Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → BILDUNG

WEITERBILDUNG/058: Neue tarif- und betriebspolitische Ansätze bei der beruflichen Weiterbildung (spw)


spw - Ausgabe 3/2009 - Heft 171
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Neue tarif- und betriebspolitische Ansätze bei der beruflichen Weiterbildung

Von Hartmut Seifert


Problemstellung und Ausgangslage

Kaum ein Thema findet in der politischen wie wissenschaftlichen Debatte derartig breite Zustimmung wie die Forderung nach einer systematischen Ausweitung der beruflichen Weiterbildung. In einem seltsamen Missverhältnis hierzu stehen die betrieblichen Aktivitäten. Zwischen 1997 und 2003 ließen sie sogar nach. Seitdem haben sie sich zwar auf niedrigem Niveau stabilisiert. Im europäischen Vergleich rangieren sie aber lediglich im Mittelfeld.


Die zentrale Schwachstelle in der beruflichen Weiterbildung ist hinreichend bekannt: Weiterbildung ist hochgradig selektiv. Mit abnehmender Betriebsgröße schwinden die Chancen der Beschäftigten, die beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Rahmen betrieblich initiierter Aktivitäten auffrischen zu können. Über die Partizipationschancen entscheiden ferner Qualifikationsniveau und Alter der Beschäftigten. Je niedriger die Ausgangsqualifikation und je höher das Alter desto geringer sind die Chancen, an Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. Systematisch benachteiligt beim Zugang zu betrieblich-beruflicher Weiterbildung ist außerdem der wachsende Kreis der sogenannten atypisch Beschäftigten, die entweder auf Basis einer befristeten, geringfügigen oder Teilzeittätigkeit oder als LeiharbeitnehmerInnen arbeiten. Auf dieses Segment entfällt mehr als ein Drittel aller Beschäftigten; die Tendenz ist steigend. Der viel bemühte Slogan vom lernenden Unternehmen ist in weiten Teilen der betrieblichen Wirklichkeit längst nicht angekommen.


Das mäßige Aktivitätsniveau in der beruflichen Weiterbildung hat viele Gründe: Unsicherheiten über zukünftige Bildungsrenditen und deren Verteilung, Kontroversen über die Aufbringung der Bildungsinvestitionen, Knappheiten bei den zeitlichen und finanziellen Ressourcen, Informationsdefizite über zukünftige Qualifikationsbedarfe und -angebote sowohl auf Seiten der Betriebe als auch der Beschäftigten, Hemmschwellen gegenüber Weiterbildungsteilnahme usw. Die Bedeutung dieser Faktoren dürfte damit zu tun haben, dass berufliche Weiterbildung in weiten Teilen der Wirtschaft ein regelungsfreies Handlungsfeld geblieben ist. Weder Gesetze noch Tarifverträge geben in einem einheitlichen, konsistenten und verbindlichen Rahmen vor, wie berufliche Weiterbildung zu definieren, zu organisieren, zu finanzieren und zu zertifizieren ist. Betriebsvereinbarungen zur Weiterbildung existierten 2007 nur in 38 Prozent der Betriebe mit Betriebsrat. Im Prinzip bleibt es betrieblicher Initiative überlassen, ob und in welchem Umfang für welche Beschäftigten welche Weiterbildung organisiert wird, es sei denn, die Beschäftigten organisieren Weiterbildung eigeninitiativ.


In den letzten Jahren haben tarif- und betriebspolitische Vereinbarungen neue Bewegung in den Regelungsgegenstand gebracht und einige Regelungslücken schließen können. Neu ist, dass Weiterbildung nun mit systematischer Personalentwicklung verknüpft wird. Ferner sind die Tarifvertragsparteien auf neue Arrangements zur Verteilung der Weiterbildungskosten eingegangen. Diesem zweiten Aspekt gilt die Aufmerksamkeit des nachfolgenden Beitrages. In einem engen Kontext mit Kostenfragen stehen definitorische Aspekte der Weiterbildung sowie die mit Weiterbildung verfolgten Ziele. Einige Neuerungen in diesen Regelungsinhalten präsentiert der nachfolgende Beitrag. Ein besonderes Augenmerk richtet sich auf Vereinbarungen über die Verteilung der Lern- bzw. Qualifizierungszeiten und die in diesem Kontext aufgekommenen Lernzeitkonten.


