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HOCHSCHULE/1484: Akademische Abschlüsse und was "Bologna" eigentlich will (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 3 vom 16, Februar 2010

Akademische Abschlüsse und was "Bologna" eigentlich will
Nachgefragt bei Prof. Kurt Reinschke

Von Mathias Bäumel


TU-Experten befragt: Studenten protestieren gegen schlechte Studienbedingungen - aber ist wirklich "Bologna" an der unbefriedigenden Situation der deutschen Hochschulen schuld? Das UJ fragte bei Prof. Kurt Reinschke nach


UJ: Professor Reinschke, im Jahre 2009 haben Sie sich in einem Artikel mit den akademischen Graden in deutschen Landen im Wandel der Zeit auseinandergesetzt. Warum?

PROFESSOR REINSCHKE: Der frühere sächsische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Prof. Hans-Joachim Meyer, hatte im Februar 2009 gefordert, dass die Hochschulreform in Deutschland konsequent als eine Weiterentwicklung der deutschsprachigen akademischen Tradition konzipiert werden solle, und u.a. gesagt: "Schluss mit der würdelosen und überdies irreführenden Nachäfferei englischsprachiger Titel." In einem Leserbrief schrieb ein darüber verärgerter Professor aus Baden-Württemberg: "Das deutsche 'Diplom', auch das für den 'Dipl.-Ingenieur', wurde 1938 (!) von der damaligen Reichsregierung unter Adolf Hitler verbindlich für das ganze Reich festgelegt. Was war vorher? Nun, der Baccalaureus und der Magister, und wer lange genug an der Universität blieb, wurde dort akademischer Lehrer = Doctor!" Angesichts einer solchen Unkenntnis (nicht nur der deutschen Grammatik) eines professoralen Protagonisten der "Bachelorisierung" des deutschen Hochschulwesens wollte ich einen Beitrag zur Klärung des Sachverhalts leisten. In meinem Aufsatz "Heiße Magister, heiße Doktor gar ..." ("Freiheit der Wissenschaft", Nr. 2/Juni 2009) habe ich die Entwicklungsgeschichte der akademischen Grade vom 12. bis zum 21. Jahrhundert skizziert.

UJ: Seit wann kann man von "deutschen akademischen Graden" sprechen?

PROFESSOR REINSCHKE: Die mittelalterlichen Universitäten waren wichtige Kulturträger des lateinischen Europa. Struktur und Lehrinhalte stimmten im wesentlichen überein, egal ob der Universitätsstandort Paris, Oxford, Bologna, Coimbra, Wien, Prag, Köln, Leipzig oder Dorpat hieß. Überall konnten die lateinischen akademischen Grade Baccalaureus, Magister und Doctor erworben werden. Das änderte sich mit der Französischen Revolution und dem Erstarken der europäischen Nationalstaaten, die nun nationale Bildungssysteme einrichteten. In Frankreich wurden die tradierten Universitäten aufgelöst und durch Fachhochschulen ersetzt. In Deutschland entstanden die Forschungsuniversität, die heute oft verkürzt als Humboldtsche Universität bezeichnet wird, und das Humanistische Gymnasium, in dem die Reife für ein wissenschaftliches Studium in allen Disziplinen erlangt wurde. Das Abitur ersetzte die akademische Qualifikation eines Baccalaureus. Deshalb wurde der Baccalaureus als niedrigster Universitätsgrad um 1820 im deutschen Sprachraum endgültig abgeschafft. Auch der Magister verlor im 19. Jahrhundert seine selbständige Bedeutung, so dass in Deutschland nur das Doktorat als akademische Würde überlebte.

UJ: Und seit wann gibt es in Deutschland das "Diplom" als akademischen Grad und welchen Stellenwert hatten bzw. haben denn die deutschen Diplomgrade international?

