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RUSSLAND/123: Das imperiale Syndrom (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 122/Dezember 2008
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Das imperiale Syndrom
Fragen nach dem Kaukasuskrieg: Was treibt Russlands Machtstreben an?

Von Jan C. Behrends


Betrachtet man die Diskussionen rund um den Krieg zwischen Russland und Georgien, erweist sich die zentrale Bedeutung einer historischen Perspektive; erst diese kann Moskaus Verhalten gegenüber seinen Nachbarn erklären. Die imperialen Traditionen russischer Außenpolitik entfalten bis heute eine starke Wirkung. Dieses imperial-autoritäre Paradigma russischer Diplomatie hat unmittelbar Konsequenzen für die Beziehungen, die Brüssel und Berlin mit Moskau unterhalten.


Der kurze Waffengang zwischen Georgien und Russland im August dieses Jahres hat die Debatte über das Verhältnis zwischen dem Westen und dem postsowjetischen Raum neu belebt. Im internationalen Krieg der Worte, der dem Ausbruch der Gewalt folgte, wurden immer wieder historische Argumente bemüht. So warnten politische Akteure entweder vor einem Rückfall in die Konfrontation des Kalten Krieges oder vor einer Neuauflage des Appeasements gegenüber einer aggressiven Großmacht. In Moskau wie im Westen wurden schnell die überkommenen Klischees über die andere Seite reaktiviert. In der russischen Hauptstadt hörte man das Bonmot des Zaren Alexander III., wonach Russland nur zwei Verbündete kenne, "seine Armee und seine Flotte", und im Westen erinnerte man sich an George F. Kennans Diktum, Russland kenne an seinen Grenzen nur Vasallen oder Feinde.

Bald gewann jedoch eine historische Deutung des Konflikts an Gewicht: Von Journalisten und prominenten Politikern wie dem schwedischen Außenminister wurde der russische Einmarsch in Georgien als "Rückfall" in die Politik des 19. Jahrhunderts verurteilt. Russland habe sich wie ein Nationalstaat aus der Ära der Großmächte verhalten. Moskau betreibe eine unzeitgemäße Außenpolitik, die europäischen Standards des 21. Jahrhunderts nicht entspreche. Diese historische Herleitung ist unzutreffend. Nicht der Rückgriff in die Mottenkiste der Machtpolitik, sondern die Kontinuität imperialen Denkens durch verschiedene politische Systeme bildet nämlich den Schlüssel zum Verständnis russischer Außenpolitik. Die hier vorgestellte historische Perspektive erlaubt es, den kulturellen Kontext russischer Außenpolitik zu verstehen, die ostpolitischen Konzepte der vergangenen Jahre kritisch zu überprüfen und neue Antworten zu formulieren, die den Interessen Europas und Deutschlands entsprechen.

Die moderne Geschichte des russischen Staates ist eine Geschichte der imperialen Expansion. Seit dem 16. Jahrhundert eroberte Moskau die Länder der Goldenen Horde im Osten und Süden Eurasiens. Dies eröffnete den Weg zur Durchdringung Sibiriens und zur Kolonisierung der Steppen Mittelasiens. Mit dem Erwerb des Baltikums und den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert expandierte das Russische Reich nach Westen. Ein Erfolgsrezept dieser imperialen Politik war die Integration lokaler Eliten - insbesondere des Adels - in den Reichsverband. Zahlreiche Baltendeutsche, aber auch Georgier oder Armenier traten in die Dienste Petersburgs. Sie machten Karriere am Hof, in der Bürokratie und in der Armee. Der imperiale Reichsverband prägte auch die politische und kulturelle Entwicklung Russlands. Nicht nur die Weiten Sibiriens, sondern auch das Bergland des Kaukasus haben seit dieser Zeit einen prominenten Platz in der russischen Literatur. In der Lyrik Alexander Puschkins und im Werk Michail Lermontovs spielt das Bergland an der südlichen Peripherie eine zentrale Rolle; die Literatur verklärte auch die Erinnerung an die jahrzehntelangen Kriege, die Russland im 19. Jahrhundert gegen die verschiedenen kaukasischen Ethnien führte.

