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NAHOST/625: Einführung von Ilan Pappe zur deutschen Übersetzung des Goldstone-Berichts (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 10. März 2010

Systematische Tötung
Vorabdruck. Das Schlachtfeld Gaza 2004-2009.
Vorwort zur deutschen Übersetzung des Goldstone-Berichts (Teil I)

Von Ilan Pappe


Am 15. September 2009 veröffentlichte die »Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für den Gaza-Konflikt« einen umfangreichen Bericht über den Gaza-Krieg 2008/2009. Der unter Federführung des südafrikanischen Richters Richard Goldstone verfaßte Report dokumentiert zahlreiche Kriegsverbrechen gegen Zivilisten, die die israelische Armee während der »Operation Gegossenes Blei« begangen hatte. Auch der palästinensischen Organisation Hamas werden in dem Bericht Angriffe gegen zivile Ziele angelastet. Angesichts der Kriegsrealität richtet sich die Kritik jedoch vor allem an die israelische Seite, die ihre Ablehnung dann auch in diversen regierungsoffiziellen Erklärungen kundtat. So diffamierte Israels Präsident Schimon Peres Goldstone als »unbedeutenden und unwissenden Juristen«, Kommentatoren sprachen von »Antisemitismus«, und die große israelische Abendzeitung Maariv schrieb: »Goldstone - ein Verbrecher«.

Der Goldstone-Bericht, über den in der UN so heftig gestritten wird, erscheint in diesen Tagen im Melzer Verlag in deutscher Übersetzung. Der Bericht wurde von 20 freiwilligen Volontären aus den verschiedensten Berufen übersetzt und von zwei professionellen Lektoren bearbeitet. Er erscheint weltweit zum ersten Mal als Buch - bisher konnte man die englische Originalfassung nur im Internet lesen.

Exklusiv für diese Ausgabe verfaßte der israelische Historiker Ilan Pappe ein Vorwort, das wir, gekürzt um die Fußnoten, in zwei Teilen veröffentlichen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck.


Der Gazastreifen nimmt kaum mehr als zwei Prozent des historischen Palästina ein. Dieses kleine Detail findet weder sonst in den Nachrichten Erwähnung, noch war dies der Fall während des israelischen Überfalls auf Gaza im Januar 2009. Er ist in der Tat ein so kleiner Teil des Landes, daß er nie als separate Region existierte. Gazas Geschichte vor der Zionisierung Palästinas war keine besondere, und sie war administrativ und politisch immer verbunden mit dem großen Rest Palästinas. Bis 1948 war der Streifen in jeder Hinsicht ein integraler und natürlicher Teil des Landes. Als eines der wichtigsten Tore Palästinas zur Welt - zum Land und zum Meer hin - entwickelte er eine eher flexible und weltoffene Lebensart, nicht unähnlich anderen kosmopolitischen Gesellschaften des östlichen Mittelmeerraums in der Neuzeit. Die Lage am Meer und an der antiken Via Maris nach Ägypten und Libanon brachte Wohlstand und Stabilität, bis dieses Leben 1948 durch die ethnische Säuberung Palästinas durch Israel jäh unterbrochen und fast zerstört wurde.

Zwischen 1948 und 1967 wurde Gaza ein riesiges Flüchtlingslager, dessen Bewohner durch die Politik Israels und Ägyptens starken Beschränkungen unterworfen waren: Beide Staaten unterbanden jede Ausreise aus dem Streifen. Die Lebensbedingungen waren schon damals sehr hart, als die Opfer der israelischen Politik der Vertreibung die Zahl der Einwohner, die seit Jahrhunderten dort gelebt hatten, verdoppelten. Am Vorabend der israelischen Besetzung von 1967 war die erzwungene demographische Transformation überall in Gaza unübersehbar. Der einst idyllische Küstenstreifen wurde innerhalb von zwei Jahrzehnten eine der dichtest besiedelten Gegenden der Welt, ohne eine entsprechende, sie tragende Wirtschaftsstruktur.

Zwischen 1948 und 1967 war der Streifen eine abgeriegelte Kriegszone. In den ersten zwanzig Jahren israelischer Besatzung nach 1967 war zumindest eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit aus dem Streifen hinaus möglich. Zehntausende Palästinenser bekamen als ungelernte und billige Arbeitskräfte Zugang zum israelischen Arbeitsmarkt. Der Preis, den Israel für diesen Sklavenmarkt verlangte, war der vollständige Verzicht auf nationale Bestrebungen oder Ambitionen. Als man sich nicht fügte, wurde das »Geschenk« der Arbeitskraftwanderung widerrufen und abgeschafft. All die Jahre bis zum Oslo-Abkommen von 1993 waren gekennzeichnet durch das israelische Bemühen, den Gazastreifen zu einer Enklave zu machen, von der das Friedenslager hoffte, daß sie autonom oder Teil Ägyptens sein würde, während das nationalistische Lager sie zum Teil des größeren Eretz Israel machen wollte, das es anstelle Palästinas zu errichten träumte.

Das Oslo-Abkommen ermöglichte es Israel, den Status des Gazastreifens als einer separaten geopolitischen Entität festzuschreiben - die sich nicht nur außerhalb Palästinas als Ganzem sondern auch abgeschnitten vom Westjordanland wiederfand. Gazastreifen wie Westjordanland befanden sich scheinbar unter der Hoheit der Palästinensischen Autonomiebehörde, aber jede Bewegungsmöglichkeit zwischen ihnen hing von Israels gutem Willen ab - den Israel selten an den Tag legte, der beinahe völlig verschwand, nachdem Benjamin Netanyahu 1996 an die Macht gekommen war. Darüber hinaus kontrollierte Israel, und tut dies bis zum heutigen Tage, die Wasser- und Elektrizitätsinfrastruktur. Seit 1993 nutzte Israel seine Machtposition - oder vielmehr mißbrauchte sie -, um auf der einen Seite das Wohlergehen der jüdischen Siedlergemeinschaft in Gaza sicherzustellen, und auf der anderen Seite, die palästinensische Bevölkerung zur Unterwerfung und zur Aufgabe zu erpressen. Die Menschen in Gaza waren so in den letzten 60 Jahren mal Internierte, mal Geiseln, mal Gefangene in einem unerträglichen Lebensraum.


