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HOCHSCHULE/1417: Welchen Preis hat Internationalisierung? (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 27 - Oktober 2009 - Forum der Universität Tübingen

Welchen Preis hat Internationalisierung?

Von Christian Arndt


Internationalität in Forschung und Lehre bringt der Volkswirtschaft viele Vorteile, könnte sie aber auch eine Stange Geld kosten - vor allem, wenn die hoch qualifizierte Elite nach dem Studium in Deutschland ins Ausland abwandert. Eine Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) Tübingen soll Licht ins Dunkel des Braindrain bringen.


Hochqualifizierte Menschen sind eine wesentliche Grundlage für Innovation, Wachstum und das Entwicklungspotenzial von Staaten und Regionen. Ein dauerhafter Verlust an gut ausgebildeten Personen (Braindrain) kann somit die Entwicklungsperspektiven von Regionen gefährden. Daher stellt sich die Frage, wie hoch das künftige Migrationspotenzial und die möglichen Verluste (oder Gewinne?) aus dem Wanderungsverhalten sind.

Der Anteil der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren mit Hochschulabschluss liegt in Baden-Württemberg mit etwa 26 Prozent im Vergleich zu Bayern (24 Prozent), Nordrhein-Westfalen (20 Prozent) oder Deutschland insgesamt (24 Prozent) recht hoch. Im Vergleich mit den USA (39,5 Prozent) fällt die Akademikerquote in Baden-Württemberg dagegen eher gering aus. Wie viele der Hochqualifizierten jedoch ab- und zuwandern, ist völlig unbekannt. Die augenblickliche Datenlage zum Brain-drain ist trotz dessen Bedeutung als Standortfaktor (noch wohlwollend ausgedrückt) als schwierig zu bezeichnen. Als mögliche Datenquelle kommt zunächst die Wanderungsstatistik des Statistischen Bundesamtes in Betracht. Diese erfasst grenzüberschreitende Fort- und Zuzüge. Leider wird dabei jedoch weder die (beabsichtigte) Dauer des Aufenthalts im Ausland noch die Qualifikation der Fort- und Zuziehenden erhoben. Somit gibt es von Seiten der amtlichen Statistik bisher keine zuverlässigen Informationen darüber, ob jemand nur vorübergehend zum Auslandsstudium Deutschland verlässt oder dauerhaft im Ausland bleibt. Diese Zusatzinformationen sind jedoch für eine Bewertung der regelmäßig publizierten und ansteigenden Abwanderungszahlen und der Einschätzung möglicher gesellschaftlicher Kosten des Braindrain dringend notwendig.

Ziel einer vom Landeswirtschaftsministerium in Stuttgart in Auftrag gegebenen IAW-Studie ist es deshalb, etwas Licht in dieses Dunkel zu bringen. Um unter anderem das Potenzial der zukünftigen Abwanderung abschätzen zu können, wurden gegen Ende des Wintersemesters 2008/09 und am Anfang des Sommersemesters 2009 insgesamt über 1.200 zukünftige Absolventen baden-württembergischer Hochschulen repräsentativ befragt. Unter den Befragten waren auch etwa 300 Studierende der Universität Tübingen.

Die Hochrechnungen ergeben, dass es in Baden-Württemberg rund 71 Prozent der Studierenden in den höheren Semestern für möglich oder wahrscheinlich halten, für eine gewisse Zeit oder sogar für immer ins Ausland auszuwandern. Ganz sicher sind sich allerdings nur 3,8 Prozent. Bemerkenswert ist, dass hochgerechnet etwa 32 Prozent aller künftigen Absolventen nach einer möglichen temporären Abwanderung auf jeden Fall wieder nach Deutschland zurückkehren wollen. Rund 24 Prozent aller Studierenden halten es dagegen aber auch durchaus für möglich, für immer im Ausland zu bleiben.


Schwierig zu beziffern

In der Stichprobe waren sowohl Hochschulen als auch Universitäten sowie mit Ausnahme der Theologie alle Studienbereiche vertreten. Bei der schriftlichen Befragung der Studierenden vor Ort in den Hörsälen konnte mit einer Rücklaufquote von mehr als 95 Prozent eine hohe Qualität der Daten erreicht werden. Während bereits das aktuelle Ausmaß des Braindrain und dessen künftiges Potenzial nur mit großer Unsicherheit zu beziffern sind, erscheint es kaum möglich, die gesamtwirtschaftlichen Kosten und den Nutzen der Migration zu benennen.

Auf der Kostenseite zeigt sich, dass die Ausgaben für Hochschulen je Studierendem in Deutschland im Rechnungsjahr 2005 rund 11.900 Euro betrugen. Baden-Württemberg gab nach Angaben des Statistischen Bundesamts überdurchschnittliche 13.700 Euro aus. Im Vergleich zwischen den Fächergruppen unterscheiden sich die Kosten teilweise erheblich. Die laufenden Grundmittel für Lehre und Forschung betragen an einer Universität in Baden-Württemberg für einen Bachelor der Sprach- und Kulturwissenschaften durchschnittlich 9.600 Euro, in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 7.600 Euro, in der Humanmedizin beziehungsweise den Gesundheitswissenschaften dagegen 77.600 Euro.

