Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → BRENNPUNKT

WESTSAHARA/003: Bericht - Schläge, Mißbräuche durch marokkanische Sicherheitskräfte (HRW)


Human Rights Watch - 26. November 2010

Westsahara: Schläge, Mißbräuche durch marokkanische Sicherheitskräfte

Beantwortung von Unruhen mit Gewalt untersuchen


Die Sicherheitskräfte haben das Recht, verhältnismäßige Gewalt einzusetzen, um Gewalttaten zu verhindern und Menschenleben zu schützen. Es ist jedoch durch nichts zu rechtfertigen, daß Menschen in Haft bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen werden.

Sarah Leah Whitson, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika


(New York) - Marokkanische Sicherheitskräfte haben Menschen, die sie nach dem am 8. November verübten Überfall auf das Lager Gdeim Izik in der Nähe der besetzten Stadt El-Aaiun festgenommen hatten, wiederholt geschlagen und mißhandelt, berichtete heute Human Rights Watch. Eine Untersuchung von Human Rights Watch ergab zudem, daß Sicherheitskräfte auch direkt Zivilisten angegriffen haben. Human Rights Watch erklärte: Die marokkanischen Behörden müssen die Mißhandlung der Inhaftierten unverzüglich einstellen und eine unabhängige Untersuchung der Verstöße durchführen.

Am frühen Morgen des 8. November setzten sich marokkanische Sicherheitskräfte in Bewegung, um das Zeltlager von Gdeim Izik zu räumen - rund 6.500 Zelte, die Saharauis Anfang Oktober errichtet hatten, um gegen die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen sie in der von Marokko kontrollierten Westsahara leben, zu protestieren. Das löste gewalttätige Konfrontationen zwischen Anwohnern und Sicherheitskräften sowohl im Lager als auch in der nahegelegenen Stadt El-Aaiun aus. Nach offiziellen Angaben wurden elf Sicherheitsbeamte und mindestens zwei Zivilisten getötet. Viele öffentliche und private Gebäude sowie Fahrzeuge brannten in der Stadt nieder.

"Die Sicherheitskräfte haben das Recht, verhältnismäßige Gewalt einzusetzen, um Gewalttaten zu verhindern und Menschenleben zu schützen. Es ist jedoch durch nichts zu rechtfertigen, daß Menschen in Haft bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen werden", erklärte Sarah Leah Whitson, Human Rights Watch-Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika.

Im Anschluß an die ursprünglichen gewalttätigen Zusammenstöße, nahmen marokkanische Sicherheitskräfte und marokkanische Zivilisten an Vergeltungsangriffen auf Zivilisten und Wohnungen teil und hinderten verwundete Saharauis daran, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Dieses Vorgehen sowie das Prügeln von Menschen in Haft sind nicht als legitime Gewalt zu sehen, die zur Verhinderung oder Beendigung der Gewalttaten einiger Demonstranten - wie das Werfen von Steinen oder Brandstiftung - eingesetzt wird, erklärte Human Rights Watch.

Im Zuge des Gewaltausbruchs am 8. November nahmen die marokkanischen Sicherheitskräfte hunderte Saharauis in Zusammenhang mit den Unruhen fest, von denen sich noch über 100 in Haft befinden. Weitere neun wurden nach Rabat überführt, wo ein Militärgericht gegen sie ermittelt, berichteten saharauische Menschenrechtsanwälte Human Rights Watch in El-Aaiun.

Beschränkter Zugang zu Informationen

Nach der Auflösung des Zeltlagers schränkten die marokkanischen Behörden den Zugang nach El-Aaiun erheblich ein und erlaubten nur wenigen Journalisten oder Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, in die Stadt zu fahren und wiesen viele ab, die es versuchten. Ein Human Rights Watch-Forscher wurde am 11. November zweimal daran gehindert, einen Flug nach El-Aaiun anzutreten und flog schließlich am 12. November dorthin. Der Wissenschaftler und der in El-Aaiun ansässige wissenschaftliche Assistent konnten in der Zeit vom 12. bis zum 16. November mit verletzten Zivilisten und Polizeibeamten im Krankenhaus und zuhause sprechen. Sie trafen sich auch mit Mohamed Jelmous, dem Gouverneur der Region El-Aaiun-Bujdur-Saguia El-Hamra.