Eskalation israelischer Politik

Es ist genau dieser historische Kontext, in den wir das Massaker vom Januar 2009 und die Gewalt, die in Gaza in den letzten fünf Jahren gewütet hat, stellen müssen. Die Gewalt ging nicht nur von den Israelis aus. Ein gehöriger Teil der Kämpfe fand kurzzeitig zwischen den Palästinensern selbst statt, obwohl man sagen muß, daß es - angesichts der israelischen Besatzung und Politik - weit weniger interne Gewalt gibt, als unter solchen Umständen zu erwarten wäre. Diese interne Entwicklung ist ein Nebenaspekt des sehr viel wichtigeren Problems der israelischen Gewaltanwendung gegenüber dem Gazastreifen.

Wenn wir vom Jahr 2009 aus zurückschauen, sehen wir klarer als je zuvor das Irreführende der Definition der israelischen Aktionen als »Krieg gegen den Terror«, der sich gegen einen lokalen Zweig von Al-Qaida richte und der das gefährliche Vorrücken des Iran in diesem Teil der Welt oder in der Arena des gefürchteten Kampfs der Kulturen abwehren solle.

Die Ursprünge der vor allem durch Gewalt bestimmten Geschichte Gazas liegen woanders. Die jüngste Geschichte des Streifens - 60 Jahre Vertreibung, Besatzung und Einkerkerung - produzierte unvermeidlich interne Gewalt, wie wir sie in den vergangenen vier Jahren erlebt haben, so wie sie unter solch entsetzlichen Bedingungen andere unerträgliche Lebensumstände produziert.

In der Tat, wenn wir einen näheren Blick auf die der »Operation Gegossenes Blei« vorangegangenen fünf Jahre werfen, läßt sich eine zuverlässige Analyse der Motivation erstellen, die 2009 zur Gewaltanwendung gegenüber den Palästinensern führte. Es gibt zwei historische Zusammenhänge für das, was im Januar dieses Jahres in Gaza geschah. Einer würde uns zurück zur Gründung des Staates Israel führen, dann über die Besetzung des Streifens durch Israel 1967 bis hin zum Oslo-Abkommen von 1993. Diese Langzeitperspektive wird hier nicht präsentiert. Ich möchte die Leser, was diesen Aspekt betrifft, auf mein Buch »Die ethnische Säuberung Palästinas« verweisen. Die zweite Perspektive ist diejenige, die hier vorgestellt wird: die Eskalation der israelischen Politik, die mit den Ereignissen von 2009 zu ihrem Höhepunkt kam.

Die Ideologie der ethnischen Säuberung, die 1948 als das entscheidende Mittel zur Realisierung des Traums von einem sicheren und demokratischen, jüdischen Staat umgesetzt wurde, führte 1967 zur Besetzung des Gazastreifens, die bis 2005 andauerte, als Israel sich angeblich zurückzog. Gaza wurde schon 1994 mit einem elektrischen Zaun umgeben, als Teil der Vorbereitung auf einen Friedensschluß mit den Palästinensern und wurde im Jahr 2000 zum Ghetto, als der Friedensprozeß für tot erklärt wurde. Die Entscheidung der Bevölkerung Gazas, dieser Einsperrung mit gewaltsamen und gewaltlosen Mitteln zu widerstehen, konfrontierte die militärische und politische Elite Israels mit einem neuen Dilemma. Sie ging davon aus, daß die Einkerkerung der Gaza-Bewohner in einem riesigen Gefängnis das Problem langfristig lösen würde. Diese Annahme erwies sich jedoch als falsch. Also hielt man Ausschau nach einer neuen Strategie.

Der Goldstone-Bericht macht deutlich, was die Israelis in Gaza anrichteten. Allerdings enthüllt selbst er nicht das ganze Ausmaß des schrecklichen Gemetzels, das dort geschah. In der folgenden Erörterung versuche ich zu erklären, warum die Israelis so handelten, wie sie es taten.


2004: Die Attrappenstadt

Im Jahr 2004 begann die israelische Armee, in der Negev-Wüste die Attrappe einer arabischen Stadt zu errichten. Sie hatte die Größe einer realen Stadt, mit Straßen (alle mit Namen versehen), Moscheen, öffentlichen Gebäuden und Autos. Errichtet für 45 Millionen Dollar, wurde diese Phantomstadt, nachdem die Hisbollah Israel zum Rückzug im Norden gezwungen hatte, im Winter 2006 zu einem Ersatz-Gaza, damit sich die IDF (Israeli Defense Forces), die israelischen »Verteidigungskräfte«, auf einen »erfolgreicheren Krieg« gegen die Hamas im Süden vorbereiten konnte.

Als der israelische Generalstabchef, Dan Halutz, den Ort nach dem Libanon-Krieg aufsuchte, sagte er der Presse, daß sich die Soldaten »auf das Szenario vorbereiten, das sie in der dichtbesiedelten Bevölkerungsstruktur von Gaza-Stadt vorfinden werden«. Eine Woche nach Beginn des Bombardements wohnte Verteidigungsminister Ehud Barak einer Übung für die Bodenoffensive bei. Ausländische Fernsehteams filmten ihn, während er die Bodentruppen beobachtete, wie sie die Kulissenstadt eroberten, die leeren Häuser stürmten und zweifelsohne die »Terroristen liquidierten«, die sich dort versteckten.

Die israelische Menschenrechtsorganisation »Breaking the Silence« (»Das Schweigen brechen«) veröffentlichte 2009 einen Bericht über die Erlebnisse ihrer Mitglieder, Reservisten und anderer Soldaten, während der »Operation Gegossenes Blei« - so wurde der Angriff von der Armee genannt. Der Kern der Zeugenaussagen war, daß die Soldaten den Befehl bekommen hatten, Gaza anzugreifen, als ob sie massive feindliche Linien angreifen würden: dies ergab sich aus der eingesetzten Feuerkraft, dem Fehlen jeglicher Befehle oder Vorkehrungen für das Verhalten innerhalb einer zivilen Umgebung und dem synchronisierten Vorgehen zu Lande, von der See und aus der Luft. Zum Schlimmsten gehörten die sinnlose Zerstörung von Häusern, das Beschießen von Zivilisten mit Phosphorgranaten, die Tötung von unschuldigen Zivilisten mit leichten Waffen und vor allem die Befehle von Kommandeuren, ohne moralische Skrupel vorzugehen. »Man kommt sich vor wie ein kleines Kind mit einem Brennglas, das Ameisen quält und sie verbrennt«, bezeugte ein Soldat. Kurzum: Sie vollzogen die totale Zerstörung der wirklichen Stadt, so wie sie es bei der Kulissenstadt geübt hatten.


