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AUSTAUSCH/290: "Das Studentenleben hier ist viel humaner" (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 27 - Oktober 2009 - Forum der Universität Tübingen

"Das Studentenleben hier ist viel humaner"

Von Tina Schäfer


Welche Erfahrungen machen Studierende der amerikanischen Eliteuniversität Yale an der Eberhard Karls Universität Tübingen? Die attempto!-Redaktion hat drei Teilnehmer eines amerikanisch-deutschen Austauschprogramms gefragt, wie sie ihren Studienaufenthalt in Deutschland erlebt haben.


"Hi!" sagt der einjährige Benedict fröhlich und präsentiert damit stolz sein erstes Wort. Ganz am Anfang einer Sprache standen auch Benedicts Eltern Kelly Rich und Ricky Klee, beide 29, als sie im Sommer 2008 mit ihrem damals zwei Monate alten Sohn nach Deutschland kamen. Die beiden Amerikaner von der Universität Yale studieren Katholische Theologie im Masterstudiengang. Gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Sylvia Mullins, 33, sind sie nach Tübingen gekommen, um die deutsche Sprache und Kultur kennenzulernen. "Theologiestudenten wird ein Aufenthalt in Deutschland nahegelegt", erklärt Klee. Schließlich seien viele zentrale Texte des Fachs von deutschen Denkern verfasst. Doch bis zur Lektüre von Kant oder Hegel mussten die Gäste aus den USA einige Hürden meistern.

Klee, Mullins und Rich haben ihren Studienplatz in Tübingen über das Austauschprogramm zwischen dem US-Bundesstaat Connecticut und Baden-Württemberg bekommen. Zudem haben sich alle drei erfolgreich um ein Baden-Württemberg-Stipendium der Landesstiftung beworben. "Ohne das Stipendium hätten wir den Aufenthalt nicht finanzieren können", meint Kelly Rich. Studentin Mullins profitierte zudem von einem direkten Austausch zwischen der Yale Divinity School und dem Evangelischen Stift, wo ein Zimmer für sie gesichert war. Allerdings war sie zunächst zurückhaltend: "Ich wollte nicht unbedingt in ein Wohnheim", so Mullins. Rückblickend fand sie es jedoch toll, auf diesem Weg viele deutsche und internationale Studierende mit verschiedenen Zielen zwischen Lehr- und Pfarramt kennenzulernen. Die Gemeinschaft im Stift habe ihr das Einleben enorm erleichtert.


Eingewöhnen in Tübingen

Für die kleine Familie gestaltete sich die Wohnungssuche schwieriger. Nach kurzen Aufenthalten in zwei wenig geeigneten Wohnungen bezogen Benedict und seine Eltern erst nach zwei Monaten der Ungewissheit ein passendes Quartier. Hilfe bei den Telefonaten mit potenziellen Vermietern bekamen die Amerikaner vom Dezernat für internationale Beziehungen.

Im Rahmen des Austauschprogramms standen ihnen zudem studentische Beraterinnen zur Seite. Auch ehemalige deutsche Austauschstudenten hätten ihnen geholfen, sich in Tübingen einzuleben, erzählen die "Yalies". Ricky Klee regt an, dieses Netzwerk zwischen ehemaligen, aktuellen und zukünftigen Teilnehmern besser zu organisieren und auszubauen. Schließlich könne diese Gruppe von einem Erfahrungsaustausch enorm profitieren. Sylvia Mullins bestätigt diesen Eindruck: "Kommilitonen, die selbst im Ausland studiert haben, waren besonders offen und haben sich um den Aufbau von Freundschaften bemüht."


Sprache und Kultur verstehen

Kelly Rich zeigt sich begeistert vom Engagement der deutschen Studierenden, die die Lehrenden von "Deutsch als Fremdsprache" als Hospitanten unterstützen: "Es ist toll, dass sie ihre Zeit investieren, um uns zu helfen." Gemeinsam mit ihrem Mann hat Rich die deutsche Sprache in den Kursen der internationalen Sprachprogramme (ISP) von Grund auf gelernt. Sylvia Mullins dagegen hatte bereits an der High School erste Kenntnisse erworben und vor ihrer Ankunft in Tübingen einen Intensivkurs in Heidelberg absolviert. Trotz dieses 'Vorsprungs' hat sie sich wie auch Rich und Klee im Wintersemester zunächst ganz auf die Sprache konzentriert. "Das war der beste Sprachunterricht, den ich je hatte", lobt Ricky Klee das ISP-Angebot. Mullins ergänzt: "Auch über die Sprache hinaus vermitteln die Kurse einen guten Eindruck von der deutschen Kultur." Dazu trägt nach Meinung der Yalies das Exkursionsprogramm wesentlich bei. Nicht zuletzt seien auch die Lehrkräfte sehr offen, betont Mullins. Man könne sich auch jederzeit mit anderen als nur sprachlichen Schwierigkeiten an sie wenden.