"Wir sind froh, daß Marokko seinen Kurs geändert und es Human Rights Watch erlaubt hat, in El-Aaiun eine Untersuchung durchzuführen", meinte Whitson. "Aber eine Regierung die immer wieder betont, daß sie nicht zu verbergen hat, sollte das beweisen, indem sie allen Medien und Nichtregierungsorganisationen erlaubt, ungehindert anzureisen und Informationen zu sammeln."

Überblick

Human Rights Watch hat sich mit seiner Untersuchung auf die Menschenrechtsverletzungen nach der Räumung des Lagers Gdeim Izik konzentriert - nicht auf die Art des Protests im Lager, die Entscheidung, dieses zu schließen oder auf die Art und Weise, wie es aufgelöst wurde.

Human Rights Watch verfügt nicht über eigene Zahlen der bei den Ereignissen getöteten Zivilisten oder Mitglieder der Sicherheitskräfte. Nach Angaben der marokkanischen Behörden wurden neun Mitglieder der Sicherheitskräfte während der Operation im Lager Gdeim Izik am Morgen des 8. November getötet, und ein weiterer starb später am selben Tag bei den Unruhen in El-Aaiun. Der elfte starb am 17. November an Verletzungen, die er während der Unruhen erlitten hatte. Ein Zivilist starb an den Wunden, die er während des Einsatzes der Sicherheitskräfte in Gdeim Izik erlitt, ein zweiter, nachdem ihn während der Unruhen in El-Aaiun ein Fahrzeug angefahren hatte. Der Staatsanwalt ordnete im letzteren Falle eine gerichtliche Untersuchung an, verlautete eine Erklärung der Regierung.

Am 18. November setzte Human Rights Watch Mitarbeiter des Innenministeriums in Rabat über seine Beweise in Kenntnis, daß die Sicherheitskräfte in der Stadt El-Aaiun das Feuer eröffnet und Zivilisten verletzt hätten, und berichtete über weitere gewaltsame Übergriffe von Mitgliedern der Sicherheitskräfte auf sowohl in Freiheit als auch in Haft befindliche Saharauis. Am Tag darauf veröffentlichten die marokkanischen Behörden erneut ein Dementi und teilten Human Wrights Watch schriftlich mit, "die Operationen der Sicherheitskräfte sowohl bei der Auflösung des Lagers Gdeim Izik als auch ihre Operationen in El-Aaiun erfolgten in Übereinstimmung mit den geltenden Rechtsvorschriften, mit absolutem Respekt für das, was von einem Staat zu erwarten ist, der das Recht achtet, und ohne daß ein einziger Schuß abgefeuert wurde." In dem Schreiben hieß es zudem: "Die marokkanischen Behörden sind bereit, Ermittlungen einzuleiten und die notwendigen forensischen Untersuchungen durchzuführen, um die Basis dieser Anschuldigungen vollständig aufzuklären. Darüber hinaus steht es den Personen, die angeben, unter Gewalt gelitten zu haben - seien sie in Haft oder nicht - völlig frei, selbst vor Gericht zu gehen und zu klagen, um den Wahrheitsgehalt ihrer Angaben zu beweisen."

Am 20. November ließ die Regierung verlauten, daß der Staatsanwalt am Berufungsgericht in El-Aaiun auf der Grundlage des Human Rights Watch-Berichts eine Untersuchung der "Anschuldigungen von Personen, die" während der Unruhen in El-Aaiun "durch Kugeln verletzt wurden", eröffnet habe.

Human Rights Watch beabsichtigt, jede offizielle Untersuchung sowie die Behandlung von Gewaltopfern, die eine Klage einreichen, zu beobachten.

Die an den Ereignissen beteiligten Sicherheitskräfte stammten aus unterschiedlichen Einheiten. Laut einer Erklärung des Innenministeriums bestanden die Truppen, die im Lager zum Einsatz kamen, aus Gendarmen und Bereitschaftskräften. Die in El-Aaiun eingesetzten Einheiten bestanden aus regulären Polizeikräften, einem Sonderkommmando zur Aufstandsbekämpfung (schnelle Eingreiftruppe oder GIR) und den Bereitschaftskräften. Letztere unterstützen die anderen Sicherheitseinheiten als Hilfstruppe und gehören nicht zum Innenministerium.