2005: »Operation Erster Regen«

Die Militarisierung der israelischen Politik gegenüber dem Gazastreifen begann 2005. In jenem Jahr wurde Gaza in der offiziellen israelischen Sichtweise zum militärischen Zielobjekt, als wenn es eine riesige feindliche Basis wäre und nicht etwa ein ziviles Bevölkerungszentrum. Gaza ist eine Stadt wie andere Städte in der Welt auch, und dennoch wurde sie für die Israelis eine Attrappenstadt, an der Soldaten mit den neuesten und höchstentwickelten Waffen herumexperimentierten. Diese Politik wurde ermöglicht durch die Entscheidung der israelischen Regierung, die jüdischen Siedler, die den Gazastreifen seit 1967 kolonisierten, abzuziehen. Die Siedler wurden angeblich entfernt als Teil, so verlautbarte die Regierung, einer Politik des einseitigen Rückzugs. Das Argument lautete: Da es keinen Fortschritt bei den Friedensgesprächen mit den Palästinensern gab, war es jetzt an Israel zu entscheiden, wie seine endgültigen Grenzen zu den palästinensischen Gebieten aussehen sollten.

Aber die Dinge entwickelten sich nicht so wie erwartet. Dem Abzug der Siedler folgte die Machtübernahme durch die Hamas, zunächst in demokratischen Wahlen (2006), dann durch einen Präventivschlag, um die von Amerikanern und Israelis unterstützte Machtübernahme durch die Fatah zu verhindern (2007). Die unmittelbare israelische Antwort war die ökonomische Blockade des Streifens, die von der Hamas durch den Raketenbeschuß der nächstgelegenen israelischen Stadt, Sderot, vergolten wurde. Dies gab Israel den Vorwand, seine Luftwaffe, Artillerie und Kanonenboote einzusetzen. Israel behauptete, die Raketenabschußorte zu beschießen, aber in der Praxis schloß dies keinen Ort im Gazastreifen aus.

Die Menschen in ein Gefängnis sperren und die Schlüssel ins Meer werfen - so bezeichnete der UN-Sonderberichterstatter John Dugard dies -, war eine Option, auf die die Palästinenser in Gaza schon im September 2005 mit Gewalt reagierten. Sie waren entschlossen, zumindest darauf hinzuweisen, daß sie immer noch Teil des Westjordanlandes und Palästinas sind. In diesem Monat schossen sie zum ersten Mal eine - von der Quantität, nicht der Qualität her - signifikante Zahl von Raketen in die Negev-Wüste, was zumeist Gebäudeschäden, aber sehr selten Todesfälle verursacht. Die Ereignisse in diesem Monat verdienen eine genauere Darstellung, denn die Reaktion der Hamas hatte zuvor in einem sehr sporadischen Raketenbeschuß bestanden. Der Beschuß im September 2005 war die Antwort auf eine israelische Verhaftungswelle, die Aktivisten der Hamas und des Islamischen Dschihads betraf. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Armee eine Hamas-Reaktion provozieren wollte, die es Israel wiederum erlauben würde, seine Angriffe zu eskalieren. Und in der Tat, das, was folgte, war eine Politik der massiven Tötungen, die erste dieser Art, genannt »Erster Regen«. Es lohnt sich, einen Moment bei der Art dieser Operation zu verbleiben. Der Diskurs, der mit ihr einherging, war der einer Bestrafung, und diese ähnelte Strafmaßnahmen, die in einer entfernteren Vergangenheit von den Kolonialmächten und in einer jüngeren von Diktaturen gegen eingeschlossene, rebellische oder unter Bann gelegte Bevölkerungsgruppen durchgeführt wurden. Eine erschreckende Demonstration repressiver Gewalt endete mit einer hohen Zahl von Toten und Verwundeten unter den Opfern. Während der »Operation Erster Regen« wurde die gesamte Bevölkerung durch Überschallflüge terrorisiert, gefolgt von schwerem Bombardement weiter Gebiete von Land, See und aus der Luft. Die dahinterstehende Logik, so erklärte die Armee, war es, Druck zu erzeugen, um die Unterstützung der Bevölkerung für diejenigen zu schwächen, die Raketen abfeuerten. Wie zu erwarten war, auch von den Israelis, erhöhte die Operation nur die Unterstützung für den Raketenbeschuß und befeuerte diejenigen, die sie abschossen.

Rückblickend und angesichts der Erklärung der Kommandeure, daß die Armee sich lange auf die »Operation Gegossenes Blei« vorbereitet habe, scheint es durchaus möglich, daß es die eigentliche Absicht dieser besonderen Aktion (»Erster Regen«) war, ein Experiment durchzuführen. Falls die israelischen Generäle dabei herausfinden wollten, wie solche Operationen im eigenen Land, in der Region und in der Welt ankommen, scheint die unmittelbare Antwort »sehr gut« zu sein. Niemand nämlich interessierte sich für die Dutzenden von Toten und Hunderten von Verwundeten, die zurückblieben, nachdem der »Erste Regen« vorbeigezogen war.

Und vom »Ersten Regen« bis zum Juli 2006 liefen alle folgenden Operationen nach demselben Strickmuster ab. Der Unterschied war allein einer der Intensität: mehr Feuerkraft, mehr Opfer, größere »Kollateralschäden« und - erwartungsgemäß - mehr Qassam-Raketen als Antwort. All dies Begleitmaßnahmen zur Absicherung der totalen Einkerkerung der Bevölkerung im Jahr 2006 durch Boykott und Blockade, während die Welt schwieg.


