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NAHOST/808: Israelische Gemeinden traumatisiert durch die Raketen aus Gaza (IRIN)


Integrated Regional Information Networks IRIN - 20. April

Israel - Besetzte Territorien:
Israelische Gemeinden traumatisiert durch die Raketen aus Gaza


Nahal Oz (Israel), 20. April 2011 (IRIN) - Israelische Zivilisten, die in der Nähe des Gazastreifens leben, leiden infolge der jüngsten Gewalteskalation zwischen den Militanten in Gaza und der israelischen Armee unter starker Anspannung und fordern vermehrten Schutz - wenn auch keine neue Gaza-Offensive.

Die von der israelischen Regierung ergriffenen Maßnahmen zum Schutz der Zivilisten in der Region (die unter der Bezeichnung Südbezirk bekannt ist und fast ein Drittel des Landes umfaßt) haben zugenommen, und dazu gehört auch Israels neu errichtetes Raketenabwehrsystem, Eisenkuppel, das Raketenangriffe abfangen soll.

"Heutzutage leben eine Million Israelis in Reichweite des Raketenfeuers aus Gaza, rund 60 km von der Grenze nach Gaza entfernt, und es werden mehr", erzählte die israelische Armeesprecherin, Oberstleutnant Avital Leibovitz, IRIN. "Eisenkuppel ist eine technische Lösung, aber noch immer im Teststadium, und wird nachjustiert." erklärte sie.

Zwei Eisenkuppelsysteme wurden in Beersheba und in Ashkelon als Teil eines Versuchslaufs installiert. Vier weitere Systeme sollen innerhalb von zwei Jahren einsatzbereit sein.

Inzwischen sind die Menschen in den israelischen Gemeinden, die sich im Südbezirk befinden, unter dem Eindruck der jüngsten Gewalt in zunehmender Sorge.

In den letzten zwei Wochen standen die 6.500 Einwohner, die der Gemeindebezirk Sha'ar HaNegev erfaßt, zehn Kibbutzim eingeschlossen (israelische kollektive Gemeinschaften, die häufig die gleichen sozialen oder religiösen Werte teilen), unter ständiger Bedrohung durch Raketenangriffe, erklärte Bezirkssprecherin Michal Shaban-Kotzer. Viele Gemeinden waren gezwungen, jeden Tag die Schutzräume aufzusuchen, manchmal für einige Stunden in Folge und mehrmals am Tag, erklärte sie.

Das Territorium des Gemeindebezirks (1) liegt mitten zwischen Beersheba und Ashkelon und grenzt im Westen an Gaza. Die Gemeindeverwaltungen bieten Traumaberatung für Mütter und Kinder an.


Albträume, Bettnässen

Hannah Tal, Therapeutin und Sozialarbeiterin am seit drei Jahren bestehenden Resilienz-Zentrum, das rund 400 Mitglieder der Gemeinde Sha'ar HaNegev behandelt hat, erklärte, Kinder würden ins Bett nässen, unter Albträumen leiden und hätten Angst allein zu sein.
"Sehr wenige wurden durch die Angriffe getötet oder verletzt", erklärte Tal. "Das Trauma entsteht aus der Sorge nicht zu wissen, wo oder wann ein Angriff stattfinden wird."
In den vergangenen Wochen wurde die Bewegungsfreiheit auf der Straße und die Zeit, die Kinder im Freien spielen dürfen, eingeschränkt, erzählte sie. Tal und ihre eigene Familie waren an vergangenen Wochenende durch die Warnung von Lautsprechern, die "Warnstufe rot" verkündeten, 45 mal gezwungen, Zuflucht in ihrem "Schutzraum" zu suchen.

Militante in Gaza feuerten in den vier Tage dauernden Kämpfen vom 7.-10. April mindestens 140 Raketen (hauptsächlich grobe, selbstgebaute Kassams) und Mörsergranaten auf Israel ab, berichtete die israelische Armee, und Hunderttausende Israelis sucht in diesem Zeitraum Schutz in Sicherheitsräumen. Schutzräume gibt es auch an öffentlichen Orten wie Bushaltestellen und Spielplätzen. Zwei israelische Zivilisten wurden verletzt. Die meisten Raketen fielen auf leeres Gelände, aber eine Anzahl Häuser in der Region Eshkol wurde auch getroffen.

