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NAHOST/921: Tunesien ein Jahr nach der Revolte (inamo)


inamo Heft 69 - Berichte & Analysen - Frühjahr 2012
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Tunesien ein Jahr nach der Revolte

Von Werner Ruf



Am 14. Januar 2012, dem Jahrestag der Flucht von Zin Abdin Ben Ali und des harten Kerns der Diebesbande um seine Ehefrau Leila Trabelsi feierte Tunesien die Befreiung von Diktatur und Kleptokratie. Ben Ali und seine angeheiratete Sippe hatten sich buchstäblich wie der Dieb in der Nacht davon gestohlen, aber der Systemwandel ist noch weit: Der langjährige Ministerpräsident Ben Alis, Mohamed Ghanouchi (nicht zu verwechseln mit Rachid Ghannouchi, dem Führer der islamistischen Partei en-nahda) blieb ebenso im Amt der "Übergangsregierung" wie fast alle Minister. Es war der kontinuierliche Druck der Straße, der schließlich zur Abdankung der alten Garde, zur Auflösung der Quasi-Staatspartei RCD (Ressemblement Constitutionnel Démocratique, Demokratische Verfassungs-Versammlung) und der Ernennung unbelasteter Minister in einem Übergangskabinett führte. Inzwischen zeigen sich jedoch immer deutlicher die desaströsen ökonomischen und sozialen Folgen der Kleptokratie und der Außenabhängigkeit der Wirtschaft.


Am 23. Oktober 2011 wählten die Tunesier ein Parlament. Die Listen sollten streng nach Männern und Frauen quotiert sein nur die islamistische Partei en-nahda (die Wiedergeburt) erfüllte diese Vorgabe annähernd. Sie erreichte mit 40,6% der abgegebenen Stimmen eine überwältigende Mehrheit, keine der übrigen Parteien erreichte mehr als 7%. Insbesondere die linken Parteien zeichneten sich durch starke Zersplitterung aus: Insgesamt waren 114 Parteien angetreten. So erreichten diese kleinen und weitgehend unbekannten Parteien, wenn überhaupt, zwischen einem und drei Sitzen. Damit ist die Situation in Tunesien - von Rahmenbedingungen [1] wie der Rolle des Militärs oder der geostrategischen Lage abgesehen - grundsätzlich anders als in Ägypten, wo die inzwischen als "gemäßigt" gehandelten Muslimbrüder bei den Wahlen 47%) erreichten, ihre salafitische Konkurrenz der hizb an-nour (Partei des Lichts) 20% der Stimmen [2].

Die verfassunggebende Versammlung
Der Sieg von en-nahda fiel unerwartet hoch aus, auch wenn die Partei die absolute Mehrheit verfehlte. Der Grund hierfür dürfte sein, dass sie sich am deutlichsten vom ancien régime Ben Alis distanziert hatten [3] und dass gerade en-nahda massiver Verfolgung ausgesetzt war. Die islamistische Partei steht dabei klar für islamische Werte wie Solidarität und eine auf dem Islam basierende tunesische Identität. Vor allem gelang es ihr, die grassierende Korruption als Merkmal westlicher Lebensweise und des Sittenverfalls zu stigmatisieren, der seinen sichtbarsten Ausdruck im lockeren Lebenswandel der Präsidentengattin Leila Trabelsi fand. So steht hinter dem Wahlergebnis die Ablehnung westlicher - unmoralischer - Lebensweise. Die Korruption hatte sich bis in die Poren der Gesellschaft gefressen und bestimmte den sozialen Alltag von der banalen Bestechung eines Polizisten, der von seinem Gehalt nicht leben konnte, bis zur Einschulung der Kinder in eine gut beleumundete Schule oder der Vergabe schlechter Schulnoten durch Lehrer/innen, die dann Nachhilfestunden anboten, um die "schlechten Leistungen" auszubügeln. Diese permanente Demütigung, dieser Verlust von Würde prägte die Gesellschaft ebenso wie die Hoffnung auf eine nationale Erneuerung unter einem letztlich anti-kolonialen Vorzeichen: Wären nicht die westlichen "Werte" Ursache dieser Unmoral? Die Tunesier verziehen dem Regime diese Unmoral noch weniger als seinen Autoritarismus.[4]