Von kontextgebundenen zu originären Weiterbildungsregelungen

Berufliche Weiterbildung hat in der Tarifpolitik im Vergleich zu den Kernregelungsbereichen Lohn und Arbeitszeit lange Zeit eher eine Nebenrolle gespielt. So überrascht es auch nicht, dass dieser Bereich bis vor wenigen Jahren nur vereinzelt und dann vor allem im Kontext bestimmter Problemkonstellationen geregelt war. Flächendeckende Vereinbarungen analog zu den traditionellen Regelungsgegenständen Einkommen und Arbeitszeit fehlten weitgehend. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre kam neue Bewegung in die Tarifpolitik. Seither wurden vermehrt originäre Weiterbildungsvereinbarungen abgeschlossen. Zuvor, in den 1960er und 1970er Jahren, fanden sich Weiterbildungsvereinbarungen der Tarifvertragsparteien vor allem im Kontext von Rationalisierungsschutzabkommen, Frauenförderung oder Entgeltfragen. Später, in den 1980er Jahren, wurden Weiterbildungsmaßnahmen vor allem als Elemente zur Beschäftigungssicherung vereinbart.

Dementsprechend waren die Ziele der in dieser ersten Phase vereinbarten Weiterbildungsregelungen enger gefasst und auf spezielle Problemkonstellationen zugeschnitten. Sie sollten den Beschäftigten Möglichkeiten bieten, sich bei betrieblichen Umstrukturierungen und Rationalisierungsmaßnahmen für andere Tätigkeiten zu qualifizieren. Das Potenzial der Anspruchsberechtigten blieb begrenzt. Die Tarifverträge aus dieser Phase lassen keine konsistente Konzeption erkennen. Die maßgeblichen Weiterbildungsziele blieben heterogen. Die Vereinbarungen generierten keine generellen Weiterbildungsansprüche für sämtliche Beschäftigte sondern waren zielgruppen- bzw. kontextorientiert.

Diese Engführung bei den Bildungszielen überwinden die in der zweiten Phase aufgekommenen kontextunabhängigen Weiterbildungsregelungen. Sie schlagen ein neues Kapitel auf. Primär geht es nun um die Sicherung und Stärkung der betrieblichen Wettbewerbsfähigkeit sowie um die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit der ArbeitnehmerInnen. Teilweise generieren die Vereinbarungen sogar generelle Ansprüche auf berufliche Qualifizierung. Entscheidend ist, dass sie allgemeine Weiterbildungsziele aufwerten. Gleichzeitig ändern sich die Modalitäten der Finanzierung sowie der Erfassung von Weiterbildungsbedarfen. Der veränderte Charakter der neuen Generation von Tarifverträgen zur Weiterbildung lässt sich auch an ihrer Form ablesen. Nur teils sind sie Bestandteil von Manteltarifverträgen, teils handelt es sich um eigenständige Qualifizierungsvereinbarungen.


Die inhaltliche und prozessuale Neuorientierung schlägt sich auch in den untersuchten Betriebsvereinbarungen nieder. Bei aller Heterogenität in der Regelungstiefe und den sonstigen Inhalten zeigen die betrieblichen Vereinbarungen eine tendenzielle Übereinstimmung in den Zielen der Weiterbildung. Wirtschaftliche Ziele rücken in den Vordergrund. Weiterbildung soll dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, Arbeitsplätze zu erhalten oder die Produktions- und Dienstleistungsqualität zu sichern, die über den Erhalt und die Verbesserung der Qualifikation und Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter erreicht werden sollen. Weiterbildung wird als eine Investition in die Zukunft angesehen. Sie gilt nicht nur als Angelegenheit des Arbeitgebers, sondern bezieht die Beschäftigten ausdrücklich in die Verantwortung mit ein: einzelne Regelungen verpflichten die Beschäftigten sogar, sich an der Weiterbildung (sowie ihrer Planung) aktiv zu beteiligen und fordern die Bereitschaft, dafür Freizeit und z.T. auch eigene finanzielle Mittel zu investieren.