PROFESSOR REINSCHKE: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten sich neue wissenschaftliche Disziplinen. Einige - ich denke an Geschichte oder an die Sozialwissenschaften - wurden in die deutschen Universitäten integriert. Leider gelang das nicht für die technischen Wissenschaften. Für diese errichtete man die Technischen Hochschulen. In Anerkennung ihrer erlangten wissenschaftlichen Bedeutung wurde ihnen (nach einem Erlass des preußischen Königs vom 11. Oktober 1899) das Recht eingeräumt, auf Grund einer Diplomprüfung den Grad "Diplom-Ingenieur" zu erteilen und Diplom-Ingenieure nach einer weiteren Prüfung zum "Doktor-Ingenieur" zu promovieren. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts neu gegründeten deutschen Handelshochschulen zogen nach und erhielten noch im deutschen Kaiserreich das Recht, ihre Absolventen als "Diplom-Volkswirte" oder "Diplom-Kaufleute" zu graduieren. In den 1940er Jahren kamen die naturwissenschaftlichen Diplome (Dipl.-Math., Dipl.-Chem., Dipl.-Psych. usw.) hinzu. Ab 1970 endete in der DDR schließlich jedes Hochschulstudium mit einem Diplom, auch in den klassischen, bis ins Mittelalter zurückreichenden Studiengängen der Medizin, der Rechtswissenschaften und der Theologie. International wurde vor allem das deutsche Ingenieurdiplom zu einem wohlbekannten Markenzeichen für eine qualitativ erstklassige Ausbildung, die auf dem ganzen Erdball als vorbildlich angesehen wurde und bis heute nachgeahmt wird, nicht zuletzt auch in den USA.

UJ: Der Begriff Universität kommt verkürzt vom lateinischen 'universitas magistrorum et scholarium', Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden. Speziell in Deutschland spielt die Diskussion um den Wert der Humboldtschen Universität eine große Rolle. Worin besteht das Wesen der sogenannten Humboldtschen Universität?

PROFESSOR REINSCHKE: Die Väter dieses Universitätskonzeptes gingen davon aus, dass im Gymnasium eine solche Vorbildung erreicht werden könne, dass die Abiturienten ohne weiteres in voller akademischer Freiheit und Eigenverantwortung an der Universität studierfähig seien. Friedrich Schleiermacher (1768-1834) betonte in seinen "Gelegentlichen Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn" (veröffentlicht 1808), dass es Sache der Schulen sei, unstrittiges und unmittelbar anwendbares Wissen zu lehren sowie nützliche Fertigkeiten zu vermitteln, während die Universität eine andere Bestimmung habe:

"Die Idee der Wissenschaft in den ... (Studierenden) ... zu erwecken, ihr zur Herrschaft über sie zu verhelfen auf demjenigen Gebiet der Erkenntnis, dem jeder sich besonders widmen will, so dass es ihnen zur Natur werde, alles aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaft zu betrachten, alles einzelne nicht für sich, sondern in seinen nächsten wissenschaftlichen Verbindungen anzuschauen, in beständiger Beziehung auf die Einheit und Allheit der Erkenntnis, dass sie lernen, in jedem Denken sich der Grundgesetze der Wissenschaft bewusst zu werden, und eben dadurch das Vermögen selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen, allmählich in sich herauszuarbeiten, das ist das Geschäft der Universität."

Staatlich reglementierte Lehrpläne und Lehrbücher gehörten zum Gymnasium, nicht zur Universität. Gefördert durch "bildende Geselligkeit" mit ihren Professoren wurden die Studierenden von Anfang an in deren Forschungen einbezogen. Formelle Voraussetzung für die Zulassung zur Doktorprüfung war ein mindestens 6-semestriges Universitätsstudium, das in der Regel an verschiedenen Universitätsstandorten absolviert wurde.

UJ: In den Diskussionen wird nicht selten thematisiert, dass diese Humboldtsche Universität heutzutage gefährdet sei. Ein Artikel in den "Akademischen Blättern" (2/2008) formulierte sogar: "Deutschland vergisst seine große Tradition". Wie sehen Sie das?