Im gleichen Zeitraum startete die israelische Armee eine Reihe von Angriffen aus der Luft, mit Panzern und mit scharfer Munition auf verschiedene Ziele in ganz Gaza, tötete laut UNO-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) (2) 23 Palästinenser - darunter 10 Zivilisten - und verletzte 65 Palästinenser - darunter 46 Zivilisten.
In der Vergangenheit haben UNO-Vertreter Israels unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt gegen besetztes palästinensisches Territorium kritisiert.

Ronit, eine 40jährige Mutter von zwei Kindern im Kibbutz Nahal Oz, der zu Sha'ar HaNegev gehört, die es vorzog nur ihren Vornamen zu nennen, ist sichtbar erschüttert durch die jüngste Welle von Raketenangriffen. Sie und ihre Familie, wie viele aus der Region, verbringen die jüdischen Pessach-Feiertage nicht zuhause.


"Schutzräume"

"Wir blieben jedesmal während der Angriffe stundenlang im Schutzraum unseres Hauses. Wir haben Geschichten vorgelesen, und ich habe meiner dreijährigen Tochter erzählt, wir könnten den Raum nicht verlassen, bis wir eine Textbotschaft von Onkel Jossi erhalten", meinte Ronit. Die kommunalen Behörden arbeiten mit der israelischen Armee zusammen, um Zivilisten per Textbotschaft auf ihren Handys zu informieren.

Alle Wohnhäuser in der Region verfügen nach israelischem Gesetz über "Schutzräume". Sha'ar HaNegevs neue Grundschule ist gegen Bomben gesichert, und eine neue, sicherere Oberschule wird in diesem September fertiggebaut sein.
Ein Kindergarten im Kibbutz Nahal Oz, in Israels Südbezirk, hat einen gesicherten Spielbereich und ein verstärktes Dach zum Schutz der Kinder vor Raketenangriffen. "Meine Eltern leben in Ashkelon, und ich fühle mich sicher, wenn ich dorthin gehe, wegen der Eisenkuppel", erklärte Ronit.
Ronit und ihr Mann, Dan, der Lehrer an der Oberschule ist, gehörten zu einem Zustrom neuer Anwohner, die während der zwei Jahre währenden Ruhephase seit Israels Offensive "Gegossenes Blei", die im Januar 2009 endete, in den Kibbutz kamen. Viele junge Paare fanden den billigen Grundbesitz und die guten Schulen attraktiv.

Die Gewalt zwischen Militanten in Gaza und der israelischen Armee entzündete sich von neuem Mitte März.


Schulbus getroffen

"Ich fühle mich hier nicht mehr sicher, seitdem der Schulbus in der letzten Woche angegriffen wurde", sagte Ronit.
Der Schulbus im Südbezirk wurde am 7. April von einer Panzerabwehrrakete getroffen, die den Busfahrer und einen 16jährigen Jungen schwer verletzte [1]. Er hatte wenige Minuten vor dem Angriff Kinder aus dem Kibbutz abgesetzt.
Ronit und Dan überlegen, ob sie umziehen sollen.

Die Hamas hat die Verantwortung für den Angriff, der den Schulbus getroffen hat, übernommen. Es war jedoch nicht die Absicht gewesen, Kinder anzugreifen, erklärte der Vizeaußenminister der Hamas, Ghazi Hamad, gegenüber IRIN.
Der Angriff stellte eine Vergeltungsaktion für den Tod von drei Köpfen des militärischen Arms der Hamas am 1. April durch die israelische Luftwaffe dar.
"Die Hamas ist dagegen, auf Zivilisten zu schießen", erklärte Hamad und meinte weiter: "Israel greift Zivilisten in Gaza absichtlich an, und es hat die militärischen Möglichkeiten sicherzustellen, wer unter Beschuß genommen wird."

Hamad erklärt, daß ausländische Mächte wie der Iran und Syrien keinen Einfluß auf die Angriffe auf Israel haben, die aus Gaza kommen.
Traditionellerweise erklärt die Hamas ihre Raketenangriffe auf Israel zu einem Teil ihres "Widerstandes" gegen die militärische Besetzung palästinensischen Landes.

Ägyptische und UN-Vermittler erreichten nach Angaben offizieller Vertreter des Außenministeriums in Gaza am 10. April einen informellen Waffenstillstand, der die wochenlange grenzüberschreitende Gewalt beendete, auch wenn sich der Waffenstillstand am 15. April aufzuweichen schien, als Gewalt und Gegengewalt zwischen den beiden Seiten wieder einsetzten.