In den Jahrzehnten vor 1900 wurde die Erhaltung des Vielvölkerreichs zu einem Hauptanliegen russischer Politik. Die Petersburger Strategie der administrativen Vereinheitlichung und kulturellen Russifizierung bot zunehmend Konfliktpotenzial, das sich immer wieder entlud, etwa in den polnischen Aufständen von 1830 und 1863. Die Nationalbewegungen der kleinen Völker und die revolutionäre Bewegung wurden zur Gefahr für den Fortbestand eines Reichs, dessen Regenten bis zu den Revolutionen von 1905 und 1917 versuchten, das Prinzip der Selbstherrschaft zu verteidigen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts verloren die traditionale Legitimität der Romanov-Dynastie und der Reichspatriotismus an Bedeutung. Dem autoritären Staat gelang es nicht, das Imperium gegenüber seinen Völkern zu legitimieren. In den Bildungsschichten formierte sich ein russischer Nationalismus, der im Inneren gegen das autokratische System auftrat, jedoch in der Regel die imperialen Ambitionen der offiziellen Politik teilte. So war der russische Nationalismus von Beginn an in seinem Kern imperial geprägt und ist es bis in die Gegenwart geblieben.

Der Erste Weltkrieg entfesselte die revolutionären und die zentrifugalen Kräfte im Russischen Reich. Auf den Sturz der Romanov-Dynastie im Februar 1917 folgten die Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober und der Zerfall des Vielvölkerreichs. Im Bürgerkrieg der Jahre 1918-1921 kontrollierten die Bolschewiki zeitweilig nur Kernrussland; Revolution und staatlicher Zusammenbruch führten zur staatlichen Souveränität wichtiger Territorien wie Polens, der baltischen Staaten, Finnlands und auch Georgiens. Doch bereits 1924 war unter der Herrschaft Lenins das Imperium in der gewandelten Form der Sowjetunion wiederbegründet worden. Unabhängige Staaten - wie Georgien oder die Ukraine - waren von der Roten Armee für das neue Vielvölkerreich unter kommunistischen Vorzeichen unterworfen worden.

Lenins Nachfolger Josef Stalin verfolgte eine Außenpolitik, die einem "revolutionär-imperialen Paradigma" unterlag, wie es die historische Forschung in der Formulierung Vladislav Zuboks bezeichnet. Es handelte sich um ein Amalgam aus den Befreiungsversprechen der kommunistischen Ideologie und traditionellen geopolitischen Ambitionen, zu denen insbesondere die Rückgewinnung verlorener Teile des Zarenreichs für die UdSSR gehörte. Zudem wurde seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre der traditionelle russische Nationalismus in die sowjetische Ideologie integriert. Eine weitere Expansion gelang in der vierten Teilung Polens 1939, im Winterkrieg gegen Finnland 1940 und durch die Annexion des Baltikums im selben Jahr - territoriale Gewinne, die im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland behauptet wurden.

Nach dem sowjetischen Sieg gegen das Dritte Reich gelang es Stalin, seine absolute Kontrolle über die Sowjetunion und ihre Eliten wiederherzustellen und sukzessive auf die Länder Osteuropas auszudehnen. Nun umgab das innere Imperium ein Ring abhängiger Staaten, die zwar formal souverän waren, deren Innen- und Außenpolitik aber vom Kreml mitbestimmt wurde. Als Integrationsangebote dienten dabei die "Völkerfreundschaft" und der Antiamerikanismus; diese ideologischen Konstrukte begründeten Moskaus Hegemonie zwischen Elbe und Pazifik. Der Rhetorik des "Friedenskampfes" und der "Freundschaft mit der Sowjetunion" gelang es jedoch kaum, die militärische Unterwerfung Ostmitteleuropas zu verschleiern. Je länger der Kalte Krieg andauerte, desto deutlicher zeigte sich der imperial overstretch, unter dessen Kosten die Sowjetunion litt: In den Krisen von 1953, 1956 und 1968 konnte die Einheit des Imperiums nur mit Gewalt bewahrt werden.

