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USA/304: Eine Linke oder mehrere - Das Problem der Vereinigten Staaten (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2010

Eine Linke oder mehrere: Das Problem der Vereinigten Staaten

Von Norman Birnbaum


Es ist heute nicht klar, weshalb Marx davon überzeugt war, dass die Vereinigten Staaten sich schneller zum Sozialismus hin entwickeln würden als die Europäer. Denn nicht nur die Gesellschaft der USA als Ganzes ist zutiefst gespalten, die Linke selbst ist es auch. Ein Blick in die Geschichte beleuchtet die Ursachen.


Die europäische Linke definiert sich durch historische Ereignisse: In Großbritannien z.B. durch die Englische Revolution und die Chartisten. Auf dem Kontinent sind die Revolutionen von 1789 und 1848 maßgeblich. Auch 1917 ist noch nicht vergessen, 1933 und 1945 besitzen ihre Bedeutung, und auch 1968 ist nicht nur ein Datum für Historiker. Wie war demgegenüber der Verlauf in den Vereinigten Staaten? Die Amerikanische Revolution setzte trotz ihrer Zweideutigkeit - die Abschaffung der Sklaverei war nicht gelungen - die Volkssouveränität durch. Präsident Andrew Jackson, einerseits Sklavenhalter und Vernichter der Indianer, spielt andererseits die Rolle eines Vorkämpfers der politischen Gleichheit. Im Bürgerkrieg, mit dem Eintreten der Union für freie Arbeit und allgemeine Bürgerrechte, begann der Kampf um die Sozialdemokratie. Die Gegner der Sklaverei waren oft auch Befürworter der Gewerkschaftsbewegung und der Frauenemanzipation. Bedeutsam bis heute ist das Jahr 1933: die Präsidentschaft von Franklin D. Roosevelt und der Beginn des New Deal.

Was verstehen wir vor diesem Hintergrund unter einer amerikanischen Linken? Sie ist eigentlich sehr amerikanisch, sie glaubt im Wesentlichen an die Rolle der Nation als Vorkämpferin für Freiheit und eine offene Zukunft. Auch die amerikanischen Konservativen glauben an diese Vorreiterrolle, meinen aber, dass die revolutionären Aufgaben erfüllt seien. Die Linke speist sich aus einem komplexen Zusammenfluss von Erfahrungen, Ideen, Bildern und Empfindlichkeiten. Untersucht man ihre politisch-geistigen Grundlagen, wird klar, dass es nicht nur eine, sondern mehrere in sich widersprüchliche Linke gibt.


Die Linke und die Geschichte

Die Darstellung, dass Amerika mit einer marktorganisierten Gesellschaft identisch sei, ist falsch. Gesellschaftliches Bewusstsein und gesellschaftliches Leben in Amerika wurden von schweren Konflikten entzweit. Der die Sklaverei ermöglichende Verfassungskompromiss war nur einer von vielen. Thomas Jefferson strebte nach kontinentaler Expansion, fürchtete aber, Kommerz und Urbanisierung würden die Freiheiten zerstören, die nur in einer Nation freier Grundbesitzer möglich wären. Die in der Verfassung festgelegten Grenzen der Macht der Bundesregierung schufen Spielräume für die Ausweitung politischer Kulturen auf lokaler und regionaler Ebene. Doch für diesen Neubeginn waren lästigerweise die Indianer im Weg, wodurch der Kolonialkrieg permanent wütete. Der Bürgerkrieg brach wegen der Ausweitung der Sklaverei nach Westen aus. Die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert war zwar ein Einigungsprozess, aber sie war umgekehrt auch eine Herausforderung für die Autonomie derjenigen, die sich von der Monarchie befreit hatten. Die wesentliche amerikanische Definition von Freiheit als persönlicher Autonomie kollidierte jetzt mit der Konzentration von Macht und Vermögen in der neuen Wirtschaft, die nur durch gemeinsames Handeln zu verändern war.

