluss des golfarabischen Investors nahm jedoch im weiteren Projektverlauf zu - begünstigt durch eine zunehmende Steuerung der Waterfront-Vorhaben in Tunis durch den Präsidenten, welche die Mitgestaltung auf städtischer Ebene immer weiter zurückdrängte. Dies führte dazu, dass die "präsidialen Projekte" ab Mitte der 2000er Jahre zunehmend vom lokalen Kontext entkoppelt wurden und sich an städtebaulichen Blueprints aus den Golfstaaten orientierten. Die Pläne zur "Tunis Sports City", einem Waterfront-Projekt am nördlichen Ufer des Lac de Tunis, können gar als Eins-zu-Eins-Kopie der "Sports City" in Dubai angesehen werden. Planung und Entwicklung lagen vor 2011 komplett in der Hand ausländischer Investoren - ohne Studie des lokalen Bedarfs und ohne Konzept zur stadtplanerischen Integration. Auch im Süden des Sees wurden bestehende Pläne zur städtebaulichen Erschließung per präsidialem Beschluss durch das von Sama Dubai durchgeführte Projekt "The Mediterranean Gate" ersetzt.


Stadtentwicklungspolitik im Schatten der Wolkenkratzer

Im Schatten der großen internationalen Bauprojekte zeigen sich die lokalen Probleme zunehmend extern orientierter Stadtplanung: die wachsende Marginalisierung und Stigmatisierung armer Stadtbevölkerung. Im Falle Casablancas wird der Zusammenhang zwischen Worlding-Strategien und Marginalisierung deutlich. Zum einen kommt es zu direkten Verdrängungseffekten: Im Stadtzentrum mussten nach Haussmann'scher Art zahlreiche Häuser der Medina dem Bau eines neuen Prachtboulevards, der Avenue Royale, weichen, der die 1993 errichtete Hassan II.-Moschee mit dem europäischen Zentrum Casablancas verbinden soll. Viele Bewohner blieben ohne adäquate Wohnalternative zurück oder mussten aus der Altstadt an den Stadtrand ziehen. Zum anderen bedeutet Worlding im Kontext von Casablanca auch das Streben nach westlichen, vermeintlich globalen und modernen Idealen der Stadtplanung. Armenviertel, insbesondere dort wo sie "sichtbar" sind (z.B. an Eisenbahn- oder Straßenbahntrassen oder in der Nähe des Flughafens), haben in den modernisierten Städten zunehmend keinen Platz mehr. Ihre Bewohner wurden und werden in die Außenbezirke verdrängt bzw. umgesiedelt. In diesem Zusammenhang sind die Selbstmordanschläge von perspektivlosen, jugendlichen Bewohnern der Armenviertel, die 2003 im Zentrum Casablancas stattfanden, zu erwähnen. Wenig später erklärte König Mohamed VI. den informellen Siedlungen den Kampf und rief das Projekt "Städte ohne Slums" ins Leben, dass zum Ziel hat, alle Bewohner von Hüttensiedlungen in eine Art sozialen Wohnungsbau am Stadtrand umzusiedeln. Dabei betont er die Gefahr der Existenz "anarchischer" Siedlungen für den internationalen Ruf und die wirtschaftlichen Ambitionen Marokkos. Das vermeintlich von Slums ausgehende Image eines unsicheren und rückständigen Landes wirke abschreckend auf Investoren und Touristen. Eine weitere Reaktion auf die Anschläge war die staatlich geförderte Gründung zahlreicher Nachbarschaftsorganisationen, die im Auftrag und unter der Kontrolle des Innenministeriums soziale Projekte, Sport- und Freizeitaktivitäten in benachteiligten Vierteln durchführen. Dies hat den Einfluss des Innenministeriums, das in erster Linie im sicherheitspolitischen Interesse handelt, in diesen Vierteln erhöht.

