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NAHOST/494: Systematische Vertreibung von Dorfbewohnern aus ihrem Tal in der Westbank (EI)


The Electronic Intifada, 17. März 2009

Vertreibung von Dorfbewohnern aus ihrem Tal in der Westbank

Von Dr. Marcy Newman


Die Westbank-Gemeinde Akraba liegt im Jordantal geborgen, etwa 20 Kilometer südöstlich von Nablus und rund 50 Kilometer östlich der israelischen Mauer, die die Palästinenser in dem Gebiet, das nun als Israel betrachtet wird, von jenen trennt, die in der Westbank leben. Es befindet sich so nahe der jordanischen Grenze, daß die palästinensischen Handys hier so aktiv sind, als sei man in Jordanien.

9.000 Menschen leben in diesem Ort, die meisten von ihnen auf dem Berg, doch haben diese Familien nicht immer hier gewohnt. 1968, kurz nachdem Israel die Westbank und den Gazastreifen besetzt hatte, als 400.000 Palästinenser zu Flüchtlingen wurden, viele zum zweiten Mal, flohen Hunderte Palästinenser aus Akraba nach Jordanien. Die Bewohner flüchteten, weil sie Berichte von Massakern in nahegelegenen Ortschaften gehört hatten, wie es 1947/48 schon einmal geschehen war, in einer Zeit, die man als Nakhba oder Katastrophe bezeichnet, als mindestens 700.000 Palästinenser von ihrem Land vertrieben wurden. Von alther waren die ortsansässigen Familien Bauern und Schafhirten und nutzten das gesamte Land, das sich bis zum Jordan erstreckte. Seit 1967 jedoch werden sie beständig durch die israelischen Besatzungskräfte das Tal hinaufgedrängt, gute 20 bis 30 Kilometer fort von dem Land, das ursprünglich ihnen gehörte. Zunächst fand eine Zwangsumsiedlung statt, weil man das Land als militärisches Übungsgebiet konfiszierte. Dann wurde 1973 ein Teil des Landes zur Siedlung Gitit umgewandelt, die auf dem Berg über dem Tal von Akraba liegt.

Von Beginn an setzten das israelische Militär und illegale Siedler gleichermaßen Gewalt ein, um Platz für mehr Siedlungen in dem Gebiet zu schaffen. Abu al Aez erinnert sich an die Flucht seiner Familie 1974 aus dem Tal ins Zentrum von Akraba auf dem Berg, nachdem eine von der israelischen Besatzungsarmee abgeschossene Rakete ihr Haus getroffen hatte: "Dreißig Donum [1] Land wurden uns gestohlen und jetzt pflanzen die Siedler dort Weintrauben."

Offiziellen Berichten zufolge hat die israelische Armee in der vergangenen Woche den Befehl gegeben, sechs Häuser, die angrenzenden Schuppen, eine Grundschule und eine Moschee im Tal von Akraba zu zerstören. Familien dort äußern indes den Verdacht, daß man bis zu 20 Häuser zerstören wird. Am 26. März soll vor einem israelischen Kolonialgericht in Beit El, einer Siedlung in der Nähe von al-Bireh, eine Anhörung in ihrer Sache stattfinden, in der sie diese Entscheidung anfechten.

Die Straßen, die in das Tal hinunterführen, in dem die zur Zerstörung vorgesehenen Häuser liegen, befinden sich in Region C, während der auf dem Berg liegende Teil des Ortes Region B zugehört. Unter dem Oslo-Vertrag wurde die Westbank in die Gebiete A, B und C aufgeteilt, jeweils bezogen auf städtische Regionen, feste Ortschaften und ländliche Regionen. Diesem Vertrag zufolge unterliegt das zivile Leben einschließlich der Sicherheit eigentlich der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde; Gebiet C hingegen wird vollständig von den israelischen Besatzungskräften kontrolliert. Man erkennt den Unterschied, wenn man in das Tal fährt und die Straße von einer ausgebauten zur unbefestigten wechselt (weite Teile der befestigten Straße wie auch die Elektrizität, wurden allerdings erst vor zwei Jahren eingerichtet). Die Palästinensische Autonomiebehörde nimmt in Gebiet B eine eingeschränkte Autonomie wahr, während Gebiet C - das 59 Prozent der Westbank umfaßt - unter israelischer Militärverwaltung steht. Auf einer unbefestigten Hauptstraße, die unten im Tal mitten durch das Farmland verläuft - einer Straße, die von der israelischen Besatzungsarmee geschaffen wurde - findet man Steine, die vor kurzem mit roter Sprühfarbe markiert worden sind. Ortsansässige glauben, dies bedeute, daß ihre Häuser zerstört werden sollen, um eine rein jüdische Straße zu schaffen, die die umliegenden illegalen israelischen Siedlungen Gitit, Itamar, Jitzhar und Hamra verbindet.

Wie im Fall vieler Ortschaften in der Westbank, die von illegalen Siedlungen umgeben sind, wird das Gebiet von Akraba täglich vom israelischen Militär und regelmäßig von israelischen Siedlern heimgesucht. In den Jahren 1975 bis 1982 wurden regelmäßig Hirten von der israelischen Armee verhaftet. Während die Schäfer im Gefängnis saßen, konfiszierte man ihre Schafe und zwang sie dann, 10 jordanische Dinare pro Schaf zu zahlen, wenn sie diese nach ihrer Freilassung wiedererlangen wollten. Seit dem Ausbruch der Zweiten Intifada im September 2000 ist mindestens ein Schäfer pro Jahr von israelischen Siedlern umgebracht worden. Am bekanntesten wurde der Fall von Jahia Ateja Fahmi Bani Maneja, einem 18jährigen Schäfer, den Siedler im September 2008 ermordeten. Diese tägliche Bedrohung seit 1967 hatte zur Folge, daß zahlreiche Familien, die Land im Tal besitzen, um ihre Tiere zu weiden und Nahrung anzubauen - Feldbohnen, Linsen und Weizen -, ihr Vieh verkauft haben und in den Teil Akrabas gezogen sind, der oben auf dem Berg liegt. Wer umgezogen ist und dennoch versucht hat, das eigene Land weiter zu nutzen, wurde von der israelischen Armee daran gehindert.