2006: Gaza-Kompensation

Panzergranaten, Bombardierung aus der Luft und von der See und brutale Einfälle waren 2006 an der Tagesordnung. Aber als Israel an einer anderen Front eine Niederlage erlitt, im Süden Libanons im Sommer 2006, intensivierte die Armee ihre Strafmaßnahmen gegen anderthalb Millionen Menschen, die auf den dichtest bevölkerten 40 Quadratkilometern der Welt leben, noch einmal. Die Politik Israels unmittelbar nach der Niederlage in Süd-Libanon wurde noch gewalttätiger und erbarmungsloser. Die Art der Waffen, die Israel einsetzte - 1000-Kilo-Bomben, Panzerfahrzeuge, Raketen aus der Luft, Granaten vom Meer her gegen zivile Gebiete -, war nicht gedacht um abzuschrecken, zu verwunden oder zu warnen. Sie sollte töten.

Es konnte nicht überraschen, daß die Reaktion der Hamas immer verzweifelter wurde. Einige Beobachter, innerhalb wie außerhalb Israels, schrieben die Eskalation dem Wunsch zu, deutlich zu machen, daß die israelische Armee sich nach der Demütigung, die ihr durch die Hisbollah im Libanon zugefügt wurde, sofort wieder erholt hatte. Die Armee mußte ihre Überlegenheit und ihre Abschreckungskraft beweisen, die allein - so glaubt sie - die Garantie für das Überleben des jüdischen Staats in einer feindlichen Welt bietet. Die islamische Natur von Hamas wie Hisbollah und eine angebliche, frei erfundene Verbindung beider mit Al-Qaida, ermöglichte es der Armee, Israel als Speerspitze eines globalen Kriegs gegen den islamischen Dschihad in Gaza zu porträtieren. Während der Amtszeit von George W. Bush akzeptierte sogar die amerikanische Regierung das Töten von Frauen und Kindern als Teil dieses heiligen Krieges gegen den Islam.

Der schlimmste Monat jenes Jahres war der September, als dieses neue Muster in der israelischen Politik offensichtlich wurde. Fast täglich wurden Zivilisten von der Armee getötet. Der 2. September war dafür typisch. Drei Zivilisten wurden getötet und eine ganze Familie verwundet. Das war die morgendliche Ausbeute. Am Ende des Tages waren sehr viele mehr getötet. Im Schnitt starben in jenem Monat acht Palästinenser pro Tag durch israelische Angriffe auf den Gazastreifen. Viele von ihnen waren Kinder. Hunderte wurden verstümmelt, verwundet, gelähmt.

Das systematische Töten hatte mehr als alles andere den Anschein des Gewohnheitsmäßigen und zwar aufgrund des Fehlens einer klaren Politik. Die israelische Führung schien im September 2006 nicht zu wissen, was sie mit Gaza anfangen sollte. Wenn man ihre Verlautbarungen zu der Zeit liest, drängt sich einem die Vermutung auf, daß die Regierung jenes Jahres sich ihrer Politik gegenüber dem Westjordanland ziemlich sicher war; aber dies galt nicht für den Gazastreifen. Die Regierung nahm das Westjordanland, anders als Gaza, als einen offenen Raum wahr, zumindest auf seiner östlichen Seite. Von daher glaubte sich Israel berechtigt - im Namen einer Strategie, die der damalige Premierminister Ehud Olmert als »Ernteeinbringung« bezeichnete -, einseitige Aktionen zu unternehmen, da es im Friedensprozeß keinen Fortschritt gab. In der Praxis bedeutete dies, daß die israelische Regierung sich offensichtlich vorstellte, die Teile des Westjordanlandes, die sie begehrte - mehr oder weniger die Hälfte -, zu annektieren und den Versuch zu unternehmen, die indigene Bevölkerung zu vertreiben oder sie zumindest in Enklaven einzusperren, während sie der anderen Hälfte des Westjordanlandes zu erlauben gedachte, sich in einer Weise zu entwickeln, die israelische Interessen nicht gefährden würde (entweder durch die Herrschaft einer gefügigen palästinensischen Regierung oder durch eine direkte Vereinigung mit Jordanien). Dies erwies sich als Trugschluß, der aber dennoch die begeisterte Zustimmung der meisten Juden im Lande gewann, als Olmert ihn zum entscheidenden Teil seines Wahlkampfs machte.

Diese Strategie war jedoch nicht auf den Gazastreifen übertragbar. Ägypten gelang es - im Gegensatz zu Jordanien -, die Israelis schon 1967 davon zu überzeugen, daß der Gazastreifen für das Land eine Belastung wäre und niemals Teil Ägyptens sein würde. Also blieben die anderthalb Millionen Palästinenser ein Problem unter israelischer Verantwortung. Obwohl der Streifen geographisch am Rande Israels liegt, befand er sich noch 2006 - psychologisch gesehen - genau in dessen Zentrum.

Die unmenschlichen Lebensbedingungen in Gaza machten es der Bevölkerung unmöglich, sich mit der Einsperrung, die Israel ihr seit 1967 zugemutet hatte, abzufinden. Es gab durchaus bessere Perioden, als der Zugang zum Westjordanland und nach Israel zwecks Arbeit erlaubt war, aber diese besseren Zeiten waren 2006 vorbei. Der Zugang zur Außenwelt war erlaubt, solange jüdische Siedler im Gazastreifen lebten, aber kaum waren sie abgezogen, wurde Gaza hermetisch abgeriegelt. Ironischerweise hielten die meisten Israelis, so Meinungsumfragen, Gaza für einen unabhängigen palästinensischen Staat, dessen Entstehung Israel großzügigerweise gestattet hatte. Die Führung und insbesondere die Armee sahen Gaza als ein Gefängnis mit höchst gefährlichen Insassen an, mit denen man auf die ein oder andere Weise fertig werden mußte.

Die herkömmliche israelische Politik der ethnischen Säuberung, der 1948 die Hälfte der Bevölkerung Palästinas und 1967 Hunderttausende Palästinenser des Westjordanlandes erfolgreich unterworfen wurden, war in bezug auf Gaza nicht durchsetzbar.