In Tunis sind Verdrängungsprozesse im Kontext der Gentrifizierung der Altstadt zu beobachten, jedoch kaum im Zusammenhang mit städtebaulichen Großprojekten. Tunis' informelle Siedlungen sind seit den 1970er-Jahren mit französischer Unterstützung aufgewertet worden. Diese Praktiken, von einheimischen Beobachtern auch als "Catch-Up-Stadtplanung" bezeichnet, haben städtebauliche Missstände, wie den fehlenden Anschluss an städtische Infrastruktur behoben, ohne dabei jedoch langfristige Ziele sozioökonomischer Integration zu verfolgen. Die meisten Haushalte ärmerer Stadtteile sind weiterhin abhängig vom Schwarzhandel, der polizeilicher Willkür unterliegt und unter Schutzgeldzahlungen leidet. Während Worlding-Strategien die ärmeren Viertel in Tunis kaum betreffen, haben sie die regionalen Disparitäten landesweit wesentlich verschärft. Rund um Tunis und die Küste entlang häufen sich städtebauliche sowie touristische Großvorhaben; dagegen hat das mono-wirtschaftlich geprägte, infrastrukturell benachteiligte und touristisch kaum attraktive Hinterland wenig ausländisches Investoreninteresse hervorgerufen. Dem präsidialen Planungsverständnis nach war die Region somit uninteressant, was deren Marginalisierung weiter verstärkte.


Tunis und Casablanca im Arabischen Frühling

Genau in diesen politisch wenig beachteten und strukturell benachteiligten Regionen brach Ende 2010 der Arabische Frühling aus und begann sich in die gesamte arabische Welt auszubreiten. Während Tunesiens Diktator Ben Ali außer Landes floh und den Weg frei machte für langfristige politische Erneuerungen, erlebte Marokko eine Serie von Protesten im Rahmen der "Bewegung 20. Februar", die nach gezielten Reformen, Neuwahlen und der Abstimmung über eine neue Verfassung relativ schnell wieder abklangen. Um die stadtpolitischen Reaktionen auf diese Entwicklungen besser verstehen zu können, ist ein Blick auf die lokalen und regionalen Kontexte der Revolten sowie die spezifischen Protest-Dynamiken in Casablanca und Tunis unabdingbar.

In Tunesien waren von Beginn an regionale Disparitäten ein entscheidender Faktor der Revolten. Gemeinhin gilt die Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis in der Kleinstadt Sidi Bouzid am 17. Dezember 2010 als Auslöser des Arabischen Frühlings. Sie war jedoch nur der vorläufige Höhepunkt einer über Jahre andauernden Serie von Protesten im wirtschaftlich abgehängten und systematisch benachteiligten tunesischen Hinterland gegen die Ignoranz der Zentralregierung in Tunis. Streiks von Minenarbeitern in der Region um Gafsa so wie Aufstände im Süden des Landes an der Grenze zu Libyen wurden 2008 und 2010 radikal niedergeschlagen. Beobachter sind sich einig, dass sich die Selbstverbrennung Bouazizis wohl kaum zu einer Revolution entwickelt hätte, wenn sie nicht im Kontext dieser Proteste - Peripherie vs. Zentrum - gestanden hätte.[7] In Tunis waren es im Januar 2011 zunächst ebenfalls die ärmeren Viertel wie Ettadhamoun, in denen die Proteste stattfanden, ehe zunehmend auch wohlhabendere Schichten teilnahmen und die Demonstrationen das Stadtzentrum erreichten. Vor allem die Massenkundgebung auf der Avenue Habib Bourguiba am 14. Januar 2011 sowie die zweimaligen, jeweils mehrere Tage andauernden Sit-ins auf dem Place du Gouvernement in der Altstadt von Tunis blieben in Erinnerung.

Im Unterschied zu Tunesien, wo das Internet erst im späteren Verlaufe der Proteste entscheidend wurde, begann die Protestbewegung in Marokko im digitalen Raum und nicht auf der Straße. Der Aufruf zu landesweiten Demonstrationen am 20. Februar 2011 kam allerdings nicht aus dem Nichts, sondern wurde getragen von unterschiedlichen bereits bestehenden Gruppierungen, insbesondere von linkspolitischen Gruppen, der Vereinigung arbeitsloser Hochschulabsolventen, mehreren islamistischen Gruppierungen und der Amazigh-Bewegung. Mit deren freiheitlich-politischen Zielen konnten sich andere Protestgruppen, vor allem in den strukturschwachen ländlichen Regionen Marokkos, allerdings kaum identifizieren.[8] So entwickelte sich die "Bewegung 20. Februar" von Beginn an hauptsächlich im Zentrum des Königreichs, im digital gut vernetzten, jungen urbanen Milieu und nicht, wie in Tunesien, in der sozioökonomischen Peripherie. Hieraus entstanden Legitimitätsprobleme der Bewegung, die sich zum Beispiel auf kleinräumiger Ebene in Casablanca zeigten. Während die Demonstrationen der "Bewegung 20. Februar" im Stadtzentrum Casablancas stattfanden, blieb es in der urbanen Peripherie ruhig. Im Laufe der späteren Kampagne zum Verfassungsreferendum schlugen Mobilisierungsversuche seitens der "Bewegung 20. Februar" in den ärmeren Vierteln Casablancas fehl. Stattdessen fanden dort, teilweise durch lokale Politiker organisierte, royale Solidaritätskundgebungen statt.