In der am 23. Oktober 2011 gewählten verfassunggebenden Versammlung koalierte en-nahda mit den beiden nächststärksten Parteien, der links-sozialdemokratischen Ettakatol, (6,9%) und dem sozialdemokratischen Congrès pour la République (GPR, 6,3%), der Partei des dann zum Interimspräsidenten gewählten Moncef Marzouki, einem Menschenrechtler, der lange Jahre im französischen Exil verbracht hatte. Damit blieben die unter Ben Ali "legalen" Oppositionsparteien von der Regierungsbildung ausgeschlossen. Diese beiden Parteien sind ebenso wie sämtliche Oppositionsparteien säkular ausgerichtet. Bisher zeichnet sich ab, dass der Artikel 1 der alten noch unter Burgiba ausgearbeiteten Verfassung, der besagt, dass die Religion Tunesiens der Islam und die Sprache Arabisch ist, erhalten bleibt. Unter dem Einfluss von en-nahda dürfte dieser Artikel allerdings mit neuem Leben gefüllt werden. Inwieweit dies auch Bezüge zur Scharia als Rechtsquelle umfasst, wie von Teilen der Partei gefordert wird, bleibt abzuwarten.

Während die Hauptaufgabe des gewählten Parlaments die Ausarbeitung einer neuen Verfassung binnen Jahresfrist ist, wurde auf der Basis des Wahlergebnisses eine neue Regierung gebildet, die bis zur Annahme der Verfassung und darauf folgenden Neuwahlen im Amt bleiben soll. Der Generalsekretär von en-nahda, Mamadi Jebali wurde Ministerpräsident. Damit signalisiert en-nahda, dass das Parlament in Zukunft die entscheidende Rolle spielen soll, während das Präsidialamt eine eher repräsentative Funktion haben soll: Sollten sich diese Vorstellungen in der Verfassung niederschlagen, wäre Tunesien die erste parlamentarische Demokratie der Region. Zugleich erklärte en-nahda mehrfach, dass - entsprechend den Regelungen der alten Verfassung - die freie Religionsausübung und die in Tunesien außerordentlich weit gediehenen Frauenrechte erhalten bleiben sollten. Mehrfach hat die Parteiführung in eindeutigen Erklärungen Kopftuchzwang und Alkoholverbot abgelehnt.

Die islamistische Szene.
Im Zuge der Revolte hatten die Gläubigen die von Ben Ali lizensierten und streng überwachten Prediger davon gejagt. Demokratisch wurden in den Moscheen neue Prediger eingesetzt. Deren jeweilige ideologische Bindungen sind weitestgehend unbekannt, es scheint aber, dass gerade in den Elendsvierteln der Vorstädte und im unterentwickelten Westen des Landes radikale Kräfte eine wichtige Rolle spielen. Im Straßenbild zeigen sich zunehmend bärtige Männer im langen Hemd der Afghanen und Frauen in Ganzkörperverschleierung (niqab), ein in Tunesien bisher unbekanntes Bild. Diese Salafisten geben sich zunehmend militant: Mit Sit-ins, Besetzungen von Hochschulen wie insbesondere der Universität Manouba in Tunis und der Universität Sousse versuchen sie zu erzwingen, dass Frauen im niqab zu den Vorlesungen und Prüfungen zugelassen werden, während der säkulare Lehrkörper sich massiv gegen diese Glaubensdemonstrationen zur Wehr setzt, u.a. mit der Begründung, die Identität der Examenskandidatinnen sei nicht überprüfbar. Bemerkenswert ist an diesen Vorgängen, dass die Salafisten trotz erheblicher von ihnen angerichteter Sachbeschädigungen und körperlicher Attacken gegen das Universitätspersonal von der aufgebotenen Bereitschaftspolizei nicht daran gehindert wurden. Diese erklärten ihre Untätigkeit mit der Begründung, sie habe keinen Einsatzbefehl.[5]

Von besonderer Brisanz waren die Auftritte des salafistischen ägyptischen Predigers Wajdi Ghunaim, der in zahlreichen Moscheen und sogar in einem der größten Sportpaläste von Tunis auftrat und dort die konsequente Rückkehr zur Scharia forderte und für die Exzision von Mädchen und Frauen agitierte, einer im ganzen Maghreb unbekannten Praxis. Dies löste im ganzen Land heftige Proteste aus.

Damit stellen sich zwei Fragen: Woher kommen die Salafisten, die bisher in Tunesien völlig unbekannt waren, und was ist ihr Verhältnis zu en-nahda?

