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DISKURS/009: Wie viel Ökonomisierung verträgt das Bildungssystem? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2010

Wie viel Ökonomisierung verträgt das Bildungssystem?

Von Rolf Dobischat


In einem höchst selektiven Bildungssystem avancieren die Forderungen nach Ökonomisierung und Selbstverantwortung zu Schlüsselwörtern. Unser Autor zeigt die Gefahren dieser Tendenz und versucht eine Gesamtschau.


Pisa und Bologna: Zwei geschichtsträchtige Städte Italiens stehen stellvertretend für Bildungsreformprozesse nicht nur in Deutschland. Spätestens seit der Jahrtausendwende pflügen Reformen alle Bereiche des deutschen Bildungssystems radikal um. Bildung steht auf der politischen Agenda oben, weil Bildung instrumentell als volkswirtschaftlicher Wachstumsfaktor gilt und als Standortvorteil Wohlstand und Prosperität sichern soll. Gerade die OECD schärft seit Jahren mit entsprechenden internationalen Vergleichsindikatoren den Blick auf bildungsbezogene Standortnachteile wie schlechte Schulleistungen, verkrustete Hochschulstrukturen, zu niedrige Akademikerquote und vor allem unzureichende staatliche Bildungsinvestitionen. Die wenig schmeichelhaften OECD-Daten haben das öffentliche Bewusstsein, dieses instrumentelle Verständnis von Bildung als volkswirtschaftlicher Zukunftsinvestition in die Humankapitalausstattung, deutlich ansteigen lassen.

Ökonomische Theoreme dominieren seit Jahren die bildungspolitische Debatte. Welche Input-Ressourcen für das Bildungssystem produzieren welche Outcome-Effekte, welche Kosten-Nutzen-Relationen sind anzustreben, welche Renditen können gesellschaftlich bzw. individuell erwirtschaftet werden und wie sind Bildungsprozesse in welchen Strukturen optimal und effizient durch welche Controllinginterventionen zu steuern? Ohne Zweifel sind diese Fragen berechtigt, doch was hat das Primat der Ökonomie in der Bildung bislang eigentlich gebracht? Die Bilanz ist ernüchternd. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die soziale Exklusion Benachteiligter im deutschen Bildungssystem ist nach wie vor skandalös, die staatliche Finanzierung in allen Teilsektoren des Bildungswesens ist ausnahmslos unzureichend, die eingeleiteten Strukturreformen in Schule (G8) und Hochschule (Bachelor/ Master) sind problematisch und ihre Umsetzung stößt auf massiven Widerstand von Eltern, Lehrenden, Studierenden und Schülern. Eine Gesamtarchitektur für das vielstimmig postulierte lebensbegleitende Lernen und die Weiterbildung ist noch nicht mal in Konturen erkennbar. Die einstmals als Exportschlager gerühmte Berufsausbildung im dualen System ist für immer weniger Jugendliche erreichbar.


Ein Flickenteppich

Zwar ist die Politik in den letzten Jahren den vielen Teilproblemen im Bildungssystem durch Reformansätze und Budgeterhöhungen wie auch durch zielgerichtete Programmförderung entgegengetreten. Entstanden ist jedoch ein unüberschaubarer Flickenteppich von Einzelaktivitäten, die noch keine großen Wirkungen zur Lösung der vielschichtigen Problemlagen erkennen lassen. Beispiel Hochschulpolitik: Trotz Hochschulpakt und Exzellenzinitiative und symbolisch zelebrierten Gipfeltreffen bleiben die Massenuniversitäten dramatisch unterfinanziert. Der Rückzug des Staates aus der Weiterbildungsförderung hat die Polarisierung in der Weiterbildungsbeteiligung noch verschärft. Die finanzielle Reduktion im institutionellen Weiterbildungsgefüge hat ebenfalls tiefe Spuren hinterlassen und viele Weiterbildungsbeschäftigte sind in prekäre Arbeitsverhältnisse abgerutscht.

Die Prediger des neoliberalen Bildungs-Paradigmas, die "Eliten" aus dem Milieu der Unternehmen, Kammern, arbeitgebernahen Verbände und wirtschaftsnahen Stiftungen lassen lautstark und medienwirksam vernehmen, das "Ökonomisierung der Bildung" die Triebkraft für Reformen sei. Übersetzt heißt die Strategie, dem Bildungssystem unternehmerische Steuerungsregeln überzustülpen und Deregulierung, Privatisierung und entfesselten Wettbewerb zur Entfaltung kommen zu lassen. Weniger Staat und mehr private Anbieter, so die Philosophie der neoliberalen Apologeten, sind Garanten einer Bildungspolitik, deren Zielmarken durch Marktförmigkeit, Globalisierung, Rationalisierung, Konkurrenz und internationalen Wettbewerb definiert werden. Als kulturelle Basis-Botschaft dienen ihnen Versprechungen auf potenzielle Chancenerweiterungen durch zunehmende Individualisierung und Pluralisierung der Lebensläufe. Lernen und Bildung in dieser Argumentationsfigur werden zur individuellen Bringschuld der Sicherung von employability. Selbstorganisation von Bildung und Lernen wird Dreh- und Angelpunkt in einer biografischen Selbstarchitektur, in der der Einzelne der (alleinige) Herrscher (Ich-AG) über seine eigene Lern- und Bildungsbiografie ist, mit der er letztlich darüber entscheidet, wie chancenreich sein privates und berufliches Leben verläuft. Als Bildungsinvestor (z.B. durch Studiengebühren, Bildungssparen in der Weiterbildung etc.) in sein eigenes Humankapital muss er folglich die Risiken der Geld- und Zeitinvestitionen für Bildung tragen. Ausbleibende Erträge und Renditen aufgrund von erlebten Friktionen im Erwerbsleben sind in dieser Logik Ergebnis individueller Fehlentscheidungen. Nicht mehr der Staat hat Verantwortung für die Vorsorge und Bereitstellung von Bildungsgütern für alle, sondern die persönliche verantwortete Fehlentscheidung wird für ein Scheitern als Grund herangezogen.