Der israelische Präsident, Shimon Peres, besuchte Nahal Oz am 14. April um Solidarität mit den Anwohnern zu demonstrieren, von denen viele das Gefühl haben, daß die Regierung nicht genug zu ihrem Schutz unternimmt.

Wenige Bewohner befürworten eine weitere Gaza-Operation aus dem Wissen heraus, daß sie diejenigen sein werden, die während einer Bodenoffensive die volle Wucht der Angriffe aus dem Gazastreifen treffen wird.
Darüber hinaus hat der Erfolg der Eisenkuppel den Druck von der israelischen Führung genommen, eine solche Offensive zu starten. Das von Israel entwickelte System, das großenteils von den USA finanziert wurde, benutzt Kameras und Radaranlagen, um herannahende Raketen aufzuspüren, und ist dafür konstruiert, sie innerhalb von Sekunden nach ihrem Start abzuschießen.
Die instabile Lage in Ägypten könnte ein weiterer Grund sein, warum Israel möglicherweise davon absieht, weitere Bodenoffensiven zu starten, insbesondere in der Nähe des Grenzübergangs Rafah in Südgaza.

Nahal Oz-Anwohner Dan Solomon, 73 Jahre alt, erklärte: "Eine der schlimmsten Folgen dieser Situation ist die, daß unsere Kinder und Enkelkinder zuviel Angst haben, uns zu besuchen."
"Israel sollte die Hamas-Führer ins Visier nehmen", sagte Dan. "Die Bevölkerung Gazas trägt die volle Last dieses Konfliktes, nicht die Anführer."

Vier israelische Zivilisten wurden 2010 bei Zwischenfällen in Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt getötet und 45 verletzt, meldet OCHA (3). In demselben Zeitraum starben bei Zwischenfällen in Verbindung mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt 35 palästinensische Zivilisten, und 1.500 wurden verletzt.

Die nationale Polizei Israels und der Hilfsdienst Magen David Adom waren auf Nachfragen IRINs nicht in der Lage, diese Zahlen zu bestätigen.

es/cb

(Dieser Bericht spiegelt nicht notwendigerweise die Ansichten der Vereinten Nationen wider)


(1) http://www.sng.org.il/eng/
(2) http://www.ochaopt.org/documents/ocha_opt_protection_of_civilians_weekly_report_2011_04_15_english.pdf
(3) http://www.ochaopt.org/documents/ocha_opt_the_humanitarian_monitor_2011_04_12_english.pdf



Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Dov Hartuv, 71 Jahre alt, und seine Frau zogen 1961 von Südafrika nach Nahal Oz. "Wir gehen während der Angriffe unserer alltäglichen Routine nach, vielleicht aufgrund unseres Alters", meint Dov. "Aber unsere Kinder und Enkelkinder müssen Sicherheitsvorkehrungen treffen." (Foto: Erica Silverman/IRIN)
Kindergarten im Kibbutz Nahal Oz, in Israels Südbezirk, mit gesichertem Spielbereich und einem verstärkten Dach zum Schutz der Kinder vor Raketenangriffen. (Foto: Erica Silverman/IRIN)

[1] Der 16-jährige Schüler konnte lt. Radiosender 'Kol Israel' leider nicht gerettet werden und verstarb am 18. April.

[2] Magen David Adom: 'Roter Schild David' - Mitglied der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung seit 2006.

IRIN (Integrated Regional Information Networks) ist der Informationsdienst des UN-Koordinationsbüros für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) mit humanitären Nachrichten und Analysen

Übersetzungsdisclaimer: Redaktion SCHATTENBLICK hat den englischsprachigen Originalartikel von IRIN unabhängig ins Deutsche übersetzt. Die Übersetzung wurde weder von IRIN noch von den Vereinten Nationen geprüft. Redaktion SCHATTENBLICK übernimmt die volle Verantwortung für die Korrektheit und Originalgetreue der Übersetzung. Der Originalartikel kann unter http://www.irinnews.org/Report.aspx?ReportID=92527 eingesehen werden.


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Quelle:
ISRAEL-OPT: Israeli communities traumatized by Gaza rockets
© IRIN 2011, 20. April 2011
Kontakt: IRIN Director, E-Mail: feedback@IRINnews.org
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Internet: www.irinnews.org
mit freundlicher Genehmigung von IRIN
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. April 2011