1): Es mag sein, dass sich, wie Teile der Presse berichten, in den Folterkellern Ben Alls eine kleine Zelle radikaler Islamisten bildete, die einen gewissen Einfluss auf andere islamistische Häftlinge ausübte. Auch mag der Einfluss radikaler Kräfte im verelendeten Westens Tunesiens eine gewisse Unterstützung finden, wo beispielsweise eine Gruppe Militanter kurzfristig die Kontrolle über die Kleinstadt Siliana übernommen haben soll. Dennoch deutet Vieles darauf hin, dass diese Gruppen massive Unterstützung aus dem Ausland erhalten, insbesondere aus Qatar und Saudi-Arabien, das für die "Demokratisierung Tunesiens" 100 Mio. US-$ zur Verfügung gestellt haben soll. Saudi-Arabien, das dem geflohenen Diktator Ben Ali Asyl gewährt, an der Front der Kämpfer für Demokratie zu finden, ist sicherlich nicht ohne Pikanterie. Der Emir von Qatar war der wohl wichtigste Ehrengast beiden Feiern zum Jahrestag der Revolution am 14. Januar 2012. Auch pflegt die neue Regierung besonders intensive Beziehungen zu Qatar, das die Finanzierung einer Vielzahl von Projekten und erhebliche Investitionen zugesagt hat, darunter auch die mögliche Einrichtung "islamischer Hotels"; in denen westliche Badekleidung und Alkohol untersagt sein sollen. Dass angesichts der gespannten sozialen und wirtschaftlichen Situation (s. u.) Investitionen jeder Art willkommen sind, liegt auf der Hand. Die Frage ist, wie viel politischer Einfluss damit verbunden ist und mit welchen Kräften diese beiden Staaten vorrangig kooperieren.

2) An den demokratischen Überzeugungen von en-nahda und ihres geistigen Führers Rachid Ghannouchi dürften kaum Zweifel bestehen. Die Frage ist allerdings, welchen Einfluss radikale Elemente innerhalb der Partei haben. Die Salafisten fahren offensichtlich eine Doppelstrategie: Einerseits betreiben sie die Gründung einer eigenen Partei (hizb et-tahrir, Partei der Befreiung), deren Legalisierung bisher von der Regierung verweigert wurde, andererseits hatten sie während des Wahlkampfs massiv zur Unterstützung von en-nahda aufgerufen und dürften daher eine nicht unerhebliche Rolle in der Partei spielen. Unklar ist auch der Einfluss einzelner Moscheen auf die Anhänger der Partei. Sicher dürfte sein, dass die fortdauernde Verschlechterung der sozialen Lage der Bevölkerung den Radikalen in die Hände spielt.

Die sozio-ökonomische Lage.
Die westlichen Regierungen und vor allem die internationalen Finanzorganisationen waren während der Diktatur Ben Alis nicht müde geworden, das "tunesische Modell", das konsequent einen neo-liberalen Kurs verfolgte, über den grünen Klee zu loben. Kein geringerer als Dominique Strauss-Kahn, der damalige Direktor des IWF, erklärte im November 2008 in Tunis, dass die wirtschaftliche Situation des Landes gut sei dank der "weisen" monetären Politik seiner Regierung.[6] Die Richtlinien dieser Politik bestimmte jedoch keineswegs die von Marktradikalen immer wieder beschworene "unsichtbare Hand des Marktes", sondern klare politische Vorgaben: Gerade durch die Liberalisierung, durch die Bildung von "Freien Produktionszonen", in denen ausländisches Kapital "Lohnveredelung" betreibt,[7] wurde die Konkurrenzfähigkeit der einheimischen Betriebe gegenüber den Investitionen aus den EU-Staaten erheblich behindert: Als erstes "Mittelmeer-Drittland" (MDL) hat Tunesien am 1.3.1998 mit der EU ein so genanntes Europa Mittelmeerabkommen in Kraft gesetzt, das binnen zwölf Jahren zur vollständigen Verwirklichung einer Freihandelszone mit der EU führen sollte. Ausgenommen bleiben aufgrund des Drucks der europäischen Agrarlobby die Agrarprodukte, was eine schwere Behinderung für die Exportwirtschaft Tunesiens darstellt. Hinzu kommt der Anpassungsdruck an den europäischen Markt und die beschränkte Konkurrenzfähigkeit der tunesischen Firmen, die der Konkurrenz billiger europäischer Massenprodukte oft nicht standhalten konnten und können. Folge waren Betriebsschließungen und Entlassungen in etwa einem Drittel der kleinen und mittleren Betriebe. Demgegenüber genießen europäische Investoren Vorteile, in deren Genuss tunesische Betriebe nicht kommen: Steuerfreiheit über mehrere Jahre und freier Gewinntransfer nach Europa.[8]