PROFESSOR REINSCHKE: Die Humboldtsche Universität war für einen ganz kleinen Teil der (männlichen!) Bevölkerung gedacht und setzte das Humanistische Gymnasium voraus. Sieht man sich die gymnasialen Lehrpläne aus dem 19. Jahrhundert an, so fällt neben der anspruchsvollen Ausbildung in Mathematik und Geschichte vor allem auf, dass in den alten Sprachen Latein und Griechisch ein Wissensstand erreicht wurde, der heute einem vollen Universitätsstudium der klassischen Philologie entspricht.

Eine vergleichbar anspruchsvolle geistige Schulung kann ein Massengymnasium nicht leisten, so dass heute nur wenige Ausnahme-Abiturienten als von vornherein studierfähig (im Sinne von Schleiermacher) einzustufen wären. Folglich ist eine gewisse Verschulung (mit Lehrplänen und dergleichen) in der modernen Universität unumgänglich, wenn die Universität für große Teile der Bevölkerung zugänglich bleiben soll.

UJ: In aller Munde ist seit Jahren der Begriff "Bologna-Prozess". Der Begriff bezeichnet ein politisches Vorhaben zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraumes bis zum Jahr 2010. Er beruht auf einer im Jahre 1999 von 29 europäischen Bildungsministern im italienischen Bologna unterzeichneten, völkerrechtlich nicht bindenden Bologna-Erklärung. Was konkret wollte man mit der Erklärung erreichen?

PROFESSOR REINSCHKE: Die autorisierte englische Bezeichnung für "Europäischer Hochschulraum" lautet "European Higher Education Area", meint also den gesamten "Bereich der höheren (Aus- und Fort-)Bildung", also alle Formen von tertiären Ausbildungs-, Bildungs- und Fortbildungseinrichtungen. Manchen Universitätskollegen scheint nicht immer bewusst zu sein, dass in diesen Bereich selbstverständlich auch die nicht-universitären deutschen Ausbildungsstätten gehören, insbesondere die Fachhochschulen und die Berufsakademien. Auch die deutschen Fachausbildungsstätten für Krankenschwestern, Apothekenassistenten, Kindergärtnerinnen, Optiker, Steuerberater und viele andere Tätigkeitsfelder sollten im Bologna-Kontext zu "higher education area" gezählt werden, um europaweit angemessen vergleichen zu können.

Im Bologna-Prozess geht es um die Vergleichbarkeit von Studienleistungen und berufsbefähigenden Abschlüssen in verschiedenen Nationen, ihre wechselseitige Anerkennung und damit um unkompliziertere Beschäftigungszulassungen und die erleichterte Mobilität von Fachkräften zwischen den EU-Ländern.

UJ: Unter "Bologna" versteht man in der Öffentlichkeit nicht nur die Schaffung eines international vergleichbaren Systems von Studienabschlüssen, sondern auch die Einführung eines zweigestuften Bachelor-Master-Studiums ...

PROFESSOR REINSCHKE: Über den Bologna-Prozess wird in den deutschen Medien oft falsch berichtet. So schrieb in der "Sächsischen Zeitung" vom 17./18. Oktober 2009 der für Hochschulfragen zuständige Redakteur: "Bachelor ersetzt das Diplom: Begonnen hat dies vor 10 Jahren. Europa hatte damals beschlossen, für seine jungen Leute einen einheitlichen, großen Hochschulraum zu schaffen. Jeder sollte überall studieren können und auch seinen Abschluss bekommen ... Zwei Stufen muss dieses Studiensystem haben: Bachelor und Master. Das war das Aus für das deutsche Diplom. Jetzt gibt es nach drei Jahren den Bachelor, und nach nochmals zwei Jahren den Master ..."

Tatsächlich aber kommen in den Vereinbarungen, die europäische Bildungsminister in Bologna (1999), Prag (2001), Berlin (2003), Bergen (2005), London (2007) und Leuven (2009) unterzeichnet haben, die Abschlussgrade "Bachelor" und "Master" überhaupt nicht vor. Vielmehr sollen die unterschiedlichen nationalen akademischen Grade beibehalten und ihre internationale Vergleichbarkeit in einem "Diploma supplement" beschrieben werden. In Übereinstimmung mit der völkerrechtlich verbindlichen Lissabon-Konvention sind die Bildungsminister sogar verpflichtet, die kulturelle Vielfalt zu pflegen und die multilinguale Tradition des europäischen Hochschulraumes zu stärken! Die "Bachelorisierung" der deutschen Hochschulen folgt nicht aus internationalen Verträgen und Zwängen, sondern ist ein hausgemachtes deutsches Problem.