Die Vereinbarungen der zweiten Generation machen die Weiterbildungsteilnahme nicht mehr von bestimmten Problemkonstellationen abhängig, sondern legen den jeweiligen Bedarf als Orientierungsgröße zugrunde. So erhält die Ermittlung des Bedarfs in einigen tariflichen Vereinbarungen (Metallindustrie, Chemische Industrie) einen zentralen Stellenwert. Diesen Weg hatte der 2001 abgeschlossene Qualifizierungs-Tarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg eröffnet. Er sichert den Beschäftigten einen Anspruch auf ein jährliches Personalgespräch zu, bei dem der individuelle Qualifizierungsbedarf festgestellt werden soll. Andere Tarifbereiche (u.a. Tarifvertrag zur Qualifizierung in der Chemischen Industrie von 2003, Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst von 2005, Tarifvertrag zur Qualifizierung für das private Versicherungsgewerbe von 2007) folgten. Diese Orientierung setzt sich in den betrieblichen Vereinbarungen fort. Teilweise sehen sie vor, paritätische Kommissionen einzurichten, die Planung und Durchführung betrieblicher Weiterbildungsaktivitäten steuern sollen. Die Gründung derartiger Institutionen lässt eine stärkere Systematisierung und Professionalisierung der betrieblichen Weiterbildung erwarten. Sie wertet dieses Aktionsfeld auf und macht es zu einem permanenten betrieblichen Handlungsfeld.


Varianten der Kostenverteilung

Mit dem Wandel von kontextgebundenen zu originären Weiterbildungsregelungen bilden sich differenzierte Formen heraus, die Weiterbildungskosten zwischen Betrieb und Beschäftigten zu verteilen. Wenn Tarifverträge Aussagen zur Beteiligung der Beschäftigten an den Weiterbildungskosten enthalten, dann überwiegend in Form von Zeitelementen, die für Weiterbildungszeit aufzubringen ist (Time-sharing). Wahlmöglichkeiten zwischen monetärer oder zeitlicher Beteiligung sind selten. Die Finanzierungsregelungen folgen in gewisser Weise den unterschiedlichen Definitionen von beruflicher Weiterbildung. So unterscheidet der Tarifvertrag für die Chemische Industrie zwischen betriebsbezogenen und individuellen Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen und grenzt diese gegenüber arbeitsplatzbezogenen Einweisungen und Schulungen aufgrund gesetzlicher Verpflichtungen für Arbeitnehmer mit besonderer Funktion ab. Tarifverträge für die Metallindustrie unterscheiden zwischen betrieblich notwendigen und betrieblich zweckmäßigen Weiterbildungsmaßnahmen. Zur ersten Kategorie zählen sie die Erhaltungs-, Anpassungs- und Umqualifizierung. Die zweite Kategorie bezieht sich auf Maßnahmen, die zu höherwertigen Arbeitsaufgaben führen (Entwicklungsqualifizierung).

Die Finanzierungsregelungen folgen in gewisser Weise den Definitionen der Weiterbildung. Gleichwohl lassen sich Abweichungen beobachten. Folgende Grundvarianten können unterschieden werden:

Bei betrieblich notwendigen oder betrieblich veranlassten Maßnahmen übernimmt der Arbeitgeber in aller Regel die Kosten. Eingeschlossen sind die direkten Kosten für Unterricht, Materialien usw. sowie die indirekten für die Lohnfortzahlung der Weiterbildung während der Arbeitszeit. Diese Regelung sehen die Verträge für die Metall- und Elektroindustrie vor. Einzelne Tarifverträge enthalten auch Time-sharing-Varianten, ohne die Verteilungsrelationen zu spezifizieren.


