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NAHOST/952: Syrien - Dialog oder Tod? (inamo)


inamo Heft 70 - Berichte & Analysen - Sommer 2012
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Dialog oder Tod?

von Radwan Mortada



In der Berichterstattung über den Aufstand in Syrien stehen bisher Oppositionsgruppen wie der "Syrische Nationalrat" oder die "Freie syrische Armee" im Mittelpunkt. Doch so dominant sie auf den ersten Blick scheinen, sind sie in Wirklichkeit keineswegs repräsentativ für die Mehrheit der Revolutionäre, die sich überdies zunehmend von ihnen distanziert. Von verhängnisvollem Einfluss sind zudem vom Ausland finanzierte und gelenkte Einheiten fanatischer Guerilla-Kämpfer, die einen aussichtslosen Kampf um Alles oder Nichts führen. Den richtigen Weg weise der Annan-Plan, ist dagegen die Position von "Ar-Radif ath-Thauri" ("Der Rückhalt der Revolution"), einer der stärksten Organisationen, die im Verlauf des Aufstandes entstanden sind. Dennoch ist sie weithin unbekannt. Obwohl sie sich bewaffnet hat, setzt sie vor allem auf eines: Dialog.


"Ar-Radif" ist im Umland von Damaskus, in der Hauptstadt selbst und bis Lattakia im Nordwesten aktiv. Als humanitäres Netzwerk zur Unterstützung der Revolution gegründet, war die Bewegung anfangs strikt gegen Gewalt. "Wir sahen gerade im friedlichen Charakter der Proteste den Schlüssel zum Erfolg," sagt Generalsekretär Abu Abd ar-Rahman oder kurz Abu al-Abd. Als das Regime aber wehrlose Demonstranten erschoss, sei "Ar-Radif" nichts anderes übrig geblieben, als ebenfalls zu den Waffen greifen, zunächst in der Hoffnung auf Hilfe aus dem Ausland. Doch die geforderten schweren Waffen kamen nicht, ein Zeichen für "Ar-Radif", dass keines der Länder, die die Aufständischen unterstützen, ernsthaft einen gewaltsamen Umsturz anstrebe. "Mit den Waffen, über die wir verfügen, werden wir höchstens mehr Blutvergießen erreichen, aber keinen Regimewechsel. Wir haben auf eine Flugverbotszone oder eine Militärintervention gesetzt. Nichts geschah, und es hat nicht den Anschein, als ob sich daran etwas ändern wird."


Gewalt hat Grenzen
Für Abu al-Abd wäre konsequenter Gewaltverzicht effektiver gewesen. Der bewaffnete Kampf habe den Sieg der Revolution hinausgezögert, wenn er nicht sogar ihr Scheitern bewirke. Denn angesichts der Eskalation der Gewalt sei es nur zwangsläufig, wenn sich die Bevölkerung in ihrem Verlangen nach Sicherheit wieder dem Regime zuwende. Nicht zuletzt die Einmischung von außen habe die Revolution in diese schwierige Lage gebracht. Misstrauisch ist "Ar-Radif" gegenüber Exilpolitikern, die sich als Alternative zum Regime aufspielen, obwohl sie seit Jahrzehnten im Ausland leben: Sie verträten die Interessen ihrer Geldgeber, von der Lage vor Ort hätten sie keine Ahnung. Überhaupt scheine das Ausland Hilfe mitunter nicht aus Liebe zu Syrien zu leisten, sondern nur um Asad zu schaden. Ein Unterstützer in der Türkei habe zwar Waffenlieferungen an die "Freie syrische Armee" finanziert, als es aber darum ging, Verwundete zu versorgen, habe er auf Hilfsorganisationen verwiesen. Nicht gut zu sprechen ist Abu al-Abd auch auf das Embargo des Westens und der arabischen Länder, unter dem vor allem die einfache Bevölkerung leide.