Der Arabische Frühling: Neustart der Stadtentwicklungspolitik?

2010 rückten die arabischen Städte in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Zeitgleich gerieten die jahrelang etablierten politischen Strukturen vieler arabischer Staaten ins Wanken. Daraus resultierten Einschnitte und Veränderungen für die Stadtplanung, welche sich in unterschiedlicher Weise gezwungen sah auf die Revolten zu reagieren. Dabei war zunächst erkennbar, dass Planungsakteure gezielt auf spezifische lokale Hintergründe und Dynamiken der Proteste eingingen. So haben in Tunesien die regionalen Disparitäten, die wesentlich zum Ausbruch der Revolutionen beitrugen, zu einer Strukturreform der Stadtpolitik geführt. Das politische System wird dezentralisiert und Entscheidungsmacht ausgelagert. Der Aufbau funktionsfähiger lokaler Governance-Strukturen und einer bürgernahen lokalen Demokratie soll das Vertrauen der Bevölkerung in den Staatsapparat verbessern und als Basis für größeren regionalen Ausgleich dienen. Wichtige Aspekte sind dabei die Erhöhung kommunaler Budgets, mehr Entscheidungstransparenz, Bürgerbeteiligung, besser ausgebildetes Personal in peripheren Kommunen, die Einführung neuer Distrikte, die jeweils strukturstarke und -schwache Gebiete umfassen, sowie direkte Kommunalwahlen. Allerdings wird die Dezentralisierungsreform politisch von Tunis aus gesteuert und kommt trotz klarer Vorgaben der neuen Verfassung von 2014 nur langsam voran. Ein Beispiel hierfür sind die Kommunalwahlen, die mehrfach verschoben wurden und nun erst im März 2017 stattfinden sollen. Auch die neue Kommunalfinanzierung ist weiterhin nicht geklärt. Zwar existieren seit 2013 Ansätze eines kommunalen Finanzausgleichs, jedoch bleiben die kommunalen Finanzmittel gering. So beruhen erste Erfolge weitestgehend auf zivilgesellschaftlichem Engagement sowie der Unterstützung durch ausländische Entwicklungshilfeorganisationen, die bürgerschaftliches Engagement, Transparenz sowie lokale Kapazitätsbildung in Einzelprojekten fördern. Viele Organisationen konzentrieren sich dabei explizit auf benachteiligte Regionen und Bevölkerungsgruppen, insbesondere Jugendliche, die unter hoher Arbeitslosigkeit leiden. Ohne dringend benötigte Investitionen werden dezentrale Strukturen die sozioökonomischen Probleme des tunesischen Hinterlandes aber wohl kaum lösen können. Dass diese Probleme weiterhin unverändert hoch sind, zeigten auch neue Proteste gegen die gravierende Arbeits- und Perspektivlosigkeit, die im Januar 2016 in der Ursprungsregion des Arabischen Frühlings ausbrachen.

Die Stadtpolitik in Casablanca hat auf die Herausforderungen von 2011 ebenfalls reagiert, allerdings ohne stadt- und regionalpolitische Strukturreformen zu verfolgen. Schließlich stammt die "Bewegung 20. Februar" nicht aus den benachteiligten Vierteln und Regionen des Königreichs, weswegen Aspekte von Marginalisierung weniger relevant waren als in Tunesien. Während der König auf die freiheitlich-politischen Forderungen der Protestierenden einging, wurden gleichzeitig Maßnahmen ergriffen, um ein Übergreifen der Proteste auf benachteiligte Stadtquartiere zu verhindern. Jene Viertel sind in der Vergangenheit gleich mehrfach Austragungsort gesellschaftlich bedeutender Aufstände gewesen. So ist der öffentliche Raum in den Armutsquartieren Casablancas zum umkämpften Raum geworden. Lokale Politiker versuchten direkt sowie indirekt über loyale Nachbarschaftsorganisationen die öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen und Stimmung gegen die "Bewegung 20. Februar" zu machen. Jene wiederum versuchte durch Sit-ins in selbigen Stadtquartieren Anhänger zu gewinnen - ohne Erfolg. Gleichzeitig haben staatliche Akteure ins Stocken geratene Umsiedlungsprojekte aus Casablancas informellen Siedlungen wieder forciert. Die Möglichkeit, in ein eigenes Haus mit legalem Besitztitel umzuziehen, wird von vielen Bewohnern als positiv angesehen und sollte das Vertrauen in die neue Regierung unter der Führung der moderat-islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), die in vielen Armutsvierteln besonders populär ist, stärken. Die Modalitäten der Umsiedlung wirken zudem kollektivem Protest entgegen, da sich die Konflikte um Wohnraum auf die individuelle Ebene verlagern und im Verhältnis einzelner Bewohner zur lokalen Verwaltung oder zu einzelnen Bauherren entstehen.