Einige Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen verteilen die Qualifizierungszeiten sowohl bei betriebsnotwendigen als auch bei Entwicklungsqualifizierungen, die der Übernahme höherwertiger Arbeitsaufgaben diesen (hälftig oder in anderen Proportionen), auf bezahlte Arbeitszeit, aufzubringen durch den Arbeitgeber, und Freizeit, aufzubringen durch die Beschäftigten. Diese zweite Variante ist z.B. in Verträgen für die Metallindustrie (z.B.Sachsen) geregelt. Während betrieblich notwendige Qualifizierungszeit als bezahlte Arbeitszeit definiert ist, haben die ArbeitnehmerInnen bei Entwicklungsqualifizierungen einen Eigenanteil zu leisten, der aus Arbeitszeitkonten stammen kann. Ebenfalls eine hälftige Aufteilung sehen die Verträge für die Hochtief Facility Management GmbH sowie für die Auto 5000 GmbH vor. Im Unterschied zu dem erstgenannten Beispiel beziehen beide Vereinbarungen das Prinzip des Time-sharings auf die gesamte betrieblich-berufliche Weiterbildung. Weiterbildungszeit setzt sich zu gleichen Teilen aus Arbeits- und aus Freizeit zusammen. Der in 2001 für die Auto 5000 GmbH, einem Tochterunternehmen der Volkswagen AG, abgeschlossene Tarifvertrag sieht einen Anspruch der Beschäftigten auf eine dreistündige Weiterbildungszeit pro Woche vor, die nach ersten Erfahrungen mit dieser Regelung auf 2,5 Stunden reduziert wurde. Die Vereinbarung verknüpft den Anspruch auf Weiterbildung und die dafür benötigte Qualifizierungszeit mit dem Anspruch auf einen individuellen Entwicklungs- und Qualifizierungsplan. Die Beschäftigten sind verpflichtet, vereinbarte und angebotene Qualifizierungen zu leisten. Ein weiteres Beispiel für einen zeitlichen Eigenbeitrag enthält der Tarifvertrag von 2007 für die Heizungsindustrie in Baden-Württemberg. Bis zur Hälfte der Qualifikationszeit kann aus Freizeit bestehen. Bei Qualifikationsmaßnahmen, deren Kosten der Arbeitgeber trägt, kann dieser vom Beschäftigten verlangen, sich mit bis zu 30 Minuten pro Qualifizierungsstunde zu beteiligen. Der Eigenbeitrag ist auf 15 Arbeitsstunden pro Jahr limitiert.

Weiterbildung im persönlichen Interesse der Beschäftigten wird unterschiedlich behandelt. Überwiegend haben die Beschäftigten die Kosten zu tragen, einzelne Vereinbarungen sehen aber auch Time-sharing-Formen vor oder gehen noch weiter und bieten Finanzierungen über Weiterbildungsfonds.

Tarifliche Fondsmodelle zur Finanzierung der beruflichen Weiterbildung sind in Deutschland im Unterschied zu Frankreich und den Niederlanden lange Zeit eine seltene Ausnahme geblieben und sind es immer noch, auch wenn in den letzten Jahren neue Fondsregelungen hinzugekommen sind. Zwei konzeptionell unterschiedliche Modelle wurden für die Textil- und Bekleidungsindustrie sowie für die Feinstblechpackungsindustrie vereinbart.

Die im ersten Bereich 1997 getroffene Vereinbarung bietet den Beschäftigten fünf Tage bezahlte Freistellung für berufliche Fort- und Weiterbildung. Diesen Zeitkontingent können die Beschäftigten aus Zeitguthaben, die sie auf Zeitkonten angespart haben, aufstocken. Hierzu gehören auch Ansprüche aus den Bildungsurlaubsgesetzen. Diese Regelung verkörpert eine Modellvariante von Lernzeitkonten. Die Zeitguthaben dienen dazu, zusätzlich zur bisherigen betrieblichen Weiterbildung sämtliche Maßnahmen zu fördern, die im Arbeitsleben eine Rolle spielen und die für die persönliche berufliche Sicherheit und Weiterentwicklung der Beschäftigten bedeutsam sind. Die Inanspruchnahme ist auf zwei Prozent der Beschäftigten beschränkt. Die direkten Kosten (Seminarkosten, Übernachtungen, Fahrten usw.) werden über einen Fonds finanziert, der sich aus Beiträgen aller Unternehmen speist. Zur Finanzierung des Fonds hatten die Beschäftigten auf die vorgesehene Erhöhung des Urlaubsgeldes verzichtet. Die Verwaltung der Bildungsbeiträge liegt in den Händen eines von beiden Tarifvertragsparteien gegründeten Vereins. Die Gewerkschaft IG Metall und der entsprechende Arbeitgeberverband haben für jeweils die Hälfte der Mittel das Vorschlagsrecht.