Der gesamtwirtschaftliche »Nutzen« (von dem Ökonomen gerne sprechen), der einer Volkswirtschaft entgeht, wenn ein Hochqualifizierter abwandert, ist noch schwieriger zu beziffern. Insbesondere ist zu bedenken, dass wesentliche Teile dieses Nutzens aus indirekten Effekten bestehen. Das durchschnittliche Bildungsniveau kann sich nicht nur auf die Versorgungs-und Lebensqualität des Einzelnen, sondern über die gesamtwirtschaftliche Produktivität am Ende auch auf den individuellen erwarteten Lohn auswirken.

Schließlich könnte man auch Steueraufkommenseffekte betrachten. Als »fiskalische Externalität« eines Hochqualifizierten wäre dann der Überschuss an Steuern und Sozialabgaben über die in Anspruch genommenen öffentlichen Leistungen und Sozialleistungen zu verstehen.

Einfachen Beispielrechnungen des Münchner ifo Instituts liegt der exemplarische Lebenslauf einer Ärztin zu Grunde (keine Kinder, Abschluss des Studiums mit 26 Jahren, kein BaföG, mit 48 Jahren Oberärztin sowie auch weitere Annahmen). In diesem Fall summiert sich die Externalität auf 639.200 Euro. Der fiskalische Verlust im Fall einer Abwanderung im Anschluss an die in Deutschland absolvierte Ausbildung - hier fallen die Kosten für die Ausbildung an, der fiskalische Ertrag kommt jedoch nicht zum Tragen - beläuft sich auf etwas über eine Million Euro. Im Fall eines ebenfalls betrachteten Facharbeiters sind es immerhin noch etwa 280.000 Euro.

Jedoch verdeutlichen solche Beispielrechnungen eher die Spannweite möglicher fiskalischer Effekte, als ihr wahres Ausmaß zu konkretisieren. Dafür wären präzisere Simulationsmodelle unter Beachtung der Netto-Fortwanderung, also dem Saldo aus Fort- und Zuwanderung, sozio-demografischer Bevölkerungsgruppen notwendig.

Die künftigen baden-württembergischen Absolventen jedenfalls, von denen ohnehin ein beträchtlicher Teil auf jeden Fall wieder nach Deutschland zurückkehren möchte, gaben als wichtigsten Grund für die mögliche oder geplante Abwanderung in rund 19 Prozent der Fälle und somit am häufigsten die »Neugier auf kulturellen oder beruflichen Austausch« an. Erst an vierter Stelle folgt das eher mit einem permanenten Aufenthalt im Ausland verbundene Motiv des erwarteten Einkommens und der Karrierechancen (etwa 16 Prozent).


Gesamtgesellschaftlicher Nutzen

Die Auswertung nach Studienfachgruppen ergibt, dass die größten Anteile an sicheren Auswanderungsvorhaben in den sprach- und kulturwissenschaftlichen Studiengängen (13 Prozent), in den Wirtschaftswissenschaften (acht Prozent), in den Sozial-, Politik- und Verwaltungswissenschaften (sieben Prozent) sowie in den Ingenieurwissenschaften und der Informatik (sechs Prozent) zu finden sind. Beispiele für besonders wichtige Faktoren bei der Entscheidung zu emigrieren sind soziale Kontakte, Freunde und Partner.

Insgesamt zeigen die Auswertungen also, dass durchaus Abwanderungspotenzial vorhanden ist. Der gleichzeitig hohe Anteil der potenziellen Rückkehrer, die wichtigsten Motive hinter den beabsichtigten Auslandsaufenthalten sowie die Konzentration auf bestimmte Fächergruppen deuten jedoch darauf hin, dass die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Emigration zu relativieren sind. Mit dem Ziel vor Augen, später einmal ins Ausland zu gehen, mag mancher Student effizienter studieren. Bleibt er dann doch in Deutschland, sollte die Nutzendifferenz positiv ausfallen. Insbesondere ist der gesamtgesellschaftliche Nutzen eines Hochqualifizierten nach der Rückkehr von einem temporären Auslandsaufenthalt typischerweise höher, als er ohne diese »Humankapitalspritze« gewesen wäre.


Christian Arndt ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Empirische Wirtschaftsforschung an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen und Research Fellow am Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) in Tübingen. Dort war er auch von Mai 2002 bis August 2009 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter tätig. Die IAW-Studie wird unter www.iaw.edu. publiziert.


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Quelle:
attempto! 27, Oktober 2009, Seite 8-9
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V.
(Universitätsbund)
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Redaktion: Michael Seifert (verantwortlich)
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2009