UJ: Wobei der "Bachelor" vor allem als Berufsabschluss gesehen wird. Wie kam es zur Einführung des "Bachelor" und des "Master" an unseren Hochschulen?

PROFESSOR REINSCHKE: Nachdem die Top-Manager zu Beginn der 1990er Jahre das Wirtschafts- und Finanzsystem aus seinen früheren Bindungen gelöst (und damit die Zeitbomben für die jetzige Wirtschafts- und Finanzkrise gelegt) hatten, forderte der Europäische Runde Tisch der Großindustriellen auch eine Umstrukturierung des gesamten Bildungswesens. Die Top-Manager publizierten im Februar 1995 in dem Bericht "Education for Europeans - Towards the Learning Society" ihre Zielstellungen:

• eine vollständige Abstimmung auf die Bedürfnisse der europäischen Wirtschaft,
• Schaffung einheitlicher Bildungsstandards in ganz Europa,
• in allen europäischen Ländern kompatible Abschlüsse, die in den neuen, sich ändernden Arbeitsumgebungen von Wert sind,
• Schlüsselqualifikationen (interpersonal skills),
• Modularisierung der Studiengänge,
• bessere Kooperation zwischen Universitäten und Industrie.

Der Bertelsmann-Konzern gründete 1994 in Gütersloh ein Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) als "Reformwerkstatt" für das deutsche Hochschulwesen. Das CHE arbeitet seitdem an der Umgestaltung des deutschen Bildungssystems und wird dabei von der Hochschulrektorenkonferenz unterstützt.

Die politische Wirksamkeit des CHE schlug sich schon während der letzten Schwarz-Gelben Regierung Kohl im "Vierten Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes" nieder. Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) verkündete seinerzeit: "Humboldt ist tot", und die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) empfahl die Umstellung der deutschen akademischen Grade auf Bachelor, Master und Ph.D. Sachsens damaliger Wissenschaftsminister Hans-Joachim Meyer (CDU) warnte 1999 als Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK) vergeblich vor einer "unüberlegten Amerikanisierung" des deutschen Hochschulsystems. In der Rot-Grünen Regierung Schröder setzte sich die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) mit dem Schlachtruf "Alte Zöpfe gehören abgeschnitten" für radikale Änderungen ein. Das Wesen des Bologna-Prozesses wurde in der Öffentlichkeit häufig verzerrt oder gar falsch dargestellt. Dadurch bot sich Gelegenheit, den Prozess zu instrumentalisieren, Traditionsbrüche zu bemänteln und die Einführung der in den internationalen Vereinbarungen der Bildungsminister gar nicht vorkommenden Abschlussbezeichnungen "Bachelor" und "Master" in Deutschland zu betreiben.


Professor Kurt Reinschke

Prof. Dr.-Ing. Dr. rer. nat. Kurt Reinschke hat während seiner Tätigkeit in der elektronischen Industrie (1965-1978) und danach an der Akademie der Wissenschaften der DDR nebenamtlich in Dresden, Chemnitz, Ilmenau und Cottbus gelehrt.
An der Hochschulerneuerung in Sachsen war er als Mitglied der Sächsischen Hochschulkommission (1991-1993) beteiligt. 1992-2007 hatte er die Professur für Regelungs- und Steuerungstheorie an der TU Dresden inne. Seit 1990 ist er hochschulpolitisch aktiv im Deutschen Hochschulverband (1997-2002 Sprecher der DHV-Gruppe der TU Dresden, ab 2002 Vorsitzender des DHV-Landesverbandes Sachsen) und im "Bund Freiheit der Wissenschaft e.V." 2008 wurde er in den Vorstand des transdisziplinären "Arbeitskreises Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWIS e.V.)" gewählt.


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 21. Jg., Nr. 3 vom 16.02.2010, S. 3
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2010