Ein zweites Beispiel stellt das Fondsmodell von 2004 in der Feinstblechpackungsindustrie dar. Die Finanzierungsbasis bilden Abführungen in Höhe von 1,36 Prozent der jährlichen Entgeltsumme. Sie stehen für Weiterbildungen zur Verfügung, "die geeignet sind, dem einzelnen Beschäftigten oder Gruppen von Beschäftigten zusätzliche Qualifikationen fachlicher oder zusätzlicher Art zu vermitteln". Nicht gefördert werden Maßnahmen der Erhaltungs- und der Anpassungsqualifizierung. Sie sind Aufgabe der Betriebe. Der Qualifizierungsfonds übernimmt die direkten Kosten der Weiterbildung, der Arbeitgeber die indirekten für Lohnfortzahlung oder Vertretungskosten infolge von Mehrarbeit oder Leiharbeit.

Einige der skizzierten Varianten der Kostenverteilung bauen auf so genannten Lernzeitkonten auf, die im Folgenden näher erläutert werden sollen.


Lernzeitkonten

In den untersuchten Tarif- bzw. Betriebsvereinbarungen finden sich teilweise Möglichkeiten, die Qualifizierungszeiten mit Hilfe von Lernzeitkonten zu organisieren. Zwei Varianten sind zu unterscheiden:

a) Ein weiter gefasster Ansatz geht von Arbeitszeitkonten aus, auf denen aus unterschiedlichen Quellen stammende Zeitelemente zu Zeitguthaben angespart und neben anderen Verwendungszwecken auch für berufliche Weiterbildung genutzt werden können. Als Quellen kommen neben betrieblich und tariflich vereinbarten Weiterbildungszeiten, Guthaben auf individuellen Kurz- und Langzeitkonten, auch Freistellungszeiten aus den Bildungsurlaubsgesetzen der Länder in Frage. Es bleibt der betrieblichen Ebene überlassen auszuhandeln, in welchem Mischungsverhältnis die Betriebsparteien Zeitelemente für welchen Qualifizierungszweck einbringen. Dieser Variante eines Lernzeitkonten lässt sich der Tarifvertrag der Chemischen Industrie zuordnen. Er sieht eine nicht quantifizierte Kostenbeteiligung des Arbeitnehmers vor, die in Form von Zeit eingebracht werden soll. Als Quellen werden ausdrücklich Zeitguthaben im Kontext mit Langzeitkonten aber auch gesetzliche Förderungsmöglichkeiten genannt. Hiervon nicht ausgeschlossen sind u.a. die Bildungsurlaubsgesetze, soweit sie, wie z.B. in Rheinland-Pfalz oder NRW, betriebliche Weiterbildung zulassen. Die Höhe des Eigenbeitrags ist dann in betrieblichen Vereinbarungen zu fixieren.

b) Ein anderer Ansatz engt Lernzeitkonten auf diejenigen Zeitansprüche ein, die ausschließlich für berufliche Weiterbildung reserviert sind, über bestimmte Zeiträume angesammelt und zu Weiterbildungsphasen genutzt werden können. Ein Beispiel liefert der oben erwähnte Tarifvertrag für die Textil- und Bekleidungsindustrie.


Der erste Ansatz schließt den zweiten ein. Er vergrößert das Spektrum der Zeitquellen und damit das Potenzial der für Weiterbildung in Frage kommenden Zeiteinheiten. Ein Teil dieser zusätzlichen Zeiteinheiten ist jedoch nicht exklusiv für Bildungszwecke reserviert, sondern konkurriert mit anderen Freistellungs- bzw. Nutzungszwecken (Sabbaticals, vorzeitige Beendigung der Erwerbsarbeit, usw.).