Man hat die amerikanische Geschichte mit einem Kaleidoskop verglichen, aber ein Demiurg wäre das passendere Bild. Kontinentale Expansion, Einwanderung, Sklaverei, Industrialisierung, Krieg, tiefgreifende kulturelle Konflikte, Urbanisierung und Diskontinuität der sozialen Ordnung erschweren das Erkennen langfristiger Konstanten.

Und so verwundert es auch nicht, dass die amerikanische Linke in drei Gruppierungen tief gespalten ist:

Es gibt eine antikapitalistische Linke, die durch den Einfluss europäischer Einwanderer und älterer Amerikaner ohne Illusionen für die Amerikanisierung des Sozialismus empfänglich waren. Ihre Opposition gegen eine Beteiligung der USA am Ersten Weltkrieg führte zu ihrer politischen Verfolgung, ihre Spaltung in pro- und antisowjetische Kräfte zu ihrer endgültigen Schwächung. Nicht die Abschaffung, sondern die systematische Modifizierung wurde zum Ziel des amerikanischen Antikapitalismus, der sich aus Agrarpopulisten, sozialchristlichen Reformern, technokratischen Modernisierern und Radikaldemokraten rekrutierte. Seine wichtigste Organisationsform war die Gewerkschaftsbewegung, aber die Gewerkschaften, die von der konservativen Justiz und den Regierungen der Einzelstaaten heftig bekämpft wurden, mussten zunächst ein Bündnis mit progressiven Staatsregierungen wie in Kalifornien, Massachusetts, Illinois, New York und Wisconsin schließen, bevor sie tätig werden konnten. Die Regierung von Roosevelt schuf den rechtlichen und politischen Rückhalt für die breite Welle der gewerkschaftlichen Formierung von 1934 bis 1936. Schlüsselindustrien wie die Auto-, die Petrochemie- und die Stahlindustrie wurden organisiert, was die Wählerschaft in den wichtigsten Staaten veränderte. Eine selbstbewusste und relativ wohlhabende Arbeiterklasse ersetzte die europäischen und amerikanischen Migranten vom Land, die früher die Fabriken bevölkert hatten - eine Arbeiterklasse ohne Illusionen über die zynische Ausbeutermentalität ihrer Arbeitgeber.

Obwohl die Gewerkschaften am Ende des Zweiten Weltkriegs 30% der Arbeitskräfte repräsentierten, konnten sie selbst keine Wahlen auf Bundesebene gewinnen. Das machte Bündnisse erforderlich, und die Demokraten waren von dem nach Rassen getrennten Süden abhängig. Zahlreiche Afroamerikaner wanderten in den Norden ab, wo sie unter geringerer Diskriminierung wählen und arbeiten konnten. Der Süden wandte sich dem ressentimentgeladenen Republikanismus zu, was einen Wahlgewinn für die Demokraten noch problematischer machte. Doch die Rassenkonflikte waren sogar im Norden, im industriellen mittleren Westen und im äußersten Westen stark. Zudem konnte die neue Mittelklasse aus Angestellten, Freiberuflern und Technikern (mit Ausnahme des öffentlichen Sektors) nicht für die Gewerkschaften gewonnen werden. Da den Demokraten eine expandierende Basis für weitere Fortschritte des Wohlfahrtsstaates fehlte, konnten sie sich nur darauf einigen, die Gewinne des New Deal zu verteidigen und mit den intelligenteren Sektoren des Kapitals zusammenzuarbeiten, um die Massenkaufkraft im keynesianischen Kapitalismus Amerikas zu erhalten.