Über die Lehrenden in der Theologie haben die Austauschstudenten ebenfalls Gutes zu berichten. Nach einem Semester Deutsch als Fremdsprache fühlten sie sich für Veranstaltungen am Theologicum gerüstet und wurden auch im Seminar ermutigt. "Wir sollten einfach unterbrechen und nachfragen, wenn wir etwas nicht verstehen", erzählt Sylvia Mullins. Kelly Rich ergänzt: "Unsere Hausarbeiten können wir auf Englisch einreichen." Der gute Ruf der Tübinger Theologie sei auch der ausschlaggebende Grund für die Wahl der Eberhard Karls Universität gewesen, erzählen die Yalies. "Außerdem gibt es hier Fakultäten beider großer Konfessionen", sagt Mullins. In Yale werde die Ökumene groß geschrieben, und so war sie froh, Veranstaltungen aus beiden Fakultäten belegen zu können. Die Qualität der Lehre sei durchaus mit Yale vergleichbar, meint Theologiestudent Klee, ohne dies jedoch verallgemeinern zu wollen. In anderen Fächern oder bei Einführungskursen gebe es womöglich Unterschiede.

Was sagen die Studierenden einer amerikanischen Eliteuniversität zum studentischen Alltag in Deutschland? "Das Studentenleben hier ist viel humaner", meint Mullins. Die deutschen Studierenden seien viel ausgeglichener und hätten noch Energien für Aktivitäten neben dem Studium. Das Pensum an Lesestoff und Hausaufgaben, das pro Woche zu bewältigen ist, sei in den USA deutlich höher. Damit werde ein enormer Druck aufgebaut. Das gelte zum Teil auch für die Lehrenden: Zwar sei die Betreuung in Yale meist sehr gut, doch manche Wissenschaftler stünden derart unter Druck, Forschungsergebnisse zu präsentieren, dass für ihre Studenten nicht genug Zeit bliebe, berichtet Klee. Was insbesondere Rich und Mullins in Tübingen gefehlt hat, war der persönliche Studienfachberater, wie sie ihn aus den USA kennen. Den einzelnen Studierenden wird dort ein "Advisor" zugeteilt, mit dem sie individuelle Studienziele und den Weg dorthin absprechen. Diese fachliche Orientierungshilfe hätten sie auch in Tübingen gerne gehabt.

Ricky Klee findet das politische Engagement der deutschen Studierenden gegen die Studiengebühren bemerkenswert. "Die Studiengebühren steigen in den USA jährlich um vier bis fünf Prozent", erzählt er, "aber das wird einfach hingenommen. Niemand käme auf die Idee, deswegen auf die Straße zu gehen." Klee beurteilt es positiv, dass es in Deutschland viele Vergünstigungen für Studierende wie ein Semesterticket oder das Mensaessen gibt. Die Krankenversicherung für die junge Familie sei hier zum Beispiel gut sechsmal niedriger als der Beitrag, den die drei in Yale zahlen.

Hohe Studiengebühren seien nicht notwendigerweise mit einer entsprechenden Qualität in Studium und Lehre verbunden, meint Mullins. "Wir haben in Yale sicher mehr Bücher, längere Öffnungszeiten der Bibliotheken oder mehr Computerpools als in Tübingen, aber diese Unterschiede rechtfertigen noch lange nicht die enorme finanzielle Differenz." Yale sei eben auch eine Marke, meint die Amerikanerin - der Name zähle, und entsprechend hoch seien die Kosten. "In den USA fließt ein sehr großer Teil der Studiengebühren gar nicht in die Lehre, sondern in Dienstleistungsangebote", erklärt Ricky Klee. So würden etwa psychologische Beratungsstellen oder eine campuseigene Polizei finanziert. Yale sei nicht gerade ein sicheres Pflaster, so Sylvia Mullins - ganz im Gegensatz zur hohen Lebensqualität in Tübingen, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass sich die Yalies in der Universitätsstadt sehr wohlfühlen.

Nur manchmal, meint Mullins bedauernd, beschleiche sie in Gesprächssituationen ein störendes Gefühl: "der Eindruck, dass ich nicht alles hundertprozentig verstehe und mir immer irgendwas entgeht". Es bleibt also noch etwas zu lernen - da geht es Mullins ähnlich wie dem kleinen Benedict: Der sagt zum Abschied fröhlich "Hi!".


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Quelle:
attempto! 27 - Oktober 2009, Seite 18-19
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V.
(Universitätsbund)
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Redaktion: Michael Seifert (verantwortlich)
Telefon: 07071/29-76789,
Telefax: 07071/29-5566
E-Mail: michael.seifert@uni-tuebingen.de
Internet: www.uni-tuebingen.de/aktuell/veröffentlichungen/attempto.html

attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2009