So behinderte die Außenorientierung der Wirtschaft systematisch die Entwicklung einer einheimischen und vor allem auf die Bedürfnisse des lokalen Markts orientierten Produktion und verstärkte damit die Außenabhängigkeit des Landes. Korruption und Kleptokratie, vor allem aber die Übernahme der ehemaligen Staatsbetriebe durch die Ben Ali-Trabelsi-Bande wirkte sich zusätzlich hemmend auf die tunesischen Betriebe aus: Mehr als aufschlussreich ist eine inzwischen vorgelegte Analyse des tunesischen Arbeitgeberverbandes UTICA (Union Tunisienne de l'Industrie et de l'Artisanat),[9] der zufolge 40% der tunesischen Betriebe unter Kontrolle des Trabelsi Clans standen. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass viele Betriebe nicht investierten oder modernisierten, um dadurch zu vermeiden, zum Zielobjekt der Mafia der Präsidenten-Gattin zu werden. Schlussfolgerung: Hätten diese Betriebe sich unternehmerisch und marktkonform verhalten (können), hätten rd. 200.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden können.[10] Dies ist eine bemerkenswerte Zahl in einem Staat mit 10 Mio. Einwohnern, allerdings muss sie wohl mit Vorsicht betrachtet werden, stand die UTICA doch dem Regime sehr nahe und muss nach der Revolte versuchen, sich gleichfalls als Opfer darzustellen.

Die tatsächliche Situation der tunesischen Wirtschaft aber musste den internationalen Finanzagenturen wie auch den entsprechenden Gremien der EU bekannt gewesen sein. Immerhin äußerte selbst die GTAI (Germany Trade and Invest, früher: Bundesanstalt für Außenhandelsinformation) Zweifel an der Verlässlichkeit der von den tunesischen Behörden gelieferten Zahlen, die wiederum Grundlage für die "Erfolgsstory" waren. [11] Der tunesische Wirtschaftswissenschaftler Ali Zmerli [12] bezieht sich in einer Analyse des kriminellen Systems der Präsidentenfamilie auf eine Studie, die von IWF und Weltbank in Auftrag gegeben wurde. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass in den Jahren 1999 bis 2008 mehr als zehn Mrd. aus dem Umkreis der Präsidentenfamilie auf ausländische Konten transferiert wurde. Die Summe entspricht ziemlich genau den gesamten Auslandsschulden des Landes.

Ebenso falsch waren die Angaben betreffend das Ausmaß der Armut in Tunesien: Neue Untersuchungen förderten zutage, dass rd. 15% der tunesischen Bevölkerung unter der absoluten Armutsgrenze von 2 US$ pro Tag leben, während das Regime diesen Prozentsatz mit 4% angegeben hatte: Um zu diesen Zahlen zu kommen, war der Maßstab für absolute Armut auf ein Einkommen von 0,8 US$/Tag abgesenkt worden.[13] Die Platzierung Tunesiens als Musterland und die Mär vom "tunesischen Wirtschaftswunder", an der der Westen kräftig mitgestrickt hat, dürfte rein politische Gründe gehabt haben.

Die im Grunde marode Ökonomie, die Ausplünderung des Landes durch die Ben Ali-Trabelsi-Bande, die endemische Korruption, die grassierende Arbeitslosigkeit und die schwindenden Einkommen gerade auch der Mittelschichten waren die wirklichen Gründe für die Aufstände, für die die Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis am 17. Dezember 2010 und die darauf folgende brutale Repression nur der Katalysator waren. In der Folge der Revolte ging der Tourismus, einer der wichtigsten Devisenbringer des Landes, um mehr als 50% zurück. Die Perspektiven für das Jahr 2012 deuten nicht darauf hin, dass sich der Tourismus-Sektor nennenswert erholen wird.