Das Paradigma der Selbstverantwortung steht für einen politisch erwünschten Mentalitätswechsel, der die gemanagte Selbstökonomie zum Gradmesser des Bildungserfolges werden lässt. Die Forderung nach Chancengleichheit im Zugang zu Bildung ist zwar ein grundrechtlich verankertes Prinzip staatlichen Handelns, im Zeichen zunehmender Ökonomisierung und Selbstverantwortung degeneriert das Prinzip jedoch zur vordergründigen Legitimationsbeschaffung insofern, als dass nur besonders markante Bildungsungerechtigkeiten subsidiär ausbalanciert werden. Flankiert wird das Leitbild der Selbstverantwortung vom Regime einer neuen Zeitökonomie. Da werden die Bildungsbiografien für die Leistungsstarken mittels diagnostischer Verfahren zur Kompetenzfeststellung, durch Verfahren der Schullaufbahnlenkung und der Verdichtung der Leistungskontrollen zeitlich beschleunigt (z.B. Vorschulerziehung, G8 und Bachelor/ Master), modularisiert und standardisiert, um die erworbenen Qualifikationen möglichst schnell am Arbeitsmarkt zur Verwertung zu bringen. Hingegen werden die Leistungsschwachen durch stigmatisierende und marginalisierende Attribute (leistungsgemindert, lernunwillig, lernunfähig etc.) in mehr oder minder perspektivlosen Auffangsystemen des Bildungswesens geparkt. Dort müssen sie ihre Lebens- und Lernzeit zwangsweise vergeuden, um letztendlich festzustellen, dass der dauerhafte Übergang ins Erwerbsleben gescheitert ist.

Die empirische Bildungsforschung belegt seit Jahrzehnten: Unser Bildungssystem ist hochgradig selektiv. Fehlende oder unzureichende staatliche Rahmenbedingungen (organisatorisch-strukturell, institutionell, finanziell etc.) in den Wahrnehmungs- und Zugangschancen von und zur Bildung haben dauerhafte soziale Polarisierungen in den Beteiligungsstrukturen der Bevölkerung an Lern- und Bildungsprozessen hinterlassen. Unter dem Primatder Ökonomisierung hat sich die Schere weiter geöffnet. Profitiert haben diejenigen, die aufgrund ihrer abgesicherten sozialen Lage von der Reprivatisierung des öffentlichen Gutes Bildung, was zur Ware wird und einen Marktpreis erzielt, nur wenig betroffen sind. Als ohnehin Bildungsprivilegierte zählen sie, ausgestattet mit entsprechend finanziellen Ressourcen, zu den Gewinnern. Verlieren werden hingegen diejenigen, die seit Jahren aufgrund ihrer sozio-strukturellen Lage mit dem Begriff "bildungsfern" etikettiert werden.

Wie viel Ökonomisierung verträgt das Bildungssystem? Meine Antwort lautet: Ökonomisierung als Prozess einer effektiven Ressourcensteuerung ist sinnvoll und notwendig, zumal sich die eingeleiteten Strukturreformen im Bildungssystem nicht mehr umdrehen lassen.


Bildungspolitisches Augenmaß

Ökonomisierung und Wettbewerb als Prozess innerhalb eines strukturell unterfinanzierten Systems produziert Reformruinen und bildungspolitische Ungerechtigkeiten, wie wir sie gegenwärtig betrachten können. Ökonomisierung als radikale Durchsetzung eines tausendfach medial bearbeiteten Leitbildes hoher (finanzieller) Eigenregie für die Bildungsbeteiligung widerspricht dem Chancengleichheitspostulat und dem Recht auf Persönlichkeitsentfaltung durch Bildung und Lernen. Der enggeführte ökonomische Fokus von Bildung als Zurichtung auf arbeitsmarktliche Verwertung greift zu kurz. Mit bildungspolitischem und ökonomischem Augenmaß für die Zukunft zu handeln, heißt daher, gegen das Auseinanderdriften von Zugängen zur Bildung eine Schutzzone zu schaffen, die einer weiteren sozialen Verwüstung vorbeugt.


Rolf Dobischat (*1950) ist Professor für berufliche Bildungsforschung an der Universität Duisburg-Essen und Präsident des Deutschen Studentenwerks Berlin, zuletzt erschienen: Eigen-Sinn und Widerstand. Kritische Beiträge zum Kompetenzentwicklungsdiskurs, 2009.
rolf.dobischat@uni-due.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2010, S. 24-26
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2010