Parallel zu diesen stadt- und regionalplanerischen Reaktionen stieg die sicherheits- und stabilitätspolitische Bedeutung der Stadtplanung weiter an. Die seit 2011 verstärkte Fokussierung auf benachteiligte Gruppen und Regionen beziehungsweise Viertel folgt nicht nur dem Ziel der sozioökonomischen Integration, sondern primär der Wiederherstellung und Wahrung von Stabilität und Sicherheit. Sowohl in Tunis als auch in Casablanca - ob neues demokratisches oder reformiertes autoritäres Regime - leiten sicherheitspolitische Aspekte die Entwicklung der urbanen Peripherie. Die Forcierung von Casablancas Slum-Umsiedlungsprogramm folgt ebenso sicherheitspolitischen Zielen wie die vom Innenministerium veranlasste Aufstockung der Mittel für soziale und kulturelle Projekte zivilgesellschaftlicher Organisationen in benachteiligten Vierteln. Dabei gefährdet insbesondere die Umsiedlung von Slumbewohnern sozial nachhaltige Stadtentwicklungsziele, indem sozial benachteiligte Familien aus etablierten sozialen und wirtschaftlichen Strukturen herausgerissen werden. In Tunesien verfolgt die Verlängerung und Ausweitung landesweiter Programme zur Verbesserung der Infrastruktur informeller Viertel ähnliche Absichten. Bereits zu früheren Zeiten hatte "Catch-Up Stadtplanung" dem Zweck gedient, Protesten der Bewohner informeller Siedlungen entgegenzuwirken. Im neuen Programm finden sich nun deutlich mehr peripher gelegene Kommunen als zuvor. Gleichzeitig jedoch ist die Zahl der informellen Bauten in Folge des Zusammenbruchs früherer Sicherheitssysteme sprunghaft angestiegen. Die Politik ist nicht in der Lage, oder sie scheut sich, diesem Trend entschieden entgegenzuwirken und konterkariert so die eigenen Aufwertungsprojekte, während langfristige Stadtentwicklungsstrategien weiter fehlen. Anders ausgedrückt liegt der Fokus auf der (teuren) Beseitigung der Symptome, nicht aber auf der Bekämpfung der Ursachen von Marginalisierung. Zwar mag das Ziel der schnellen Sicherung sozialer Stabilität politisch legitim sein, es läuft jedoch Gefahr bestehende Abhängigkeiten zu verstärken und alte Muster der Stadtplanung zu verfestigen anstatt einen Neuanfang hin zu mehr sozial nachhaltiger Stadtentwicklung zu fördern.

Tatsächlich war zuletzt vermehrt der Trend zurück zum Status quo der Stadtpolitik vor 2011 zu beobachten. Dies zeigte sich unter anderem in der Wiederkehr von Worlding-Großproiekten, von denen sich die Regierungen zunächst, in Reaktion auf die Revolten und im Zuge der politisch unübersichtlichen Lage, distanziert hatten. Auch hier ist der stadtplanerische Wunsch, Stabilität möglichst schnell wiederherzustellen und zu vermarkten offensichtlich. In Tunesien offenbarte der politische Umsturz ein enormes Ausmaß von Korruption im Rahmen der Großprojekte "The Mediterranean Gate" und "Tunis Sports City" am Ufer der Lagune von Tunis. Zudem häuften sich Stimmen, die die städtebauliche Verträglichkeit isolierter Großvorhaben und die fehlende Berücksichtigung des lokalen Bedarfs kritisierten. Neben den Effekten der Finanzkrise führte dies zur vorübergehenden Stilllegung der Projekte. Spätestens aber mit dem im September 2014 angekündigten Bau der "Tunisia Economic City" in unmittelbarer Nähe des internationalen Flughafens von Hammamet sind Worlding-Projekte zurück auf der Agenda. Laut Selbstbeschreibung will das Vorhaben nicht nur den Tourismus fördern, sondern auch Tunesiens geostrategische Bedeutung als Handelsplatz verbessern. Ein Jahr später wurde auch die Wiederaufnahme der Waterfront-Projekte "The Mediterranean Gate" und "Tunis Sports City" verkündet. Die Wiedereinführung und Erweiterung von Worlding-Projekte dient zunächst - ganz im Sinne keynesianischer Wirtschaftspolitik - kurzfristigen Beschäftigungs- und Wachstumszielen. Des Weiteren zielen die Vorhaben darauf ab, über eine verbesserte Außendarstellung, den für Tunesien so wichtigen Tourismussektor zu reanimieren. Stadtplanerische Ziele folgen in der Rangordnung erst danach.

