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NAHOST/885: Libyen im historischen und politischen Wandel - Neue Analysen zu Akteuren und Strukturen (idw)


Universität Bayreuth - 28.12.2011

Libyen im historischen und politischen Wandel:
Neue Analysen zu Akteuren und Strukturen


Wie geht es in Libyen nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes weiter? Wer die gegenwärtigen Entwicklungen verstehen will, muss die historisch gewachsenen Strukturen im nordafrikanischen Raum und die Akteure kennen, die mit höchst unterschiedlichen Machtinteressen und kulturellen Voraussetzungen an der Umgestaltung Libyens mitwirken. Dr. Thomas Hüsken, Ethnologe an der Universität Bayreuth, hat dazu kürzlich eine wissenschaftliche Analyse vorgelegt. Diese stützt sich auf langjährige Forschungsarbeiten, insbesondere auf zwei Forschungsaufenthalte in Libyen im Februar und im Mai/Juni diesen Jahres.

Als Libyen im Jahre 1951 in die politische Unabhängigkeit entlassen wurde, herrschte dort zunächst eine Monarchie. 1969 stürzte Muammar Al Gaddafi das regierende Königshaus durch einen Militärputsch, seine Herrschaft mündete in "eine von Geheimdiensten, Spitzeln und der Willkür der Revolutionskomitees gestützte Diktatur der Angst", wie Hüsken schreibt. Doch scheiterte der Versuch, den Einfluss der jahrhundertealten Stammes- und Familienstrukturen in Libyen nachhaltig zu schwächen. Gaddafi musste sich mit diesen kulturellen und politischen Machtfaktoren arrangieren. Dadurch konnte er seine Herrschaft stabilisieren, aber Stammespolitiker behielten größere lokale und regionale Einflussmöglichkeiten.


Stammesführer als moderne "Politik-Entrepreneure"

In diesem Zusammenhang fordert Hüsken sowohl die Wissenschaft als auch die internationale Politik auf, sich von orientalistischen Klischees zu lösen und den Stamm nicht für eine prinzipiell rückständige Form der gesellschaftlichen Organisation zu halten. Die rund 140 Stämme Libyens und ihre Führungsstrukturen sind seiner Auffassung nach durchaus in der Lage, die politische und soziale Modernisierung in Libyen voranzubringen. Die Stammestradition in Libyen sei "eine wichtige Ressource zur Wir-Gruppenbildung", Innovation und Kreativität seien darin aus historischen Gründen fest verankert. Hüsken erwartet deshalb, dass lokale Stammespolitiker und ihre Netzwerke eine zentrale Rolle spielen werden, wenn es darum geht, eine politische Neuordnung Libyens auf den Weg zu bringen und die Folgen der Diktatur zu überwinden.

Einige dieser politischen Einflussträger hat Hüsken während seiner Forschungsarbeiten persönlich kennengelernt. Er unterscheidet zwischen zwei Gruppen: "Pioniere" sind hochbetagte beduinische Führer, die in der libyischen Monarchie eine unbestrittene Machtposition hatten, vor allem bei der Regelung ziviler Konflikte. Deren Söhne - Hüsken bezeichnet sie als "Politik-Entrepreneure" - sind heute erfolgreiche Händler, Geschäftsleute und Anwälte, aber auch Stammespolitiker. Sie entfalten zahlreiche politische Aktivitäten auf regionaler Ebene; zudem stehen sie im direkten Austausch mit dem Nationalen Übergangsrat in Benghasi. Zwar orientieren sie sich nicht ausschließlich an westlichen Demokratiemodellen, haben aber bisher viel zur öffentlichen Ordnung und inneren Stabilität beigetragen.


Ein ungelöster Generationenkonflikt

In den Fernsehbildern der libyschen "Arabellion", die in den westlichen Medien verbreitet wurden, dominierte häufig die Jugend in den Großstädten. "Es ist verständlich, dass diese Berichte über eine revolutionäre 'Facebook-Generation' großen Anklang beim westlichen Publikum fanden. Doch sie entsprechen nicht der Realität", erklärt Hüsken. "Tatsächlich haben die jungen Leute in Libyen einen ziemlich geringen Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Ihre Ausbildung liegt deutlich unter internationalen Standards. Nach wie vor sind sie auf Verbindungen zu ihren Familien angewiesen, dort aber liegt die Autorität bei der älteren Generation." Es gebe daher einen ungelösten Generationenkonflikt, eine "enorme Herausforderung" für die künftige libysche Gesellschaft.


Islamische Prediger und ihre Zielgruppen

Islamische Prediger und ihre Gefolgschaft haben im Widerstand gegen das Gaddafi-Regime immer stärker an Einfluss gewonnen. Ausgehend von einer sehr konservativen Auslegung des Korans, verfolgen sie mit Nachdruck das Ziel einer aus dem Islam abgeleiteten staatlichen Ordnung. Ihr öffentliches Ansehen steigt, weil sie klare Vorstellungen für die Neuordnung des Gemeinwesens anbieten und zahlreiche soziale Aktivitäten zugunsten ärmerer Bevölkerungskreise entwickeln.

Vom politischen Extremismus radikaler Prediger distanzieren sich die Mitglieder der Islamischen Bruderschaft, die sich hauptsächlich an die städtische Mittelschicht wenden. "Ich habe Veranstaltungen besucht, in denen Redner der Bruderschaft die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie immer wieder behaupten", berichtet Hüsken. "Mit ihrem eher zurückhaltenden Auftreten scheint es ihnen in Zeiten des Umbruchs zu gelingen, vor allem bei der Mittelschicht Vertrauen zu gewinnen."


Zum Begriff der "Heterarchie"

Derzeit kooperieren und rivalisieren in Libyen also sehr unterschiedliche Akteure und Strukturen. Hüsken greift daher in seinen Analysen auf das Konzept der "Heterarchie" zurück. Es wurde in den Sozialwissenschaften zuerst von dem Bayreuther Ethnologen Prof. Dr. Georg Klute angewendet, um zu beschreiben, wie insbesondere in Afrika staatliche und nicht-staatliche Machtfaktoren sich wechselseitig ergänzen und stärken, aber auch bekämpfen und zurückdrängen. "Wie sich in Libyen aus dieser Gemengelage eine neue Ordnung herausbilden wird, lässt sich kaum absehen", meint Hüsken. "Die organisatorischen und institutionellen Fähigkeiten der Zivilgesellschaft sind noch schwach ausgeprägt; und die kulturelle Erblast der Diktatur abzutragen, ist eine harte, aber unvermeidliche Aufgabe."


Veröffentlichung:

Thomas Hüsken, Politische Kultur und die Revolution in der Cyrenaika.
In: Fritz Edlinger (Hg.), Libyen: Hintergründe, Analysen, Berichte.
Wien 2011, S. 47-71.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution4


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Bayreuth, Christian Wißler, 28.12.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2011