Wenn man in das Tal fährt, sieht man noch immer Hirten draußen mit ihren Schafen, die auf dem Land weiden. Der Ort selbst ist 250 Jahre alt, die ursprünglichen Häuser jedoch mehr als 100 Jahre. Als die Familien sich vergrößerten, haben sie lediglich an die alten Strukturen angebaut und nutzen diese nach wie vor. Man kann die Geschichte dieser Familien verfolgen, weil die Häuser neben den Höhlen gebaut wurden, die sie mit ihren Schafen bereits vor Generationen bewohnten, bevor sie Häuser errichteten. Die Grundschule und die Moschee sind jüngeren Datums, aber auch diese Gebäude wurden wie die Wohnhäuser zur Zerstörung bestimmt - in diesem letzten Abschnitt der ethnischen Säuberung, die 200 Menschen trifft, die seit Generationen in diesem Tal leben. Es sind die letzten Familien, die nicht nach Jordanien oder ins Zentrum von Akraba geflohen sind.

Jede Familie in Akraba hat eine ähnliche Geschichte zu erzählen: von Verwandten, die 1967 nach Jordanien geflohen sind, von Verwandten, die ins Zentrum von Akraba geflohen sind und ihre bäuerliche Lebensweise aufgegeben haben, von der drohenden Enteignung. Wie viele Menschen in Akraba können Fatima und Maher Anas ihre Familien über Generationen hinweg zurückverfolgen, den Wechsel von der Höhle zum Haus, von dem ein Teil vor über 200 Jahren gebaut wurde. Wie vielen anderen Familien ist ihnen ein Großteil ihrer Lebensgrundlage durch die Bulldozer der israelischen Armee genommen worden, die im letzten Jahr ihren ganzen Weizen zerstörten. Viele ihrer Verwandten flohen nach Jordanien ins Flüchtlingslager Zarka und teilen das Schicksal weiterer Familien aus Akraba.

Fatima überlegt, was geschieht, wenn man den Rest ihrer Familie im Land zu Flüchtlingen macht, und erklärt: Wenn sie unsere Häuser zerstören, werden sie auch das Getreide zerstören und unsere Möglichkeit, Nahrung zu produzieren. Wenn wir nicht länger Nahrung anbauen können, was ist dann mit unserem Auskommen?

Fatimas Bruder Jusef hat dieses Schicksal bereits getroffen. Der Moschee gegenüber befinden sich die Fundamente von Jusef Nasrallahs Haus, die zerstört werden sollen. Er hat letztes Jahr angefangen zu bauen und dann von der israelischen Armee den Befehl zum Baustop erhalten. Wie viele vor ihm hat Jusef seine Schafe verkauft und ist in das Zentrum von Akraba gezogen, wo er keine Arbeit findet.

Ganz sicher ist diese letzte Phase der ethnischen Säuberung von Akraba kein Einzelfall, weder in der Westbank noch in dem Teil des historischen Palästina, der jetzt als Israel angesehen wird. In dieser Woche wurden zwei palästinensische Häuser und 100 Ölbäume in der Negev-Stadt Beer Seba zerstört, die jetzt hebräisiert Beersheva genannt wird. In der Westbank von Kalkilija über Hebron bis nach Ost-Jerusalem warten Familien auf die Entscheidung über den Befehl zum Abriß ihrer Häuser. Während die drohende Zerstörung palästinensischer Häuser in Ost-Jerusalem viel Aufmerksamkeit erregt, gibt es für Familien in kleinen Orten wie Akraba wenig bis keine Beachtung durch die Medien und kaum Unterstützung. Im Ost-Jerusalemer Viertel Silwan sammeln sich Palästinenser in Scharen um das Protestzelt, das errichtet wurde, um Solidarität zu demonstrieren. In Akraba hat es solche Solidaritätsbesuche nicht gegeben. Israels koloniale Teile-und-herrsche-Politik vereinzelt die Menschen zunehmend, indem sie sie durch ein System von Checkpoints und Genehmigungen physisch voneinander trennt. Aber hier geht es nicht allein um die Besetzung der Westbank. Tatsächlich wurden während der Katastrophe von 1948 die gleichen Methoden eingesetzt, um große Landstriche zu konfiszieren. Die Nakhba setzt sich fort und macht es zwingend, die Lektion aus der Geschichte zu lernen, sich nicht der Trennung zu unterwerfen, die das Kolonialregime auferlegt.


Dr. Marcy Newman ist assoziierte Professorin für Englisch an der An Najah National University in Nablus, Palästina. Weitere Texte von ihr sind unter bodyontheline.wordpress.com zu finden.


[1] 1 Donum entspricht 1.000 m²

Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

Englischer Originaltext mit Bildern:
http://electronicintifada.net/v2/article10398.shtml

© Dr. Marcy Newman



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Quelle:
The Electronic Intifada, 17. März 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2009