Während Tunesien gerade wieder zurück ist bei "Worlding as Usual", gab es in Marokko kaum einen Einbruch. Im Gegenteil sieht Marokko in der Instabilität der Region eine Chance, sich als einzigen sicheren Standort in Nordafrika zu vermarkten. Dies zeigt sich im Fall Casablancas in der Fortführung bestehender Vorhaben wie "Casa Marina" und "Casa Anfa". Auch das umstrittene Projekt der Avenue Royale wurde trotz Kritik an den Umsiedlungen und der Zerstörung der Medina fortgesetzt. Zudem entsteht das neue Großprojekt "Rabat Ville Lumiére", welches die marokkanische Hauptstadt eigenen Angaben zufolge in eine Metropole von Weltrang umwandeln soll. Die Forcierung von Großprojekten in den Metropolen Marokkos läuft Gefahr - ähnlich wie in Tunesien - die schon erheblichen regionalen Disparitäten weiter zu vergrößern. Die politischen Reaktionen des Königs auf den Arabischen Frühling haben sich primär auf die "Bewegung 20. Februar" bezogen, während die eher isolierten Proteste im ländlichen Raum kaum adressiert wurden. Erste Dezentralisierungsansätze mag die neue Verfassung liefern, doch bislang zeichneten sich - auch mangels Umsetzungsbestimmungen bis 2016 - kaum praktische Veränderungen ab. Ähnlich wie im Januar 2016 in Tunesien, brachen auch in Marokko im Oktober 2016 ausgehend von der regionalen Peripherie neue Proteste aus, die durchaus als Ausdruck wachsenden Unmuts gegenüber dem Zentrum gedeutet werden können.

Abschließend lässt sich festhalten, dass trotz der tunesischen Bemühungen die Stadtpolitik strukturell zu reformieren, für den Augenblick vor allem stadtentwicklungspolitische Kontinuitäten zu beobachten sind. Primäres Ziel der Stadtpolitik nach dem Arabischen Frühling ist die kurzfristige Sicherung politischer Stabilität, was die Fortführung "alter" Praktiken fördert. In Casablanca und Tunis werden weiter hauptsächlich Worlding-Großprojekte verfolgt, während in der urbanen Peripherie einerseits Abhängigkeiten, andererseits Kontrolle wachsen. Zudem zeugen erneute Proteste in den strukturschwachen Regionen beider Länder von wachsenden, beziehungsweise unverändert hohen, regionalen Disparitäten. Die marokkanische Regionalentwicklungspolitik ist diese Problematik bislang unzureichend angegangen. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass der tunesische Versuch eines Aufbaus lokaler Governance-Strukturen bald Früchte trägt und der Versuch einer langfristig ausgerichteten, sozial nachhaltigen Regional- und Stadtentwicklung - zumindest ansatzweise - umgesetzt werden kann.


Raffael Beier studierte Stadtgeographie in Bochum und Grenoble und ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik der Ruhr-Universität Bochum. Dort promoviert er im Rahmen des gemeinsamen Doktorandenprogramms mit dem International Institute of Social Studies in Den Haag über die Umsiedlung von Bewohnern informeller Siedlungen in Marokko.


Anmerkungen

[1] Siehe z.B. Anette Jünemann und Anja Zorob (Hg.) (2013) Arabellions. Zur Vielfalt von Protest und Revolte im Nahen Osten und Nordafrika. Wiesbaden, Springer VS.

[2] Für eine weitergehende Diskussion siehe Raffael Beier (2016) Shifting Urban Policies in North Africa after the "Arab Spring" - Urgent Reaction or Real Changes? Berlin, Klaus Schwarz Verlag.

[3] Siehe z.B. Steffen Wippel, Katrin Bromber, Christian Steiner und Birgit Krawietz (Hg.) (2014) Under Construction. Logics of Urbanism in the Gulf Region. Farnham und Burlington, VT, Ashgate.

