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USA/355: USA - Mit Hassreden auf dem freien Markt der Ideen leben (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. Oktober 2012

USA: Mit Hassreden auf dem freien Markt der Ideen leben

von Kim-Jenna Jurriaans


Eine Straße in Karachi während der Ausschreitungen am 21. September - Bild: © Adil Siddiqi/IPS

Eine Straße in Karachi während der Ausschreitungen am 21. September
Bild: © Adil Siddiqi/IPS

New York, 4. Oktober (IPS) - Nach gewalttätigen Ausschreitungen der letzten Wochen in etlichen arabischen Ländern in Reaktion auf die Verbreitung eines islamfeindlichen Videos weigerte sich US-Präsident Barack Obama, die YouTube-Aufnahme zu verbieten und das Recht der freien Rede in religiösen Zusammenhängen einzuschränken. Er berief sich dabei auf den Ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, der Gesetze zur Einschränkung der Meinungsfreiheit verbietet.

Obama bezeichnete das islamfeindliche Video auf der 67. UN-Vollversammlung zwar als "abscheulich", lehnte aber eine Einschränkung des Rechts der freien Rede im Zusammenhang mit religiösen Inhalten kategorisch ab. Gerichte in Russland, der Türkei, Brasilien, Sir Lanka und Kirgisistan hatten den Online-Zugang zu dem Video, das den Propheten Mohamed als geistig unterbelichteten Schürzenjäger darstellte, gesperrt.


Zahl der Hassgruppen nimmt zu

Die Gewalt in Ländern wie Ägypten, Libyen und Pakistan mit 50 Toten hat davon abgelenkt, dass der Film selbst das Symptom einer beispiellosen Zunahme US-amerikanischer Hassgruppen ist. Seit dem Jahr 2000 bis 2011 sei die Zahl dieser Gruppierungen von 602 auf 1.018 gestiegen, berichtet Mark Potok vom 'Poverty Law Center' (SPLC), das Informationen über US-Hassgruppen sammelt. Auch die Zahl rechter 'Patriotenverbände', die Ängste vor einem Machtverlust der Weißen und einem bevorstehenden Bürgerkrieg zwischen Arm und Reich schüren, schnellte zwischen 2008 und 2011 von 148 auf 1.274 in die Höhe.

Während in vielen Teilen der Welt die USA mit ihrer Art der freien Meinungsäußerung Verwirrung stiften, erklärte Obama, der selbst Ziel rassistischer Verbalattacken ist, "dass die stärkste Waffe gegen Hassreden nicht Repression sondern ein Mehr an freier Rede ist".

"Die USA gehen im Vergleich zum Rest der Welt sehr vorsichtig mit dem Recht der freien Rede um", meint dazu David Hudson vom 'Freedom Forum First Amendment Center' an der Vanderbilt-Universität. "Die freie Rede ist uns heilig. Sie ist die Blaupause für unsere persönliche Freiheit."

Der Oberste Gerichtshof der USA lässt Hudson zufolge zwar in Fällen, in denen eine direkte Bedrohung vorhanden ist, zu schweren Angriffen auf die Rechtstaatlichkeit aufgerufen wird und Kampfparolen ausgegeben werden, durchaus Einschränkungen des Ersten Zusatzartikels zu. Doch Hassreden fielen nicht in diese drei Kategorien.

"Was Hassreden angeht, vertritt der Oberste Gerichtshof der USA die Meinung, dass die Verunglimpfung von Personen aufgrund ihrer rassischen, ethnischen, sexuellen oder geschlechtlichen Zugehörigkeit nicht strafrechtlich verfolgt werden sollte", so Ruthann Robson, Professor an der juristischen Fakultät der 'City University of New York (CUNY). "Dieser Haltung liegt die Meinung zugrunde, dass 'die Wahrheit siegt' und 'schlechte Gedanken' auf einem 'Marktplatz der Ideen' den Kürzeren ziehen. Natürlich ist nicht jeder der gleichen Meinung."

Nicht nur der blasphemische Charakter des Mohamed-Videos, sondern auch das Potenzial, weltweit Revolten auszulösen, hat in US-Diskussionen die Frage aufgeworfen, ob eine Einschränkung des Ersten Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten nicht doch zu rechtfertigen wäre. "Das Aufwiegelungsargument kommt gerade den lauten Rednern wie gerufen", meint dazu Robson.

Zwei Monate lang hatte das Mohamed-Video auf YouTube ein ruhiges Dasein geführt, bevor Ausschnitte von einem ägyptischen Fernsehsender im letzten Monat ausgestrahlt wurden. Extremistische Führer, die an Einfluss verloren haben, seitdem der arabische Frühling moderaten Kräften zur Macht verhalf, waren bestrebt, aus dem Video Kapital zu schlagen, indem sie den allgemeinen Zorn anheizten und neue Plattformen für sich selbst schufen.

Chad Johnston ist der Geschäftsführer von zwei öffentlichen Fernsehkanälen in North Carolina, die im Sinne des Ersten Zusatzartikels zur US-Verfassung einen Beitrag zum Marktplatz der Ideen leisten wollen. Er lässt die Beiträge der Bürger unzensiert durch, was auch bedeutet, dass lokale Hassgruppen die gleichen Fazilitäten und Sendezeiten in Anspruch nehmen können wie der lokale Verein der Strickerinnen.


Werben für Toleranz

Die Klärung der Frage, wann die Grenzen der Meinungsfreiheit erreicht seien, sei für ihn und seine Mitarbeiter eine harte Nuss gewesen, meint Johnston. Man sei aber übereingekommen, dass es für eine Demokratie - auch auf Mikroebene - am Ende gefährlicher sei, Leuten den Mund zu verbieten.

Bestenfalls werde der öffentliche Zugang zu Reaktionen auf offensive Themen führen. Diese Art des Dialogs sei wichtig, um die Komplexität und Diversität der Gemeinschaften zu verstehen. Auch dunkle Standpunkte müssten ans Licht. So abstoßend sie auch sein mögen - ließen sie sich nicht auf der Basis des Ersten Zusatzartikels verbieten.

"Während der Ideenmarktplatz globaler wird, sehen wir uns mit der Tatsache konfrontiert, dass sich Fehlinformationen schneller verbreiten als wertvolle Informationen", meint dazu Arjun Appadurai, ein bekannter Sozialkulturanthropologe, unlängst bei den Vereinten Nationen. Hasspropaganda sei vor allem deshalb so erfolgreich, weil sie es leichter habe als wahre Informationen, die Bildung und Diskussion voraussetzten.

Das SPLC begreift Hasspropaganda als eine Chance, stärkere Allianzen aufzubauen, um Fehlinformationen und Lügen entgegenzuwirken. Auch Johnston ist der Meinung, dass Hassreden eine Aufforderung sind, um noch engagierter für Verständigung einzutreten. (Ende/IPS/kb/2012)


Links:

http://www.splcenter.org/
http://www.ipsnews.net/2012/10/u-s-living-with-hate-in-a-free-market-of-ideas/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2012