Gründer von "Ar-Radif" sind Ärzte, Rechtsanwälte, kleine Händler, aber auch Inhaber größerer Firmen, von denen viele inhaftiert wurden. Die Organisation lebt von den Mitteln, die sie bereitstellen. Abu al-Abd ist unerklärlich, warum niemand die Freilassung der geschätzten über 100.000 politischen Gefangenen verlange. Ein Manifest, das "Ar-Radif" unter dem Titel "Syrien nach Asad" vorgelegt hat, besteht daher auf der Notwendigkeit eines "vernünftigen und realistischen Dialogs" zwischen allen Oppositionsgruppen, um sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Anders als der Nationalkongress, fordert "Ar-Radif" eine UN-vermittelte Verhandlungslösung, um endlich das Blutvergießen zu beenden. "Wir ziehen es vor, das Regime mit Hilfe des Annan-Plans zu überwinden," so Abu al-Abd. Er gehe davon aus, dass Revolutionen nur dann gelingen, wenn bewaffneter Aufstand und politische Aktion Hand in Hand gehen. Waffen seien lediglich ein Mittel, sichere Rahmenbedingungen für die Fortführung der Revolution zu schaffen. Die Zersplitterung der Opposition nütze dagegen nur dem Regime.


Keine Einmischung

In der Tat sind die bewaffneten Aufständischen alles andere als geeint. Als die drei größten bewaffneten Rebellengruppen gelten die "Rijal-Allah-Brigade" ("Männer Gottes") sowie das "Khalid-Ibn-al-Walid-" und das "Al-Farouq-Bataillon". Das "Khalid-Ibn-al-Walid-Bataillon" untersteht den Muslimbrüdern. Die meisten Mitglieder des "Al-Farouq-Bataillons" sind Salafis, abhängig von Saudi-Arabien.

"Rijal Allah" ist der militärische Arm von "Ar-Radif" und zählt nach Angaben von Generalsekretär Abu al-Abd über 6.200 Kämpfer. Alle seien darauf vorbereitet, ihre Waffen sofort niederzulegen, falls UN-Verhandlungen einen Durchbruch erzielten.

Der heutige Anführer von "Rijal Allah" ist Hauptmann Hudhaifa al-Qasem. Sein Vorgänger war der charismatische Hauptmann an-Naqib Amjad al-Hamid, der nach der Niederschlagung des Aufstands in Ar-Rastam als einer der Ersten desertierte. Vor einigen Monaten wurde er ermordet, vermutlich von Takfiristen, deren wachsenden Einfluss und deren Massaker an religiösen Minderheiten er beklagt hatte. Fanatiker wie die Takfiristen sind eine der größten Sorgen von "Rijal Allah" und anderen vor Ort entstandenen bewaffneten Widerstandsgruppen wie den Brigaden "Umar al-Khattab", "Ali Ibn Abi-Talib" und "Abu Bakr as-Siddiq", von denen die beiden letzteren von den Oberstleutnants Fayez al-Abdallah und Uqba Saadeddin angeführt werden. Alle werfen den Radikalen vor, die Revolution zu unterminieren. Immer öfter komme es zu Gefechten mit ihnen, da sie überall die Kontrolle anstreben.

Ibn ash-Sham ath-Thaer, Anführer der "Rif-Dimashq-Märtyrer-Brigade" teilt die Positionen "Ar-Radifs" und nennt die Hoffnungen trügerisch, die von den Obersten Mustafa ash-Sheikh, Riyadh al-As'ad und Qasem Saadeddin geweckt werden. Ihr andauerndes mediales Waffengeklirre sei durch Taten nicht gedeckt. Das habe das Vertrauen in die "Freie syrische Armee" untergraben. Auch der von Saudi-Arabien ins Feld geschickte Alaa ash-Sheikh verkünde lauthals, dass der Sieg unmittelbar bevorstünde. Nach seinem Wunschdenken herrsche eine "gute Moral" unter den Aufständischen, die mit Gottvertrauen kämpften, "das Paradies im Visier".


Dennoch: UN-Vermittlung

"'Ar-Radif' könnte die verschiedenen Fraktionen zusammenbringen", ist Generalsekretär Abu al-Abd zuversichtlich. Er fordert, dass die UN der Opposition Schutz bieten und einen sicheren Raum eröffnen, in dem sie zu einer gemeinsamen Position gelangen könnten, ohne die nicht zuletzt auch der Annan-Plan gefährdet sei. "Oder ist die internationale Staatengemeinschaft gar nicht an einem Gelingen des Plans interessiert?" Tatsächlich seien alle Versuche von "Ar-Radif", mit den UN Kontakt aufzunehmen, unbeantwortet geblieben. Wie der "Syrische Nationalkongress" jeden Dialog zu verweigern, ist für Abu al-Abd untragbar. Nur der Annan-Plan verhindere gegenwärtig eine Offensive des Regimes zur endgültigen Niederschlagung der Revolution.