[4] Ananya Roy und Aihwa Ong (Hg.) (2011) Worlding Cities. Asian Experiments and the Art of Being Global. Chichester, Wiley-Blackwell.

[5] Saskia Sassen (1994) Cities in a World Economy. Thousand Oaks, Pine Forge Press.

[6] Siehe Pierre-Arnaud Barthel (2008) Faire du "grand projet" au Maghreb. L'exemple des fronts d'eau (Casablanca et Tunis). In GéoCarrefour 83(1), 25-34.

[7] Siehe z.B. Habib Ayeb (2011) Social and Political Geography of the Tunisian Revolution. The Alfa Grass Revolution. In Review of African Political Economy 38 (129), 467-479.

[8] Siehe z.B. Koenraad Bogaert (2015) The Revolt of Small Towns. The Meaning of Morocco's History and the Geography of Social Protests. In Review of African Political Economy 42 (143), 124-140.

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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 89, Frühling 2017

Gastkommentar
- Mossul ...
­... droht die vollständige Zerstörung. Von Jürgen Guilliard

Stadtentwicklung
- Wege zur Neuerfindung der Stadt im Nahen und Mittleren Osten. Von Christian Steiner und Steffen Wippel
- Das Dubai-Modell: Herrschaftsstabilisierung durch Stadtentwicklung. Von Christian Steiner
- Neoliberale Rekonfigurationen und urbane Regeneration in Muscat und Doha. Von Jonas Margraff und Nadine Scharfenort
- Wenn Firmen Städte bauen: El Gouna als Pionier einer unternehmerischen Stadtvision. Von Felix Hartenstein
- Stadtentwicklung im postrevolutionären Kairo: Spiegelbild Dubais oder Keynesianismus auf Droge. Von Khaled Adham
- Tunis und Casablanca: Stadtentwicklungspolitiken zwischen "Worlding" und Sozialverträglichkeit. Von Raffael Beier
- Tanger: Stadtum- und -ausbau zwischen Globalisierung und Fragmentierung. Von Steffen Wippel
- Mekka und Medina, die heiligen Städte Arabiens am Kreuzweg der Geschichte. Von Atef Alshehri
- Zwischen Spiritualität und Kulturtourismus: Neo-Osmanische Stadtentwicklung in Eyüp, Istanbul. Von Ayse Öztürk
- "Duschanbe goes global" - Tadschikistan zwischen Golfisierung und Islamisierung. Von Manja Stephan-Emmrich

Syrien
- John Kerrys Eingeständnis: "Die USA halfen ISIS in Syrien und Russland bekämpfte den Terror". Von Philipp Weiss
- Fünf Fehler, die der syrischen Opposition zum Verhängnis werden. Von Sami Kleib

Saudi-Arabien
- Saudi-Arabiens Traum der dominanten Kraft in der muslimischen Welt ist geplatzt. Von Patrick Cockburn

Palästina/Israel
- Aus der Traum: Das Friedenskino von Jenin weicht einem Einkaufszentrum. Von Irit Neidhardt
- U-Boote und Korvetten von thyssenkrupp für Israel. Von Shir Hever

Sudan/Südsudan
- Sudan-Sanktionen gelockert, Südsudan-Waffenembargo gescheitert. Von Roman Deckert

Essay
- Islamischer Messianismus. Von Reinhard Möller

Nachruf
- Der Teufel hat das Fragen erfunden - Sadik J. Al-Azm, Weltbürger und Enfant Terrible. Von Kai-Henning Gerlach

Wirtschaftskommentar
- Der niedrige Ölpreis birgt Turbulenzen. Von Karin Kneissl

Zeitensprung
- 1798: Mit Napoleon kam der Buchdruck nach Ägypten. Von Norbert Mattes

Ex mediis
- Tayfun Guttstadt: Gestrandet. Geflüchtete zwischen Syrien und Europa - Eine Reportage aus der Türkei. Von Jan Rübel
- Judit Tavakoli: Zwischen Zelten und Häusern - Identitätskonzepte saharauischer Flüchtlinge in Algerien. Von Friedemann Neumann
- Abdallah Laroui: Philosophie et histoire, und Zineb El Rhazoui: Détruire le fascisme islamique. Von Jörg Tiedjen

Nachrichtenticker

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Quelle:
INAMO Nr. 89, Jahrgang 23, Frühling 2017, Seite 24-28
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2018

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