Erwartungen an Lernzeitkonten

Das Aufkommen von Lernzeitkonten hat Erwartungen geweckt, mit ihrer Hilfe finanzielle und zeitliche Engpässe bei der betrieblichen Weiterbildung zu entschärfen. Beide Faktoren gelten als gewichtige Gründe für Weiterbildungsattentismus. In Boomphasen, wenn die Arbeitskapazitäten voll ausgelastet sind, haben Betriebe Schwierigkeiten, Arbeitskräfte für Weiterbildung freizustellen. In rezessiven Phasen sieht es genau umgekehrt aus. Bei rückläufiger Auftragslage und sinkender Kapazitätsauslastung ist Zeitknappheit nicht mehr das Nadelöhr. Die Beschäftigten leisten weniger Überstunden und müssen teilweise sogar die Regelarbeitszeit reduzieren, um den Arbeitseinsatz an das verminderte Niveau bei Produktion und Dienstleistungserstellung anzupassen. Weiterbildungsaktivitäten scheitern dann häufig aber an der verschlechterten Finanzlage. Zeit- und Geldrestriktionen treten häufig asynchron auf. Als ein Weg aus dieser Zwickmühle werden Lernzeitkonten vorgeschlagen. Die Erwartung ist, dass ihre Einführung hilft, antizyklische Weiterbildung zu fördern. In auftragsstarken Zeiten mit prosperierender wirtschaftlicher Situation sollen, wenn auftragsbedingt länger gearbeitet wird, Zeitguthaben und entsprechende finanzielle Rücklagen gebildet werden, die in auftragsschwachen Phasen für Weiterbildungszeiten genutzt werden können.


Das Prinzip antizyklischer Weiterbildungssteuerung determiniert weder das Muster der Zeitaufbringung noch den Verwendungszweck. Handelt es sich um angesparte Zeitguthaben der Beschäftigten, also um geleistete Arbeit und damit um zurückgestellte Ansprüche der Beschäftigten an ihre Arbeitgeber, sollte auch die Verwendung der Guthaben in den Händen der Beschäftigten liegen und für von ihnen initiierte Weiterbildung dienen. Denkbar ist natürlich auch, dass sich Arbeitgeber an der Bildung von Zeitguthaben beteiligen und Zeit- oder Geldelemente einzahlen.


Grenzen für Lernzeitkonten

Eine möglichst flächendeckende Einführung von Lernzeitkonten stößt auf organisatorische und institutionelle Probleme. Erstens stehen nicht allen Beschäftigten die gleichen Quellen für Lernzeitkonten zur Verfügung. Welche Zeitquellen überhaupt in Frage kommen, hängt vom jeweiligen Modell des Lernzeitkontos und dessen Nutzungsmöglichkeiten ab. Lücken bestehen sowohl bei den Bildungsurlaubsgesetzen als auch bei den tariflich und betrieblich geregelten Weiterbildungsansprüchen. Zudem ist die Tarifbindung gerade in Klein- und Mittelbetrieben niedrig, wo aber gleichzeitig die Weiterbildungsbeteiligung gering ist.


Zweitens differieren, unabhängig von der Existenz von Arbeitszeit-, Langzeit- oder Lernzeitkonten, die Zeitsparpotenziale der Beschäftigten erheblich. Frauen - auch in Vollzeitbeschäftigung - arbeiten durchschnittlich kürzer als Männer, leiden wegen der Doppelbelastung durch Beruf und Familie stärker unter Zeitnot und dürften deshalb über weniger Spielraum verfügen, Lernzeitkonten zu bilden und sie für Weiterbildung (auch auf Basis des Time-sharing-Prinzips) zu nutzen. Eine geschickte Kombination von Modellen des Lernzeitkontos und des Bildungssparens könnte Schwächen in den beiden Ansätzen lindern.