Trotz dieser Probleme bildete das sowjetische Imperium insbesondere für die Militär- und Geheimdienst-Eliten bis 1991 und darüber hinaus einen zentralen Bezugspunkt. Der abrupte Verlust der osteuropäischen Satellitenstaaten und der anderen Sowjetrepubliken im Zuge der Epochenwende von 1989-1991 wurde von ihnen nicht akzeptiert. Diese mentalen Kontinuitäten wurden deutlich, als der damalige Präsident Vladimir Putin im Jahre 2005 erklärte, der Zusammenbruch der UdSSR sei die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Er sprach damit nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Milieu der siloviki, der Männer aus dem Sicherheitsapparat, dem er entstammt und dem er in den vergangen Jahren zur Macht verholfen hat.

Nach dem Ende der Sowjetunion ist es Russland nicht gelungen, sich als Nationalstaat mit multiethnischer Bevölkerung neu zu erfinden. Die politische Elite versäumte es, auf der Grundlage der neuen Verfassung und der Emanzipation wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Kräfte eine nationale Identität zu schaffen, die ohne imperiale Ambitionen auskommt. Den Wandel der 1990er Jahre deutete die Elite weniger als Chance zu einem neuen Aufbruch, sondern als nationale Demütigung. Die autoritäre Herrschaft, die in Russland seit 1999 wiedererrichtet wurde, benötigt dann wieder imperiale Rhetorik und konfrontative Außenpolitik, um von ihren inhärenten Legitimationsdefiziten abzulenken.

Der Appell an eigene Größe und Geschlossenheit in einer feindlichen Welt diente bereits in der Sowjetunion der inneren Mobilisierung - in den letzten Jahren wurde mittels gesteuerter Massenmedien an diese Traditionen angeknüpft. Die Renaissance des Imperialen lässt sich sowohl in der symbolischen Politik als auch in der Diplomatie nachvollziehen. Russland schmückt sich wieder mit den Attributen vergangener Größe - zarische und sowjetische Symbole und Rituale werden dabei eklektizistisch miteinander kombiniert. Der kleinste gemeinsame Nenner ist stets die imperiale Semantik, die zu gleichen Teilen die Überhöhung des Vergangenen und die Ambition in der Gegenwart beinhaltet.

Die wirtschaftliche Prosperität der vergangenen Jahre hat es Russland ermöglicht, der symbolischen Politik konkrete Schritte folgen zu lassen. So intervenierte Moskau im postsowjetischen Raum wiederholt in die Angelegenheiten anderer Staaten. Auf das von russischen Medien sogenannte "nahe Ausland" übte der Kreml beispielsweise während der "orangenen Revolution" in der Ukraine oder im Konflikt mit Estland um ein sowjetisches Denkmal starken Druck aus.

Diese Politik hat insbesondere das Verhältnis Russlands zu den Staaten Ostmitteleuropas belastet. Sie hat aber auch Konsequenzen für Berlin und Brüssel: Solange die postsowjetischen Eliten die Souveränität anderer Nachfolgestaaten der Sowjetunion - und damit auch ihre freie Entscheidung über das politische System im Inneren und Bündnisse in der Außenpolitik - nicht akzeptieren, sind weitere Konflikte absehbar. An die Stelle des revolutionär-imperialen Paradigmas der sowjetischen Epoche ist eine autoritär-imperiale Identität getreten, die sich der eigenen Rohstoffquellen bedient, um politischen Einfluss zu nehmen sowie autoritäre Strukturen zu stützen, und die sich als Schutzmacht der im Ausland lebenden ethnischen Russen und russischen Staatsbürger definiert.