Inzwischen sind bei einer Gesamtbevölkerung von rd. 9 Mio. Einwohnern 890.000 Menschen arbeitslos. Das sind durchschnittlich 27%, in manchen Gegenden, vor allem im Westen und Süden sind es 50%. Unter den Arbeitslosen sind über 300.000 Hochschulabsolventen. D.h. ein Jahr nach der Revolte, deren Hauptgrund die soziale Misere war, hat sich die soziale Lage weiter verschlechtert. Im Bewusstsein ihrer neuen Freiheiten reklamiert die Bevölkerung zunehmend soziale Rechte: Entschädigung für die etwa 300 Menschen, die von den Sicherheitskräften während des Aufstands getötet wurden, Entschädigung auch für die Verletzten und dauerhaft Behinderten. Streiks in den unterschiedlichsten Sektoren sind an der Tagesordnung, wobei es teils um die Entfernung von Führungskräften in Betrieben geht, die noch aus dem alten System stammen, aber auch um Lohnforderungen, um die Entfristung der Verträge von kurzfristig Beschäftigten. Auch die Sicherheitskräfte haben sich inzwischen gewerkschaftlich organisiert und fordern mit Demonstrationen und Sit-Ins größere Rechte und höhere Gehälter. Die Versorgungslage ist teilweise prekär, die Bevölkerung antwortet mit Straßen- und Eisenbahn-Blockaden. Die ehemalige Einheitsgewerkschaft UGTT (Union Générale des Travailleurs Tunisiens) hat sich gespalten, hinfort gibt es zwei weitere Gewerkschaften, die UTT (Union des Travailleurs Tunisiens) und die CGTT (Confédération Générale des Travailleurs Tunisiens), wobei die UGTT weiterhin der mit Abstand stärkste Dachverband bleiben dürfte. Die zweitwichtigste Devisenquelle des Landes, der Export von Phosphaten aus der Minen-Region Gafsa, wo schon 2008 Aufstände stattgefunden hatten, ist seit einem halben Jahr aufgrund von Arbeitskämpfen zum Erliegen gekommen. Entsprechend reagiert das ausländische Kapital: Im Jahre 2011 hat Tunesien ein Drittel seiner Auslandsinvestitionen verloren.

Die libysche Hypothek.
Schon immer war der Schmuggel über die libysche Grenze (Benzin gegen Fertigwaren und Lebensmittel) eine lukrative Einkommensquelle für den bitterarmen Süden des Landes gewesen. Mit den Unruhen und vor allem dem Krieg der NATO verloren nicht nur Tausende tunesische Gastarbeiter ihren Job in Libyen, etwa 900.000 libysche Flüchtlinge kamen nach Tunesien. Sie wurden z. T. privat aufgenommen, viele wohlhabende Libyer nutzten die tunesische Hotel-Infrastruktur oder kauften Häuser und Wohnungen, was die Immobilien-Preise nach oben trieb. Der Zusammenbruch der libyschen Infrastruktur in der Folge des Krieges führte geradezu zur Explosion des Schmuggels: Viehherden, Lebensmittel in riesigen Mengen wurden über die Grenze verschoben und gegen billiges Benzin getauscht, selbst Mineralwasser verschwand zeitweise vom tunesischen Markt. Die Preise für Lebensmittel stiegen gewaltig.

Hinzu kommt die Sicherheitslage: Libysche Milizen verüben (zum Schutz von Schmugglern?) Anschläge auf tunesische Grenzposten, verletzen und entführen tunesische Grenzbeamte, sodass der wichtigsten Übergang Ben Guerdan mehrfach geschlossen wurde. Im tunesisch-algerisch-libyschen Grenzgebiet hat sich ein florierender Handel mit Waffen aus libyschen Beständen entwickelt, wobei nach algerischen Angaben vor allem die ominöse Al Qa'eda im Islamischen Maghreb (AQMI)[14] Hauptabnehmer sein soll. Das begehrteste Waffensystem ist dabei die russische Sam-7, auch man-pad genannt, also jene einer Panzerfaust ähnelnde Waffe, die von Einzelkämpfern bedient werden kann. Die Waffe sucht selbständig nach Hitzequellen, zielt also auf die Triebwerke von Flugzeugen. In Qaddhafis Beständen befanden sich etwa 10.000 bis 15.000 solcher Waffen.