Aus dem Englischen von Jürgen Jung
(c) Melzer Verlag, Neu Isenburg


Abraham Melzer (Hg.):
»Goldstone-Bericht« - Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen über den Gaza-Konflik.
Melzer Verlag, Neu-Isenburg 2010, 816 Seiten, 25 Euro
Semit edition, ISBN 978-3-9813189-4-4


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junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 11. März 2010

Ziel Zivilbevölkerung
Vorabdruck. Das Schlachtfeld Gaza 2004-2009.
Vorwort zur deutschen Übersetzung des Goldstone-Berichts (Teil II und Schluß)

Von Ilan Pappe


Im gestern erschienenen Teil der exklusiv für die deutsche Ausgabe des »Goldstone-Reports« verfaßten Einleitung ging der israelische Historiker Ilan Pappe auf die Entwicklung der aggressiven Politik seines Landes gegen die palästinensische Bevölkerung in den Jahren 2004 bis 2006 ein. Der zweite Teil unseres Vorabdrucks ist aus Platzgründen um die Fußnoten und zwei Passagen gekürzt. (jW) 


Man kann Palästinenser langsam aus dem Westjordanland und besonders aus dem Großraum Jerusalem verdrängen, aber das gelingt nicht im Gazastreifen, nachdem man ihn wie ein Hochsicherheitsgefangenenlager abgeriegelt hat. So wie die ethnische Säuberung wurde auch die destruktive, manch einer würde sagen, die völkermörderische Politik, die 2006 begann, nicht im luftleeren Raum konzipiert. Von 1948 an brauchten israelische Armee und Regierung einen Vorwand zur Durchsetzung dieser Politik. Die Übernahme Palästinas, die 1947 einsetzte, als die britische Regierung entschied, das Land zu verlassen, rief den unvermeidlichen lokalen Widerstand hervor, der wiederum die Durchführung der ethnischen Säuberung gestattete, die schon in den 1930er Jahren entworfen worden war. 20 Jahre Besatzung des Westjordanlandes riefen schließlich so etwas wie einen palästinensischen Widerstand hervor. Der erste signifikante israelische Versuch, diesen Widerstand zu brechen, war 1982 der Angriff auf den Libanon.

Damals bezeichnete eine internationale Kommission unter der Führung von Seán MacBride diesen Angriff - so wie es Richter Richard Goldstone ein Vierteljahrhundert später in bezug auf Gaza machen würde - als eine Serie von Kriegsverbrechen. Die MacBride-Kommission äußerte sich allerdings viel unverblümter: Sie beschuldigte Israel des Völkermords am palästinensischen Volk (obwohl zwei Mitglieder der Kommission ein abweichendes Votum zu dieser Schlußfolgerung, nicht aber zu den Tatsachen abgaben). Sie beschuldigte Israel des Einsatzes verbotener Waffen gegen Zivilisten und der unterschiedslosen und rücksichtslosen Bombardierung ziviler Ziele: Schulen, Krankenhäuser, Städte, Dörfer und Flüchtlingslager. Der Höhepunkt war das Massaker von Sabra und Shatila, das die öffentliche Meinung der Welt hinsichtlich der israelischen Politik für eine Weile aufrüttelte.

Die Palästinenser brauchten eine Weile, um sich zu erholen. Der erste Aufstand von 1987 ließ sich leicht unterdrücken. Der von 2000 erforderte mehr Zeit, bis er unter Krontrolle war. Er lieferte aber auch den Vorwand für die Wiederaufnahme der unbarmherzigen Politik. Der Libanon-Krieg (2006) sorgte eine Zeitlang für den Nebel, hinter dem sich die enorme Zerstörung, die im Gaza-Streifen angerichtet war, verbergen ließ. Aber diese Politik wütete sogar nach dem Waffenstillstand im Norden weiter. Es scheint, daß die frustrierte und geschlagene israelische Armee nun noch entschlossener war, das Schlachtfeld im Gaza-Streifen auszuweiten. Die politische Elite schien unfähig oder nicht willens, den Generälen Einhalt zu gebieten.

Am 28. Dezember 2006 veröffentlichte die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem ihren jährlichen Bericht zu den israelischen Greueltaten in den besetzten Gebieten. Die israelischen Truppen töteten in diesem Jahr 660 Menschen. Das war eine Verdreifachung gegenüber dem Jahr zuvor (etwa 200). Nach B'Tselem waren darunter 140 Kinder. Die meisten Toten waren in Gaza zu beklagen, wo die israelischen Streitkräfte annähernd 200 Häuser zerstörten und ganze Familien auslöschten. Das heißt: Seit dem Jahr 2000 töteten die Israelis fast 4000 Palästinenser, darunter eine große Zahl Kinder. Es gab mehr als 20000 Verletzte. B'Tselem ist eine konservative Organisation, und die Zahlen dürften tatsächlich noch höher liegen. B'Tselem bezeichnete die Tötungen nicht als Völkermord. Natürlich gibt es hier einen Unterschied zu völkermörderischen Aktionen, in deren Gefolge eine Million Tote zu verzeichnen sind, was von der internationalen Gemeinschaft normalerweise als Völkermord bezeichnet wird. Und tatsächlich konnte man bis zum Gaza-Massaker von 2009 den Eindruck haben, daß die Erinnerung an den Holocaust für das offizielle Israel das einzige Hemmnis für einen solchen Völkermord darstellte.

Ich glaube, daß dieses Hemmnis 2007 entfiel. Zu Beginn des Jahres sahen sich die israelischen Politiker zwei sehr verschiedenen Realitäten im Westjordanland und im Gazastreifen gegenüber. In ersterem waren sie der Festlegung der östlichen Grenze so nah wie nie zuvor. Ihre interne ideologische Debatte über das Schicksal des Westjordanlandes fand ihr Ende, und ihr Masterplan zur Annexion der Hälfte der Westbank wurde schon in den letzten Monaten des Jahres 2006 immer schneller umgesetzt. Die letzte Phase verzögerte sich aufgrund der Versprechen, die Israel im Rahmen der »Road Map« gab, keine weiteren Siedlungen zu bauen. Aber Israel fand zwei Wege, dieses angebliche Siedlungsverbot zu umgehen: Erstens erklärte es ein Drittel des Westjordanlandes zu »Groß-Jerusalem«, was ihm erlaubte, innerhalb dieses neu annektierten Gebiets Ortschaften und Gemeindezentren zu bauen; zweitens expandierte es bestehende Siedlungen in einem Ausmaß, daß der Bau neuer nicht nötig war. Diese Entwicklung wurde 2006 dadurch weiter angetrieben, daß Hunderte Wohnwagen aufgestellt wurden, um die Grenzlinien der jüdischen »Sphäre« innerhalb des palästinensischen Territoriums abzustecken. Die Planungen für die neuen Städte und Gemeinden wurden fertiggestellt und das Apartheidsystem der Umgehungs- und Schnellstraßen wurde vollendet.