Diese Themen wurden von den Intellektuellen intensiv diskutiert. Nachdem die Keynesianer nach 1945 die Universitäten erobert hatten, repräsentierten sie einen technokratischen Status quo. Kleine Gruppen von Ökonomen, von denen einige ihren Marxismus im postmarxistischen Westeuropa erlernt hatten, schlossen sich mit anderen Geistes- und Sozialwissenschaftlern zusammen, um radikalere Vorposten in den Universitäten, im kulturellen Bereich, in Verlagen und im Publikationswesen zu bilden. Je radikaler sie waren, desto weiter waren sie vom Tagesgeschäft der Politik entfernt. Zurzeit sind die wortgewandtesten und intelligentesten Erben Keynes' (z.B. James Galbraith, Krugman und Stiglitz) nicht in der Regierung Obamas. Diese liegt in den Händen von Technokraten, denen die Idee eines Kompromisses mit dem Kapitalismus mehrheitlich fremd ist, weil ihnen die Idee einer Alternative zum Kapitalismus fremd ist.

Da die Gewerkschaften auf etwa 13% der Erwerbstätigen (die Mehrheit in den unteren Bereichen des öffentlichen Sektors) reduziert sind, gibt es keine Reserve an politisch Gebildeten, die zu mobilisieren wäre. Die grenzenlose Primitivität und Ignoranz der meisten öffentlichen Diskussionen über die Wirtschaft, die Wellen von blinder Wut reflektieren die Eroberung des öffentlichen Raumes durch die ideologischen und politischen Agenten des Kapitalismus.


Die kulturelle und soziale Linke

Es gibt eine zweite, eine kulturelle und soziale Linke, die sich mit Erziehung und Wissenschaft, ethnischen Fragen, Religion und Genderproblemen befasst. Sie setzt sich für freie Meinungsäußerung ein und wendet sich gegen Fundamentalisten und Traditionalisten. Sie kann sich auf große Erfolge berufen, besonders in der Bürgerrechtsgesetzgebung der Regierung Johnson, bei der Aufhebung der Rassentrennung, dem Aufstieg einer gebildeten afroamerikanischen Mittelklasse und der Verringerung offenkundig rassistischer Äußerungen in der Öffentlichkeit. Es sind auch Schranken beseitigt worden, die einer stärkeren Beteiligung von Frauen auf höheren Berufsebenen im Wege standen. In Fragen wie den Bildungsinhalten an Schulen und lokaler Zensur waren die Ergebnisse gemischt, da antimoderne und traditionalistische Kräfte noch ganze Staaten und Gemeinden kontrollieren. Nach wie vor herrscht ein kultureller Bürgerkrieg um Themen wie Abtreibung und Genforschung, Homosexualität und Umweltschutz.

Die Siege der kulturellen Linken forderten einen hohen Preis: die Spaltung der Nation in kulturell und politisch gegnerische Lager, was eine Aktionseinheit hinsichtlich anderer wirtschaftlicher und sozialer Probleme erschwert. Die Wahl von Obama durch eine Mehrheit von Afroamerikanern, Latinos, Stadtbewohnern und jüngeren Wählern gemeinsam mit Frauen und der gebildeten Mittelklasse hat ältere und ärmere weiße Wähler davon überzeugt, sie wären Opfer einer Enteignung ihres eigenen Landes. Die extreme Feindseligkeit gegenüber dem Präsidenten steht für die Furcht vor einer Verarmung in der Krise. Diese Feindseligkeit spricht die Urheber der Krise frei und wendet sich gegen die Befürworter von staatlichen Gegenmaßnahmen. Sie steht auch für den Wiederanstieg eines bereits überwunden geglaubten Rassismus. 20% der Bevölkerung sind Einwanderer oder Kinder von Einwanderern, etwa elf Millionen illegal. Eine fremdenfeindliche Diskussion über Einwanderung reflektiert den wirtschaftlichen Druck. Bei vielen Bürgern erzeugt der "Krieg gegen den Terror" Ablehnung, sogar Hass gegenüber Moslems. Die Demokraten sind in diesen Fragen unsicher und gespalten. Xenophobie und Ablehnung der gebildeten Eliten funktionieren für viele Nicht-Wohlhabende als Ersatz für echtes Klassenbewusstsein.


