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RUSSLAND/154: Russlands neue Regierung - zwischen Präsident und Premier (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Russlands neue Regierung
Zwischen Präsident und Premier

von Reinhard Krumm, Mai 2012



Politik als Schachspiel

Denkt man an Russland, so kommt einem das Schachspiel in den Sinn. Unvergessen die Dominanz ihrer Weltmeister auf der internationalen Bühne. Angefangen von Alexander Aljechin und Michail Botwinnik bis hin zu den Großmeistern der jüngeren Zeit, Anatolij Karpow und Garij Kasparow. Beeindruckend aber auch die vielen Enthusiasten, die bis heute in den Parks im Eiltempo ihre Bauern und Läufer gegeneinander ziehen. Ganz natürlich bietet es sich an, dieses Figurenrücken auf die Politik zu übertragen.

Zumal bis vor gar nicht so langer Zeit Kasparow dieses Gedankenspiel provozierte, als einer der prominentesten Oppositionspolitiker des Landes. Daraus lässt sich nun der Bogen schlagen, um die neue russische Regierung zu analysieren. Statt Ross und Reiter sollen König, Dame und die Offiziere benannt werden, also die Minister.

Alles begann mit dem Verstellen von König und Turm. Der am 24. September des letzten Jahres angekündigte Ämtertausch zwischen dem Tandem aus Präsident Dmitrij Medvedew und Premier Wladimir Putin, durchgesetzt auf dem Parteitag von Gerechtes Russland und bestätigt durch die Wahlen zur Duma (4. Dezember 2012) und zum Präsidenten (4. März 2012), ging als Rochade in die russische Geschichte ein. Als Folge dieser unerhörten Abmachung kam es zu einem Bürgerprotest, den Russland schon lange nicht mehr erlebt hatte. So erhielt die Regierungspartei Einiges Russland unter 50 Prozent der Stimmen, weit weniger als erwartet, und Wladimir Putin konnte sein Rekordergebnis von 2004 von über 70 Prozent nicht wiederholen. Er erhielt knapp über 60 Prozent, die Wahlbeobachtungsorganisation Golos geht von 50 Prozent aus.

Die Stimme des Volkes zeigte Wirkung. Es kam erstaunlich schnell zu politischen Reformen: Die Registrierung von Parteien wurde vereinfacht, die Direktwahl der Gouverneure wieder eingeführt, ein öffentlich-rechtliches Fernsehen soll geschaffen werden. Doch gleichzeitig beschloss die Duma in der ersten Lesung ein Gesetz, das drastische Strafen bei Demonstrationen vorsieht. So blieb der Opposition neben neuen Protesten nur ein Fünkchen Hoffnung auf ein Kabinett des Kompromisses unter dem neuen Premier Dmitrij Medvedew.

Das schienen Gerüchte zu bestätigen, die von angeblichen Gesprächen des Ministerpräsidenten mit dem sich zur Opposition zählenden Geschäftsmann Michail Prochorow und anderen Vertretern der gemäßigten Opposition berichteten. Doch es blieb ein Gerücht, obschon das Kabinett fast vollständig neu besetzt wurde.


»Regierung der stellvertretenden Minister«

Nur fünf Minister behielten ihren Posten, darunter Sergej Lawrow (Äußeres), Anatolij Serdjukow (Verteidigung) und Anton Siluanow (Finanzen). Doch die Neuen kommen nicht aus den Reihen der Opposition, sondern zu großen Teilen aus der hohen Administration der entsprechenden Ministerien. Deshalb schreibt die Wirtschaftszeitung RBK daily spöttisch von einer »Regierung der stellvertretenden Minister«.

Fast komplett neu wurde der Bereich Wirtschaft und Soziales bestellt, zudem das Ministerium für Gesundheit und Soziales aufgeteilt in ein Gesundheits- und ein Arbeitsministerium. Diesem Themenkomplex steht Olga Golodez im Range eines stellvertretenden Vizepremiers vor, einst stellvertretende Bürgermeisterin von Moskau. Die Konzentration auf die Sozialpolitik erklärt sich daraus, dass gerade in diesem Bereich in den kommenden Jahren große Reformen anstehen.