All dies, die Siedlungen, die Armeestützpunkte, die Straßen und die Mauer würde es Israel ermöglichen, die Annexion in den kommenden Jahren durchzuführen. Innerhalb dieses Gebiets lebt immer noch eine beträchtliche Zahl Palästinenser, denen gegenüber die israelischen Behörden eine Politik des langsamen und schleichenden Transfers praktizieren - ein zu langweiliges Thema für die westlichen Medien, als daß sie sich dafür interessieren würden und zu schwer faßbar für die Menschenrechtsorganisationen, um darauf besonders hinzuweisen. Die Israelis hatten keine Eile. Anfang 2007 glaubten sie, alles unter Kontrolle zu haben: Die tagtäglich von Armee und Verwaltung praktizierten Mechanismen von Übergriffen und Entwürdigungen, um den Prozeß der Enteignung der Palästinenser voranzutreiben, waren so effektiv wie je.

Diese Strategie - 2001 zunächst von Ariel Scharon entworfen - wurde politischer Konsens. Sie wurde 2006 als Handlungsoption für die Zukunft angesehen und gegenüber der von den offenen »Transferisten«, den Anhängern der ethnischen Säuberung wie Avigdor Liberman angebotenen eindeutig bevorzugt. Sie wurde als Weg voran von allen in der Regierung befürwortet, von der Arbeitspartei bis zu Kadima. Die vergleichsweise wenig Aufsehen erregenden Verbrechen des Staatsterrorismus waren insofern effektiv, als sie weltweit eine kritische, aber loyale Unterstützung Israels, und eine eher milde Verurteilung ermöglichten, und andererseits jede entschiedene Kritik der kriminellen Politik Israels als Antisemitismus einzustufen erlaubten.


Eskalation in jeder Hinsicht

Diese klar konturierte Politik gegenüber dem Westjordanland warf ein Schlaglicht auf die Konfusion in bezug auf Gaza. Es gab Anfang 2007 keine eindeutige Strategie, aber der Unterschied zwischen 2006 und 2007 war der, daß die täglichen Aktivitäten der Armee allmählich als die neue Politik verstanden oder doch zumindest ausprobiert wurden. Gaza war in den Augen der Israelis eine ganz andere geopolitische Entität als das Westjordanland. Hamas kontrollierte Gaza schon seit fast einem Jahr, während der Führer der Fatah, Abu Mazen, das fragmentierte Westjordanland mit dem Segen Israels und der Vereinigten Staaten führte. Anders als auf der Westbank gab es in Gaza kein Stück Land, das Israel begehrte, und es gab kein Hinterland, wie Jordanien, wohin man die Palästinenser vertreiben konnte. Ethnische Säuberung war hier nicht durchführbar.

Bis 2007 war die hervorstechende Strategie in Gaza die der Ghettoisierung der Palästinenser dort, aber das funktionierte nicht mehr. Die ghettoisierte Gemeinschaft fuhr fort, ihren Lebenswillen durch das Abschießen primitiver Raketen nach Israel auszudrücken. Eine unerwünschte Bevölkerungsgruppe zu ghettoisieren, sie unter Quarantäne zu stellen, hat noch niemals in der Geschichte - selbst wenn die Betroffenen als Untermenschen oder als gefährlich angesehen wurden - zu einer Lösung geführt. Die Juden verstehen dies nach ihrer eigenen Geschichte am besten.

Die Gegenstrategie der Hamas kulminierte im Juni 2006 in der, aus israelischen Augen, Entführung oder, aus palästinensischen Augen, der Gefangennahme auf Gazas Boden des mittlerweile berühmten israelischen Soldaten Gilad Shalit. Dieser Zwischenfall war irrelevant für den Ablauf der Ereignisse, er verschaffte aber den Israelis nichtsdestoweniger die Möglichkeit, ihre taktischen, sogenannten Strafaktionen noch einmal zu eskalieren. Schließlich gab es immer noch keine Strategie, die der taktischen Entscheidung Ariel Scharons gefolgt wäre, die 8000 Siedler zu evakuieren, deren Präsenz »Straf«-Aktionen erschwert hatte und deren Entfernung ihn beinahe zu einem Kandidaten für den Friedensnobelpreis gemacht hätte. Seit der Zeit dauerten die »Straf«-Aktionen an und wurden selbst zur Strategie.

Die israelische Armee liebt das Drama und eskalierte daher auch ihren Diskurs. (Die Militäroperation - d. jW-Red.) »Erster Regen« wurde ersetzt durch »Sommer-Regen«, ein Name, der den »Straf«-Aktionen seit Juni 2006 generell gegeben wurde in einem Land, in dem es während des Sommers überhaupt keinen Regen gibt. Der einzige Niederschlag, der zu erwarten ist, sind Schauer von F-16-Bomben und Artilleriegranaten, die auf die Menschen in Gaza »herabregnen«.

»Sommerregen« brachte eine neue Komponente: die Landinvasion in Teile des Gazastreifens. Auf diese Weise konnte die Armee noch effektiver Zivilisten töten und dies gleichzeitig als Resultat heftiger Kämpfe in dicht besiedelten Gegenden darstellen, als unvermeidliches Resultat der Umstände und nicht etwa israelischer Politik. Mit dem Ende des Sommers kam die Operation »Herbstwolken«, die noch einmal effektiver war: Am 1. November 2006 töteten die Israelis in weniger als 48 Stunden 70 Zivilisten. Am Ende des Monats waren unter Begleitung zusätzlicher Minioperationen annähernd 200 Menschen tot, die Hälfte von ihnen Kinder und Frauen.

Vom »Ersten Regen« bis zu den »Herbstwolken« läßt sich Eskalation in jeder Hinsicht feststellen. Zunächst verschwand die Unterscheidung zwischen zivilen und nichtzivilen Zielobjekten: Das sinnlose Töten machte die Bevölkerung insgesamt zur Zielscheibe für die Armeeoperationen. Das zweite war die Eskalation der Mittel: die Anwendung jeder möglichen Tötungsmaschine, über die die Armee verfügt. Drittens wurde die Eskalation deutlich an der Zahl der Opfer: Mit jeder Operation, und jeder zukünftigen Operation, wurde eine größere Zahl von Menschen getötet und verwundet. Schließlich, und das war das Wichtigste, wurden die Operationen regelrecht zur Strategie: So gedenkt Israel das Problem des Gazastreifens zu lösen.