Einer gemeinsamen Haltung aller Oppositionsgruppen stehe der Selbstbetrug entgegen. Hinter vorgehaltener Hand seien zwar viele Anführer und desertierte Militärs zuzugeben bereit, dass der erhoffte Regimewechsel auf militärischem Weg gar nicht zu erreichen sei, nicht aber öffentlich, um nicht als Verräter gebrandmarkt zu werden. "Da sind die, die meinen: 'Lasst ruhig das Land für 10 oder 15 Jahre in Ruinen enden, es wird sich schon erholen.' Diese Leute werfen uns vor, den Märtyrern in den Rücken zu fallen. Aber tun wir das, wenn wir Massaker von der Bevölkerung fernhalten, statt sie ins Unheil zu stürzen?"

Entweder Dialog oder das Land versinke in einem Strudel der Gewalt, scheint Abu al-Abds letzte Mahnung, eine Minimalforderung, wenn man bedenkt, wie hochgesteckt die Erwartungen noch bis vor Kurzem waren, als jederzeit mit einer Militärintervention oder einem Staatsstreich gerechnet wurde.


Der Artikel erschien in zwei Teilen in der libanesischen Tageszeitung "Al-Akhbar". Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung nach der englischen und arabischen Version von Jörg Tiedjen.

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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 70, Sommer 2012

Gastkommentar:
- Der politische Masterplan des Militärs. Von Heiko Flottau

Endspiel:
- Abd al-Rahman al-Kawakibi im Spiegel der syrischen Aufstände. Von Jens Heibach und Inana Othman
- Abd al-Rahman al-Kawakibi. Was ist Despotie?
- Das angebliche "Projekt Alawitenstaat". Von Abdallah Hanna
- 30 Jahre Hafez al-Asad. Von Norbert Mattes
- Anmerkungen zu den syrischen Aufständen. Von Omar S. Dahi
- Dardari: Der Trojaner des neoliberalen Syrien. Von Ghadi Francis
- Die religiösen Stützen der säkularen Diktatur. Von Mona Sarkis
- Mächtige Muslimbrüder? Von Mona Sarkis
- Die Opposition als Bürde der Revolution? Von Hazem Nahar
- Opposition gegen die syrische Opposition - gegen den SNC. Von As'ad Abu Khalil
- SNC auf dem Weg zur "flüssigen Demokratie!?" Von Osama ash-Shorbaji und Haitham al-Hamwi
- Das syrisch-kurdische Parteienspektrum. Von KurdWatch
- Dialog oder Tod? Von Radwan Mortada
- Hizbullahs subtiler Schwenk im Syrien Konflikt. Von Nicholas Noe
- Warum Hizbullah das Asad-Regime unterstützt. Von Amal Saad-Ghorayeb
- Was ist los mit Al Jazeera? Von Paul Jay

Algerien:
- Ahmed Ben Bella 1916-2012. Von Werner Ruf

Iran:
- Parlamentswahlen im Iran und ihre politische Bedeutung. Von Javad Kooroshy

Libyen:
- Der Große Künstliche Fluss Libyens - Mythen und Realitäten. Von Konrad Schliephake

Palästina/Israel:
- Hacking-Angriff auf Palästina. Die digitale Besatzung Von Helga Tawil-Souri

Rassismus:
- Anti-afrikanische Pogrome in Israel. Von R. Kazandjian, A. H. Dimerdji und S. Asumadu
- Ethnische Säuberung, Genozid und die Tawergha. Von HRI

Turkmenistan:
- Ein zentralasiatisches Myanmar? Von Nick Keith

Sudan:
- Sudan und Südsudan: Dem Krieg eine Chance? Von Roman Deckert und Tobias Simon

Wirtschaftskommentar:
- Syrien: Pläne für danach ...

Zeitensprung:
- Modis offenes Geheimnis - Der Godhra-Zwischenfall 2002. Von Jörg Tiedjen

Kultur:
- While Waiting - Das "Freedom Theatre" in Jenin.
- Der Dichter Taha Muhammad Ali "... an der Nase herumgeführt". Von Hakam Abdel-Hadi

ex mediis:
- Afghanistan in den internationalen Publikationen. Von Matin Baraki
- Parteien in Syrien im 20. Jahrhundert / Arabisch-islamische Philosophie der Gegenwart / Kultur der Ambiguität.
Redaktion; Nausikaa Schirilla; Arno Schmitt

Nachrichten//Ticker

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Quelle:
INAMO Nr. 70, Jahrgang 18, Sommer 2012, Seite 37 - 38
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2012