Neben Olga Golodez wurden fünf weitere stellvertretende Ministerpräsidenten bestellt: Dmitrij Rogozin (militärischer Industriebereich), Dmitrij Kozak (Regionales), Arkadij Dworkowitsch (Wirtschaftsfragen, Privatisierung) sowie Wladislav Surkow (Leiter des Regierungsapparates) und Alexander Chloponin (Beauftragter für den Nordkaukasus). Als einziger erster stellvertretender Premier steht Igor Schuwalow zwischen Premier und Kabinett.

Das besteht insgesamt aus 21 Ministern (davon 20 Männer), sechs Vizepremiers (davon fünf Männer), einem ersten stellvertretenden Premier und dem Premier Dmitrij Medwedew selbst. Jüngster Minister mit 29 Jahren ist Nikolaj Nikiforow, vormals Minister in der Republik Tatarstan, nun auf föderaler Ebene zuständig für Kommunikation. Sein ältester Kabinettskollege ist Viktor Ischajew (64), der das neu eingerichtete Ministerium für die Entwicklung des Fernen Ostens leiten wird. Zum ersten Mal verfügt Russland über eine Regierungskommission zur Koordination der Tätigkeit der »offenen Regierung«. Was sich dahinter verbirgt, soll noch bekannt gegeben werden.

Stets aufmerksam verfolgt werden in Russland die Karrierewege der entlassenen Minister. Bis auf wenige Ausnahmen bleiben sie im Kreml und werden zu Ratgebern des Präsidenten. Ausnahmen sind der bisherige Innenminister Raschid Nurgaliew, der als Stellvertreter in den Sicherheitsrat wechselt und der Wladimir Putin nahestehende Igor Setschin, bisher stellvertretender Premier, der den Energiekonzern Rosneft übernehmen wird. Sergej Schojgu, verdienter Vertrauter Wladimir Putins und bisher Minister für den Katastrophenschutz, übersiedelte schon vor Wochen als Gouverneur in das Moskauer Gebiet. Der selten in der Öffentlichkeit auftretende Berater Sergej Prichodko, der für die Präsidenten Boris Jelzin, Wladimir Putin und Dmitrij Medwedew Konzepte für die russische Außenpolitik entwarf, wird umziehen in das Weiße Haus, den Regierungssitz. Seine Nachfolge im Kreml tritt der erfahrende Diplomat Jurij Uschakow an.

Entsprechend der Verfassung unterstehen die Ministerien des Äußeren, des Inneren, der Verteidigung, der Justiz und des Katastrophenschutzes weiterhin direkt dem Präsidenten. Hinzu kommen die Sicherheitsdienste für Inneres und Äußeres.

Nach vier Jahren des Tandems Medwedew-Putin sind nun sechs Jahre Putin-Medwedew vorgesehen. Der vierte Präsident der Russischen Föderation arbeitet mit dem zehnten Premier zusammen. Ob der Zeitplan eingehalten wird, ist nicht absehbar. Die Reaktionen auf das neue Kabinett kamen schnell. Aus der internationalen Wirtschaft äußerten sich hochrangige Vertreter eher positiv, indem sie auf Kontinuität und Stabilität verwiesen.

Aus der Politik meldete sich Aleksej Kudrin kritisch zu Wort, der hochangesehene ehemalige Finanzminister, der das Kabinett im Streit mit Präsident Medwedew im vergangenen Jahr verließ. Er hat inzwischen ein Komitee für Bürgerinitiativen aufgestellt und denkt über die Gründung einer eigenen Partei nach. Er unterhält nach wie vor gute Beziehungen zum Präsidenten. Vom Premier hält Kudrin nicht viel, weshalb er als Minister nicht zur Verfügung stand.

Seit Monaten spekulieren Beobachter darüber, wie lange Medwedew sich im Amt halten kann. Die Rochade mit Putin hat vor allem ihn beschädigt, weil er sich von der starken Position des Präsidenten nicht hatte durchsetzen können. Was sollte sich daran ändern, wenn er nun von der schwächeren Position des Premiers Politik betreiben soll? Als Ersatz wird eben der Finanzminister a. D. Kudrin gehandelt. Wann? Im Schach findet ein solcher Tausch meist erst im Endspiel statt, wenn überhaupt. Hier enden die Gemeinsamkeiten mit der Politik.


Über den Autor

Reinhard Krumm ist Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Russischen Föderation.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2012