Fazit.
Auf politischer Ebene scheint die Demokratisierung gelungen: Politischer Pluralismus, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit werden sich die Tunesier nicht mehr nehmen lassen. Dafür steht bisher - auch ganz offensichtlich en-nahda. Das teilweise geradezu hysterische Misstrauen von Teilen der säkularen Intelligenz gegenüber dieser Partei ist wenig konstruktiv und leitet Wasser auf die Mühlen der Radikalen. Das Problem Tunesiens ist die Außenabhängigkeit der Ökonomie, genauer: Keine tunesische Regierung wird in der Lage sein, souverän die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes zu bestimmen, im Gegenteil: Die Islamisten präsentieren sich wie auch in Ägypten als verlässliche Partner einer neoliberalen Politik: Dies hat Ministerpräsident Jebali gerade auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos wie auf der Münchner Sicherheitskonferenz als geladener Gast deutlich gemacht. In diesen Kontext gehört auch, dass die amerikanische politikwissenschaftliche Zeitschrift Foreign Policy die Führungsfigur der tunesischen en-nahda, Rachid Ghannouchi, in den Kreis der "einhundert führenden globalen Denker des Jahres 2011" aufgenommen hat.[15] Der Sinneswandel des Westens gegenüber "den Islamisten" dürfte also auf harten Interessen basieren, denn die sozialdemokratischen und sozialistischen Oppositionsparteien scheinen in Wirtschaftsfragen weniger verlässlich.

Das Zwillingspaar Demokratie und Marktwirtschaft scheint auf gutem Weg. Dies erklärt die massive Unterstützung des Demokratie - Prozesses auf politischer Ebene durch die EU und ihre Mitgliedstaaten wie auch durch die USA und nicht zuletzt die Golf-Staaten. Um eine reale Selbstbestimmung der Tunesierinnen und Tunesier über ihre Zukunft zu sichern, wäre ein Schuldenerlass ebenso notwendig wie der Einzug des von der Ben Ali-Trabelsi-Bande gestohlenen Volksvermögens. Hierfür gibt es derzeit keine Anzeichen, so dass der Schluss nahe liegt, dass der Westen und allen voran die EU weiterhin gegenüber den Staaten am Südufer des Mittelmeers mit zwei Zungen sprechen werden. Dass eine Demokratie Tunesien und anderswo aber nur überleben kann, wenn sie es vermag, die Würde der Menschen zu respektieren und zu sichern, scheitert an den kurzfristigen Interessen des westlichen (und arabischen) Kapitals.


Werner Ruf, Prof. em. für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik. Soweit nicht anders angegehen, sind die im Artikel benannten Fakten der tunesischen Presse entnommen.


Fußnoten

[1] Einen guten Überblick über die Umbruchszeit gibt Melzer, Ralf: Tunesien kann den demokratischen Wandel schaffen, aber ein Erfolg ist noch keineswegs gesichert. In: Internationale Politik und Gesellschaft, 4/2011, S. 18-26.

[2] FAZ 1. Februar 2012, S. 8.

[3] Werenfels, Isabelle: Tunesien: einmal mehr Vorreiter. SWP aktuell Nr. 49, November 2011.

[4] Khiari, Sadri im Gespräch mit Béatrice Hibou, Politique Africaine Nr. 121 2011, S. 23-34. hier S. 28.

[5] Zu Einzelheiten s. die unregelmäßig herausgegebenen "Nouvelles de la Faculté des Lettres de la Manouba".

[6] Beau, Nicolas / Graciet, Catherine: La régente de Carthage, Paris 2010. S. 130.

[7] In diesen speziell ausgewiesenen Gebieten kommt die tunesische Arbeits- und Sozialgesetzgebung nicht zur Anwendung. Sie ermöglichen daher dem dort investierenden ausländischen Kapital im Vergleich zu den tunesischen Unternehmen enorme Extraprofite.

[8] Hibou, Béatrice: Les faces cachées du Partenariat euro-méditerranéen, Critique internationale, Ne. 18, Januar 2003.

[9] Maghreb Emergent, 08 Février 2011.

[10] Maghreb Emergeant, Tageszeitung Algier, 8. Februar 2011.

[11] http://www.gtai.de/ext/anlagen/PubAnlage_7506.pdf?show=true [04-02-11]

[12] Zmerli, Ali: Ben Ali le ripou, Kapitalis.com 2011, http://www.kapitalis.com/images/banners/benaliripou.pdf [07-02-11].