Schließlich sind auch Vorbehalte auf Seiten der Beschäftigten gegenüber der Einführung von Lernzeitkonten zu beachten. Sie könnten an Gewicht verlieren, wenn die mit dem Flexi II-Gesetz eingeführten Verpflichtungen tatsächlich dazu führen, bislang teilweise noch fehlende Insolvenzsicherungen abzuschließen. Außerdem hat das erwähnte Gesetz die Möglichkeiten, erworbene Zeitguthaben bei Betriebswechsel transferieren zu können, verbessert. Diese Regelungen ließen sich ergänzen. Ein Gutscheinsystem könnte die Übertragbarkeit sicherstellen. Zeitguthaben lassen sich in Geldeinheiten konvertieren und sind dadurch übertragbar. Die Verwendung von Zeitguthaben oder quantifizierten Anteilen könnte zweckgebunden sein. Für eine (partielle) Zweckbindung spricht auch, dass bei optionalen Verwendungsmöglichkeiten von Zeitguthaben auf Langzeitkonten Beschäftigte mit steigendem Alter eher dazu neigen dürften, die Zeitguthaben für längere Auszeiten vor Renteneintritt und weniger für Weiterbildungszeiten zu nutzen. Ohne eine Zweckbindung von zumindest Teilen der Zeitguthaben würde aber das Ziel, Ältere stärker in Weiterbildung einzubeziehen, nur schwer zu realisieren sein. Außerdem könnten betriebliche und/oder öffentliche Förderungen einen zusätzlichen Anreiz bieten, Zeitguthaben für Weiterbildung zu nutzen. Drittens ist auf Seiten der Beschäftigten mit steigender Akzeptanz zu rechnen, wenn Lernzeitkonten, die auf dem Prinzip des Time-sharing basieren, Ansprüche auf selbst gewählte Weiterbildung bieten und Betriebe sich an den (direkten) Kosten beteiligen würden.


Lernzeitkonten stellen sicherlich nur einen Ansatz im Rahmen der insgesamt in der weiterbildungspolitischen Diskussion vorgeschlagenen Finanzierungsmodelle dar. Sie können andere Ansätze ergänzen. Ohnehin erscheint keiner der zurzeit diskutierten und erprobten Ansätze zur Förderung der beruflichen Weiterbildung frei von Schwächen. Bildungssparen dürfte den wachsenden Kreis der Niedriglohnbezieher überfordern, zumal ihnen im Bereich der Sozialversicherungen ebenfalls eine nur schwer zu erfüllende vermehrte Eigenverantwortung abgefordert wird. Tarifliche Fondsregelungen, wie sie in einigen kleineren Bereichen bereits existieren, würden selbst bei einer alle Tarifbereiche umfassenden Einführung wegen der schrumpfenden Tarifbindung wachsende Teile der Beschäftigten aussparen. Angesichts einer kurzfristig nicht zu erwartenden generellen gesetzlichen Regelung der beruflichen Weiterbildung bleibt also letztlich nur, die verschiedenen Ansätze so auszubauen, dass sie sich zu einem möglichst konsistenten Regelwerk zusammenfügen.


Dr. Hartmut Seifert, ehemals Leiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung, lebt und arbeitet als Ruheständler in Düsseldorf


Literatur

Vgl. Wolfram Brehmer, Hartmut Seifert: Sind atypische Beschäftigungsverhältnisse prekär? Eine empirische Analyse sozialer Risiken, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, Jg. 37, Heft 4/2008.

Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf einer Auswertung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen zur beruflichen Weiterbildung. Vgl. Gerd Busse, Hartmut Seifert: Tarifliche und betriebliche Regelungen zur beruflichen Weiterbildung, Edition Hans-Böckler-Stiftung 233, Düsseldorf 2009.

Vgl. Reinhard Bispinck, WSI-Tarifarchiv: Qualifizierung und Weiterbildung in Tarifverträgen. Elemente qualitativer Tarifpolitik Nr. 42, Düsseldorf 2000.

Der Bildungsbeitrag beträgt 12,50 Euro pro Jahr und pro Beschäftigten, für den ein Urlaubsgeld gezahlt wird.

Vgl. Rolf Dobischat, Hartmut Seifert: Betriebliche Weiterbildung und Arbeitszeitkonten, in: WSI-Mitteilungen, 54, 2001, S. 92-101


*


Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2009, Heft 171, Seite 31-38
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
Abo-/Verlagsadresse:
spw-Verlag / Redaktion GmbH
Postfach 12 03 33, 44293 Dortmund
Telefon 0231/202 00 11, Telefax 0231/202 00 24
E-Mail: spw-verlag@spw.de
Internet: www.spw.de
Redaktionsadresse:
Müllerstraße 163, 13353 Berlin
Telefon: 030/469 22 35, Telefax 030/469 22 37
E-Mail: redaktion@spw.de
Internet: www.spw.de

Die spw erscheint mit 7 Heften im Jahr.
Einzelheft: Euro 5,-
Jahresabonnement Euro 39,-


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2009