Ein schleichender Transfer im Westjordanland und eine Politik dosierter, systematischer Tötungen im Gazastreifen waren die zwei Strategien, die Israel 2007 zur Anwendung brachte. Unter Wahlkampfgesichtspunkten war jene in Gaza problematischer, weil sie keine greifbaren Ergebnisse zeitigte, während das Westjordanland unter Abu Mazen sich israelischem Druck beugte. Hier schien es keine Macht zu geben, die der israelischen Strategie von Annexion und Vertreibung Einhalt zu gebieten in der Lage war. Aber Gaza wollte nicht aufhören zurückzuschießen. Einerseits ermöglichte dies der israelischen Armee, massivere Operationen durchzuführen, aber andererseits bestand das Risiko, daß - wie 1948 geschehen - die Armee eine drastischere und systematischere »Straf«-Aktion gegen die belagerte Bevölkerung des Gazastreifens verlangen würde.


2007-2008: »Hochsicherheitstrakt«

Die Opferzahlen stiegen 2007. 300 Menschen wurden in Gaza getötet, Dutzende von ihnen Kinder. Aber schon unter (George W. - d. jW-Red.) Bush, und dann vollends in der Ära nach Bush, verlor der Mythos des Kampfes gegen den weltweiten »heiligen Krieg« (Dschihad) seine Glaubwürdigkeit. Also wurde 2007 ein neuer Mythos präsentiert: Gaza ist eine Terroristenbasis, entschlossen, Israel zu vernichten. Die einzige Möglichkeit, die Palästinenser vom Bazillus des Terrors zu heilen, war, ihre Zustimmung zu einem Leben hinter Stacheldraht und Mauern auf dem kleinen Streifen Land durch entsprechende Gewaltanwendung zu erreichen. Ihre Versorgung sowie ihre Bewegungsfreiheit sollten von der Entscheidung abhängen, die sie treffen würden: Sollten sie weiterhin darauf bestehen, die Hamas zu unterstützen, würden sie so lange stranguliert und ausgehungert, bis sie diese politische Neigung aufgegeben hätten. Falls sie sich der israelischen Politik beugten, würde sie das gleiche Schicksal erwarten wie im Westjordanland: ein Leben ohne grundlegende Bürger- und Menschenrechte. Sie konnten entweder Insassen im offenen Gefängnis der Westbank oder eingekerkert im Hochsicherheitstrakt des Gazastreifens sein. Wenn sie Widerstand leisteten, würden sie ohne Verfahren eingesperrt oder getötet. Dies war Israels Botschaft von 2007, und die Menschen in Gaza bekamen ein Jahr, 2008, um sich zu entscheiden.

Im Sommer 2008 kam ein durch Ägypten vermittelter Waffenstillstand zustande, das heißt, die israelische Regierung erreichte ihre Ziele zunächst nicht. Sie mußte sich gewissenhafter auf den nächsten Schritt vorbereiten, und das Jahr 2008 wurde dafür genutzt. Ihre Strategie war nicht nur, die Hamas in Gaza zum Schweigen zu bringen, sondern sie bestand auch aus dem verzweifelten Versuch, dem Quartett (UNO, EU, USA, Rußland) und der Palästinensischen Autonomiebehörde zu beweisen, daß die Situation in Gaza unter Kontrolle war, und zwar so weit, daß diese »Lösung« Teil einer zukünftigen israelischen Friedensvision werden konnte.

Im Sommer 2008 lag die Demütigung im Libanon zwei Jahre zurück. Die israelische Regierung, die einer öffentlichen Untersuchung unterworfen war und einen vernichtenden Bericht durch eine offizielle Kommission zu erwarten hatte, spürte kein Verlangen, der israelischen Öffentlichkeit zu gestatten, sich mit dieser offenen Wunde allzulang zu beschäftigen. Es wehte auch ein Wind des Wandels von Washington her, wo - so war die Befürchtung - eine neue Regierung der israelischen Strategie nicht mehr so verständnisvoll begegnen würde, und die öffentliche Meinung der Welt schien alles in allem schon seit dem Jahr 2000 Israel gegenüber weniger wohlwollend, ja feindlich gesinnt.

Die alte Methode, auf den richtigen Vorwand zu warten, um den Kampf gegen den einzigen noch ungebrochenen Widerstand zu eskalieren, kam wieder zum Zug. Das, was zunächst - vor der Öffentlichkeit verheimlicht - auf den Trainingsplätzen, in den Übungslagern wie besessen geprobt wurde, entpuppte sich als neue Doktrin, um mit Bevölkerungszentren, die unterworfen werden mußten, ob in Gaza oder im Libanon, fertigzuwerden. Sie bekam den Namen »Dahiyya«-Doktrin. Im Oktober 2008 wurde sie das erste Mal in (der Tageszeitung - d. jW-Red.) Ha'aretz erwähnt. Im Kern verlangte sie die umfassende Zerstörung ganzer Wohnviertel und den Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt als Antwort auf Raketenbeschuß. Als Ha'aretz darüber berichtete, wurde sie als zukünftige Strategie gegenüber dem Libanon vorgestellt - von daher der Bezug auf Dahiyya, das Schiitenviertel, das 2006 während des Luftangriffs auf Beirut in Schutt und Asche gelegt wurde. Gadi Eizenkot, damals Chef des nördlichen Befehlsbereichs: »Dörfer sind für uns Militärbasen.« Er sprach von der völligen Zerstörung von Dörfern als »Strafaktion«. Sein Kollege, Oberst Gabi Sibon, berichtete auf einer akademischen Konferenz des Instituts für Nationale Sicherheit in Tel Aviv, daß diese Vorstellung auch auf den Gazastreifen zu beziehen sei. Er fügte hinzu, daß »dies bedeutet, Schäden zu verursachen, von denen sich zu erholen, eine Ewigkeit dauern wird«. (...)