[13] So die tunesische Wochenzeitung "Réalités".
http://www.realites.com.tn/details_article.php?t=535&a=23007&temp=1&lang= [10-06-11].

[14] Die sich AQMI nennende Gruppierung entstammt der algerischen Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC), die als Teil der undurchsichtigen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) im algerischen Bürgerkrieg vor allem gegen die bewaffneten Einheiten der Islamischen Heilsfront gekämpft hatten. Große Teile der GIA waren vom algerischen Geheimdienst unterwandert und gesteuert. Erstmalig trat sie in Erscheinung durch die Entführung der 32 deutschen, österreichischen und schweizerischen Touristen im Jahre 2003 in der Sahara. Inzwischen kontrolliert sie den transsaharischen Drogen- und Menschenhandel. Sie finanziert sich zusätzlich durch Entführungen von Europäern. Zu Ursprung in Charakter der sich "AQMI" nennenden Bande, s. Ruf, Werner: Terror, Geheimdienste und Geopolttik: Wie die Achse Washington - Algier Ressourcensicherung betreibt: in: Albrecht, Holger (Hrsg.): Der Vordere Orient. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Baden-Baden 2007, S. 63-79.

[15] http://www.foreignpolicy.com/articles/2011/11/28/the_fp_top_100_global_thinkers?page=0,3 [01-01-12].


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Graffitis der Originalpublikation:

- Militärchef Muhamed Hussein Tantawi
- Blogger Alas und Mina Daniel

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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 69, Frühjahr 2012

Gastkommentar:
- "Wir werden nicht wählen ... Ihr steht uns bis hier" von Abida Semouri

1 Jahr Frühling:
- Die arabischen Revolten: Was ist passiert und wiegt es weiter? Von Hisham Bustani
- Tunesien ein Jahr nach der Revolte. Von Werner Ruf
- Die Anfänge der sozialen Revolution am Mittelmeer - Beispiel Tunesien. Von Helmut Dietrich
- Ägypten: Auf einen Frühling folgt nicht gleich ein Winter. Von Clément Gauthier
- Die ägyptische Arbeiterklasse das Rückgrat der Revolution. Von Ivesa Lübben
- Jemen: Eine "Revolution" im Wartestand. Von Lutz Rogler
- Jemen: Notes on the Uprising. Von Charlotte Wiedemann
- Bahrain: One year on. Von Sabine Damir-Geilsdorf
- Melone oder Minze - ein Jahr nach der "Revolution" in Libyen. Von Almut Besold
- Jordanien und Marokko: Lösungsweg Verfassungsreform? Von André Bank
- Der Schlüssel zur Demokratie. Von Jörg Tiedjen
- Syrien: Bekämpfung der Diktatur ohne militärische Intervention. Von Bassam Haddad
- 'Gerechter' Krieg - Die Hybris unserer Weltverbesserer. Von Rony Braumann und Tsvetan Todorov
- Der Emir und das Internet
   Golfmonarchien: Zur Modernisierung der Tradition. Von Thomas Demmelhuber
- Zum Zeitpunkt der Revolution war das Internet abgeschaltet. Von Pepe Egger
- Die Stimme der Stimmlosen - Von den Banlieues bis zum Tahrir. Von Kaveh Yazdani

Palästina/Israel:
- Konsequenzen israelischer Waffentests in Gaza. Von Richard Lightbown
- Heißer Wind im Negev. Von Jonathan Cook

Sudan:
- Sudan und Südsudan: Wie du mir, so ich dir! Von Roman Deckert und Tobias Simon

Wirtschaftskommentar:
- Schlechte Geschäfte - Der Ausbau der Ölindustrie und die Unzufriedenheit der Öl-Multis
   Von Joachim Guilliard

Zeitensprung:
- 1980 Widerstand und Opposition - Warum Jisr ash-Shughur? Von Günter Lobmeyer

Ex mediis:
- Brown Skin, White Masks | In Afghanistan | The Political Economy of Israel's Occupation | Die Engel
   von Sidi Moumen | Extreme Rechte in Europa | Le Roi prédateur | Paris Marrakech
   Von Ludwig Watzal | Conrad Schetter | Malcolm Sylvers | Florian Vetsch | Dagmar Schatz | Jörg Tiedjen

Nachrichten//Ticker

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Quelle:
INAMO Nr. 69, Jahrgang 18, Frühjahr 2012, Seite 9 - 12
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2012