Ein großes Durcheinander

Eine dritte Linke findet sich zu ihrem eigenen Erstaunen in einer antiimperialistischen Koalition mit den geopolitischen Realisten im Apparat der Außen- und Sicherheitspolitik, die unsere Hegemoniebestrebung für undurchführbar halten. Viele Linke waren Interventionisten - im Namen der Menschenrechte, der Wirtschaftsentwicklung und des Aufbaus der Demokratie. Sie stellen jetzt die Fähigkeit der USA in Frage, Veränderungen in anderen Staaten herbeizuführen, und interpretieren diese Projekte als Rationalisierungen imperialer Machtausübung. So widersprechen viele Linke dem Großteil der jüdischen Gemeinde, ihrem früheren Bündnispartner, der die Verteidigung Israels für absolute Priorität hält. Die jüdischen Unterstützer Israels passen sich in außen- und sicherheitspolitischen Fragen zunehmend den Rechten an. Der überwiegende Rest der Linken akzeptiert den Aufruf von George McGovern aus seinem Präsidentschaftswahlkampf 1972: "Kehre heim, Amerika" - Rückzug aus dem Imperium zugunsten des Wiederaufbaus der Heimat. Inzwischen wurde die Verfassung außer Kraft gesetzt: durch die Annullierung ordentlicher Gerichtsverfahren für als Feinde erachtete Angeklagte und ihre Ersetzung durch geheime Behördenentscheidungen. Die Linke ist tief enttäuscht vom Präsidenten, der seine Absicht erklärt hat, die militärische Überlegenheit Amerikas und seine globale Verantwortung, in Wirklichkeit seine globale Hegemonie, aufrechtzuerhalten. Das ist ein Weg zu weiteren militärischen Niederlagen mit den darauf folgenden Unruhen im Inland und der Zerstörung einer immer brüchigeren Demokratie. Was auch immer die Öffentlichkeit meint (die Mehrheit ist jetzt für einen Rückzug aus Afghanistan und dem Irak), die Kriegsmaschine ist das einzige nicht aufzuhaltende keynesianische Programm in den Vereinigten Staaten.


Ohne zusammenhängendes Projekt

Obamas Wahlsieg 2008 mit seinem Einsatz des Internets und der lokalen Wählermobilisierung hat für seine Projekte als Präsident kein Momentum erzeugt. Die ganze Dysfunktionalität unseres politischen Systems, seine antimehrheitliche Tendenz und der überwältigende Einfluss des Geldes sind zurückgekehrt. Die Hinwendung der Linken zum Internet hat keine neue politische Gegenkultur geschaffen, weil sie sowohl dort als auch im Fernsehen und in den Zeitungen von ihren zahlreichen Gegnern übertönt wird. Die amerikanische Linke hat kein effektives Modell der politischen Erziehung und Organisation der gegenwärtig komplexen Gesellschaft entwickelt. Ihr fehlt ein zusammenhängendes Projekt, das ihre verschiedenen Segmente hinter einem Programm mit klaren Prioritäten vereinen könnte. Die amerikanischen Mehrheiten sind in gewisser Weise skeptisch gegenüber dem Kapitalismus in seiner jetzigen Form, sie befürworten kulturelle Modernität ebenso wie eine alternative Rolle in der Welt, die den Rückzug aus dem Imperium einschließt. Die amerikanische Linke, eingekapselt in ihre eigene Protestkultur, ist unfähig, ihre Marginalisierung zu überwinden, um (wie im New Deal) die latenten Möglichkeiten der radikalen Demokratie zu erwecken. Wann und ob sie dazu fähig sein wird, lässt sich unmöglich vorhersagen.

(Aus dem Amerikanischen von Gabriele Ricke.)


Norman Birnbaum (* 1926) ist Soziologie-Professor (em.) an der Georgetown University/Law Center und Publizist.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2010, S. 25-29
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2010