Es scheint, daß die Doktrin sich nicht nur auf militärische Gewalt bezieht, sondern auch darauf, wie man das gewünschte Ergebnis ebenso durch andere Mittel erreichen kann. Im Jahr 2008 verschärfte die Armee die Blockade Gazas. Wenn man dieses taktische Vorgehen im Detail analysiert, dann erweist es sich als weit mehr als eine Strafaktion. Es handelt sich um eine Politik, die angesichts der demographischen Verhältnisse im Gazastreifen eine völkermörderische Realität hervorruft: Mangel an Grundnahrungsmitteln, Fehlen elementarer medizinischer Versorgung und keine Möglichkeit, sich seinen Lebensunterhalt zu erarbeiten. Hinzuzufügen wäre noch die massive klaustrophobische Traumatisierung von anderthalb Millionen Menschen, denen man nicht erlaubte, aus dem Streifen zu fliehen, denen es an wesentlichen Gütern des täglichen Bedarfs und Baumaterial mangelt, was sie sommers wie winters ohne Obdach hinterläßt. Und als ob dies nicht genug wäre, haben die Israelis die Wasser- und Strominfrastruktur zerstört.


2008/2009: Kriegsverbrechen

Aber die Hamas war immer noch da und weigerte sich, im Austausch für die Aufhebung der Blockade zu verschwinden. Also mußte ein anderer Vorwand her: Israel verletzte im Juni 2008 den Waffenstillstand täglich durch wiederkehrende Angriffe aus der Luft und Einfälle am Boden. Gruppen, die nicht mit der Hamas verbunden waren, vergalten dies mit Raketen - und die öffentliche Meinung in Israel war prompt bereit für eine größere Aktion. Dennoch reichte dies noch nicht. Also griff die Armee im November 2008 einen Tunnel in Gaza an - einen von vielen, die gegraben wurden, um die Blockade zu überleben - und behauptete, dies sei ein präventiver Schlag gegen eine zu erwartende Operation der Hamas gewesen. Diesmal kamen Raketen von der Hamas. Sie verlor fünf ihrer Leute und schoß einen Schwarm von mehr als dreißig Raketen ab. Am Ende des Monats erklärte sie, daß derartige israelische Aktionen, die zum täglichen Ereignis wurden, zum Ende des Waffenstillstands führen würden. Am 18. November erklärte die Hamas den Waffenstillstand für beendet und intensivierte am 24. kurzzeitig den Raketenbeschuß als Antwort auf die vorangegangene israelische Aktion und beendete ihn dann aber nach kurzer Zeit. Wie zuvor gab es kaum Opfer auf israelischer Seite, obwohl Häuser und Wohnungen beschädigt und die betroffenen Bürger traumatisiert wurden.

Auf den Angriff vom 24. November hatte die Armee nur gewartet. Vom darauf folgenden Morgen bis zum 21. Januar 2009 bombardierte sie die anderthalb Millionen Menschen in Gaza aus der Luft vom Boden und vom Meer. Die Hamas antwortete mit Raketen, die drei Opfer forderten. Weitere zehn israelische Soldaten wurden getötet, einige durch »freundliches Feuer« (der eigenen Truppen).

Die Beweise, die israelische und internationale Menschenrechtsorganisationen und Institutionen und die Medien (obwohl letzteren durch die Israelis der Zugang zum Gazastreifen verwehrt wurde) sammelten, wurden von vielen als Hinweis auf mehr als nur Kriegsverbrechen aufgefaßt. (...)


Genozidale Politik

Es ist verständlich, daß Richter Goldstone sich solch einer Sprache (Verurteilung des israelischen Kriegs im Gazastreifen als Genozid - d. jW-Red.) enthält. Sein Bericht bestätigt - wie erwähnt - die Beweise, die von jenen zusammengetragen wurden, die diese Politik als völkermörderisch bezeichnen, aber faßt sie zusammen als Kriegsverbrechen und fordert weitere Untersuchungen. Er benutzt auch die gleiche Terminologie für die Raketenangriffe der Hamas auf Israel. Dies scheint mehr ein Lippenbekenntnis zu sein als ein ernsthaftes Anliegen. Das Ungleichgewicht zwischen der Macht und den Zerstörungen des Aggressors einerseits und der kläglichen militärischen Antwort des Opfers andererseits verdient eine andere Sprache.

Darüber hinaus: Wenn man den gründlichen und mutigen Bericht Richter Goldstones liest, sollte man sich daran erinnern, daß die 1500 Toten und Tausenden Verwundeten und die Zehntausenden, die ihre Häuser verloren haben, nicht die ganze Geschichte erzählen. Es ist die Entscheidung, solch eine gewaltige militärische Macht in einem zivilen Raum einzusetzen, die diskutiert werden sollte. Diese Art Feuerkraft kann nur diese Art von »Kollateralschäden« hervorrufen, die wir in Gaza gesehen haben. Sie wurde genau zu diesem Zweck eingesetzt. Die Natur der militärischen Operationen hat auch einen Wunsch des israelischen Militärs zum Ausdruck gebracht, mit neuen Waffen zu experimentieren, die alle darauf abzielen, Zivilisten zu töten als Teil dessen, was der frühere Generalstabschef Moshe Ya'alon als die Notwendigkeit bezeichnete, in das palästinensische Bewußtsein die furchterregende Macht der israelischen Armee einzubrennen.

Aber die Tat selbst, als ein isoliertes Kriegsverbrechen, ist nicht das Thema. Es ist die Einordnung des Massakers in das, was zuvor geschah und vermutlich in Zukunft geschehen wird, was alarmierend ist und die Möglichkeit eröffnet, daß wir eine genozidale Politik zu gewärtigen haben. Man kann nur hoffen, daß es in Zukunft nicht mehr nötig sein wird, Beweise für die Stichhaltigkeit einer solchen Annahme zu überprüfen.

Aus dem Englischen von Jürgen Jung
(c) Melzer Verlag, Neu Isenburg


Abraham Melzer (Hg.):
»Goldstone-Bericht« - Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen über den Gaza-Konflik.
Melzer Verlag, Neu-Isenburg 2010, 816 Seiten, 25 Euro
Semit edition, ISBN 978-3-9813189-4-4

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Quelle:
junge Welt vom 10. und 11.03.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. März 2010