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NAHOST/670: Schleichende Islamisierung - Hamas beschränkt Rechte im Gazastreifen drastisch (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. August 2010

NAHOST:
Schleichende Islamisierung - Hamas beschränkt Rechte im Gazastreifen drastisch

Von Mel Frykberg


Ramallah, 4. August (IPS) - Die Menschen im Gazastreifen sind zwischen zwei Mühlsteinen gefangen. Während Israel seine Blockade fortsetzt, beschneidet die radikal-islamische Hamas-Regierung zunehmend die bürgerlichen und politischen Rechte der Einwohner. Beobachter warnen vor einer schleichenden Islamisierung, die insbesondere die Freiheit von Frauen stark einschränkt.

Von der Hamas-Regierung ausgeschickte Detektive führten kürzlich in Gaza-Stadt Razzien in mehreren Geschäften durch und beschlagnahmten Kleidung mit "unmoralischen Aufschriften". Darunter waren im Gazastreifen hergestellte Baumwoll-T-Shirts, auf denen der Slogan 'Porn Man Clothing' zu lesen war. Der Fabrikant wurde verhaftet und soll nun wegen unsittlichen Handelns angeklagt werden.

Kurz zuvor waren Frauen, die öffentlich Wasserpfeife rauchten, zur Zielscheibe der Moralhüter geworden. Die Hamas-Behörden verkündeten, dass dieses Verhalten gegen "palästinensische Traditionen und Werte verstößt".

Nicht alle Betroffenen sind allerdings bereit, sich der Hamas bedingungslos unterzuordnen. "Als ich das hörte, musste ich erstmal lachen. Ich wäre am liebsten sofort nach draußen gegangen, um eine 'Argilah' (Wasserpfeife) zu rauchen", ereiferte sich Riham Abdul Karim, die Chefkorrespondentin des saudischen Medienkonzerns 'Middle East Broadcasting Center' (MBC).

"Ich bin dagegen, dass Menschen dazu gezwungen werden, bestimmten Traditionen zu folgen", sagte die Journalistin im Gespräch mit IPS. "Die Gesellschaft im Gazastreifen ist ohnehin schon sehr konservativ. Die Leute sollen selbst entscheiden, wie sie sich verhalten wollen."


Motorradfahren für Frauen verboten

Frauen können jedoch längst nicht mehr tun, was sie wollen, ohne mit Ärger rechnen zu müssen. Nach dem Willen der Hamas dürfen sie nicht mehr auf dem Rücksitz von Motorrädern mitfahren. Schülerinnen müssen außerdem ihr Haar bedecken. Die Islamisten scheiterten jedoch mit dem Versuch, Juristinnen vorzuschreiben, nur noch mit Kopftuch und langen Gewändern zur Arbeit zu erscheinen. Internationale Kritik verhinderte, dass dieser Vorstoß Erfolg hatte.

"Die Hamas geht inzwischen aber immer raffinierter und pragmatischer vor", sagte Abdul Karim. Der Gazastreifen sei nicht der Iran. Die Islamisierung werde hier in kleinen Schritten vorangetrieben, so dass sich die Bevölkerung sich nach und nach daran gewöhnen könne. Damit würden auch allzu negative Reaktionen aus dem Ausland vermieden.

Um von den Restriktionen abzulenken, habe die Regierung Frauen sogar erlaubt, zu reiten und Fußball zu spielen - allerdings nur unter strenger Aufsicht, berichtete die Journalistin. Radikale Muslime betrachten diese Sportarten eigentlich als 'unweiblich' und 'unislamisch'.

Auch Samir Awad von der Birzeit-Universität bei Ramallah im Westjordanland beobachtet das Vorgehen der Hamas mit großem Misstrauen. Einerseits versuche die Regierung extremistische Gruppierungen wie Jaisch al Sunna, Jaisch al Islam und Jund Ansar Allah abzuwehren und eine Taliban-ähnliche Herrschaft im Gazastreifen zu verhindern, erklärte der Politologe Awad. Auf der anderen Seite wolle die Hamas aber der rivalisierenden Fatah - und vor allem der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah - beweisen, dass sie islamische Regeln durchsetzen könne. Dies diene ihr auch dazu, sich auf dem eigenen Territorium besser zu behaupten und mehr Anhänger im Westjordanland zu finden.

Nach Ansicht des Politologen lässt die Hamas inzwischen alle Masken fallen, sobald die Fatah und die Autonomiebehörde ins Spiel kommen. Nach bloßen verbalen Attacken sei die Hamas dazu übergegangen, ihre Widersacher zu inhaftieren, sagte Awad IPS.

Menschenrechtlern zufolge werden zahlreiche Fatah-Anhänger im Gazastreifen gefangen gehalten und misshandelt. Die Hamas entgegnet auf die Anschuldigungen, dass ihre Mitglieder im Westjordanland auf diese Weise behandelt würden.


Gewaltsames Vorgehen gegen die Opposition

Demonstrationen von Oppositionellen lösen die Machthaber im Gazastreifen mit Gewalt auf. Dabei geraten auch Unbeteiligte in die Schusslinie. Erst vor wenigen Wochen wurde ein zehnjähriges Mädchen in Gaza-Stadt auf einem Balkon von einer verirrten Polizeikugel getroffen und schwer verletzt. Vor dem Haus hatten sich Mitglieder der islamistischen Partei Hizb ut-Tahrir (Freiheitspartei) zu einer Gedenkfeier versammelt. Die Hamas erklärte später, die Versammlung sei nicht genehmigt gewesen.

Nach Angaben des nichtstaatlichen Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte (PCHR) durchsuchten die Sicherheitskräfte im Gazastreifen außerdem vor einigen Monaten die Büros von fünf Nichtregierungsorganisationen und beschlagnahmten deren Eigentum. Beobachter gehen davon aus, dass für diese Aktion vor allem politische Gründe ausschlaggebend waren.

PCHR forderte sowohl die Hamas als auch die Autonomiebehörde auf, die oppositionelle Presse wieder zuzulassen. Anlass für das Verbot war offenbar der Beschluss Israels, die Lieferung von mehreren Zeitungen in die Palästinensergebiete zu gestatten. An einem Checkpoint nahe dem Innenministerium in Gaza-Stadt wurden die Zeitungen jedoch eingesammelt und ihre Verteilung verboten. (Ende/IPS/ck/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2010