Die Wechselbeziehung zwischen autoritärer innerer Verfassung und imperialer Außenpolitik ist ein Schlüssel zum Verständnis des Moskauer Verhaltens im Kaukasuskonflikt. Es handelte sich eben nicht um eine Rückkehr zu den diplomatischen Mustern des 19. Jahrhunderts, sondern um das Kontinuum imperialen Denkens und Handelns. Aus russischer Perspektive gilt es, den eigenen Einfluss im postsowjetischen Raum auszubauen und andere Mächte fernzuhalten. Je stärker das autoritär-imperiale Selbstverständnis zukünftig die russische Außenpolitik bestimmt, desto größer werden die Herausforderungen für die deutsche und die europäische Politik. Die Ereignisse dieses Sommers verdeutlichen, wie sehr die mentalen Prägungen und Wertewelten, die aus dem 18. Jahrhundert stammen und in der Sowjetunion verstärkt wurden, in Moskau fortwirken. Die Entschlossenheit, mit der die russische Regierung ihre Interessen im postsowjetischen Raum definiert, stellt die Ostpolitik der vergangenen Jahre in Frage. Das Projekt einer "strategischen Partnerschaft", das insbesondere Deutschland lange Zeit verfolgt hat, beruhte schließlich auf der Prämisse, dass Russland ein eigenes Interesse an der Integration in europäische Strukturen gleichberechtigter Zusammenarbeit hat und die Souveränität seiner Nachbarn akzeptiert. Dies sind schließlich auch die Voraussetzungen für eine "Modernisierungspartnerschaft" zwischen Europa und Russland, von der beide Seiten profitieren könnten. Doch die imperialen Ambitionen der russischen Führung, ihr Wille, diese im Konfliktfall auch militärisch durchzusetzen, die Drohgebärden gegen die Verbündeten Deutschlands im Baltikum und in Ostmitteleuropa, der instrumentelle Umgang mit dem Völkerrecht - dies entzieht partnerschaftlichen Konzepten die Grundlage.

Das bedeutet nicht, dass Berlin und Brüssel nicht weiter den Dialog mit dem Kreml suchen sollten. Doch der Westen sollte die Bedingungen für freundschaftliche Zusammenarbeit deutlich formulieren und nicht davor zurückscheuen, autoritäre Entwicklungen im Inneren und imperiale Ambitionen in der Außenpolitik Russlands zu kritisieren. Außerdem sollte intensiver als bisher das Gespräch mit den Teilen der russischen Politik und Gesellschaft gesucht werden, die sich der imperialen Versuchung verweigern und für eine Liberalisierung der politischen Ordnung einsetzen.


Jan C. Behrends studierte Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften. Nach seiner Promotion 2005 kam er als wissenschaftlicher Mitarbeiter ans WZB, Forschungsgruppe "Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa". 2007 forschte und lehrte er in Chicago als Feodor-Lynen-Stipendiat der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Er unterrichtet osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.
behrends@wzb.eu


Literatur

Jan C. Behrends, "Vom Panslavismus zum 'Friedenskampf'. Außenpolitik, Herrschaftslegitimation und Massenmobilisierung im sowjetischen Nachkriegsimperium (1944-1953)", in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Jg. 56, Heft 1, 2008, S. 27-53

David Brandenberger, National Bolshevism. Stalinist Mass Culture and the Formation of Modern Russian National Identity, 1931-1956, Cambridge, MA: Harvard University Press 2002, 378 S.

Frank Golczewski, Gertrud Pickhan, Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, 307 S.

Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung. Geschichte. Zerfall, München: C.H. Beck 1992, 400 S.

Margareta Mommsen, Angelika Nussberger, Das System Putin. Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, München: C.H. Beck 2007, 192 S.

Vladislav M. Zubok, A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill, NC: The University of North Carolina Press 2007, 488 S.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 122, Dezember 2008, Seite 36 - 38
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2009