Die Untersuchungsmission von Human Rights Watch ergab die folgenden möglichen Mißbräuche durch die Sicherheitskräfte. Einige Menschen, mit denen Human Rights Watch sprach, erlaubten ihre Namen zu nennen, während andere die Wissenschaftler aus Furcht vor Repressalien baten, ihre Namen geheimzuhalten.

Mißhandlungen im Gefängnis

Human Rights sprach mit sieben Saharauis, die nach dem Gewaltausbruch am 8. November verhaftet und später freigelassen worden waren. Alle gaben an, daß die Polizei oder Gendarmerie sie während der Haft mißhandelt hätte. In einigen Fällen hieß das: Sie wurden bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen, mit Urin übergossen oder mit Vergewaltigung bedroht. Anwälte, die in Haft Verbliebene vertreten, erzählten Human Rights Watch, daß mindestens eine internierte Person erklärt habe, man habe sie während der Haft vergewaltigt, während andere dem Ermittlungsrichter und Staatsanwalt von Schlägen und weiteren Mißhandlungen berichteten, die sie in der Haft erlitten hätten.

Die Zeugen, die von Human Rights Watch befragt wurden, wiesen erhebliche Blutergüsse und weitere frische Verletzungen auf, die nahelegten, daß man sie im Gefängnis geschlagen hatte.

Familienmitglieder Inhaftierter erzählten Human Rights Watch, die marokkanischen Behörden hätten sie über Tage hinweg nicht von den Verhaftungen in Kenntnis gesetzt. Bis zum 23. November hatten ihnen die Behörden noch nicht gestattet, gefangengehaltene Verwandte zu besuchen, die bis zu zwei Wochen zuvor verhaftet worden waren, während Rechtsverteidiger sie an jenem Tag erstmals hatten besuchen können. Diese Verzögerungen machten es vielen Familien schwer, den Aufenthaltsort vermißter Personen schnell zu ermitteln oder Informationen über ihre Behandlung in der Haft zu erhalten.

Human Rights Watch forderte von den Behörden, unverzüglich die nächsten Verwandten jeder inhaftierten Person zu informieren, wie von Artikel 67 des marokkanischen Strafrechts vorgesehen.

Gegen die Saharauis im Gefängnis von El-Aaiun wurde u.a. wegen des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Bande zum Zwecke der Begehung von Straftaten gegen Personen und Eigentum, des Waffenbesitzes, der Zerstörung öffentlichen Eigentums und der Teilnahme an Geiselnahme und Isolierung von Personen, der Inbrandsetzung von Gebäuden, der Gewalt gegen Mitglieder der Ordnungskräfte mit Verletzungs- und Todesfolge und der Versammlung unter Waffen ermittelt.

Ahmed Jadahlou Salem, 34, berichtete Human Rights Watch, er sei nach langer Fahrt von Spanien aus am Abend des 7. November im Protestlager Gdeim Izik angekommen. Am Morgen der Räumung, erzählte er, hätten ihn Gendarmen im Camp gefangengenommen, mit Handschellen gefesselt, dann geschlagen und mit Stiefeln getreten, bis er das Bewußtsein verlor. Als er wieder zu sich kam, traten ihm die Gendarmen wieder mehrmals in die Brust und warfen ihn hinten in einen Transporter:

Rund 30 oder 40 von uns wurden hinten im Transporter der Gendarmen gesammelt. Allen waren die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Sie haben uns einfach wie Vieh in den Wagen geworfen; einige von uns hatten Kopfwunden, und wir alle bluteten. Wir lagen übereinander, und sie ließen uns ein oder zwei Stunden lang so und befahlen uns, die Köpfe unten zu halten.

Jadahlou erzählte, daß die Männer an den Füßen herausgezerrt wurden, als der Transporter El-Aaiun erreicht hatte, und in die Gendarmerie laufen mußten, während sie mit Fäusten geschlagen und mit Füßen auf sie eingetreten wurde. Sie wurden in einem Raum gefangengehalten, erklärte er, in dem sich am 9. November 72 männliche Gefangene befanden. Jadahlou beschrieb Human Rights Watch, wie jede Person einzeln aus dem gemeinsamen Raum zum Verhör gerufen wurde und erklärte, er sei auf dem Weg dorthin von Männern getreten und geschlagen worden.

Im Verhörraum befanden sich etwa sechs Gendarmen, aber ständig kamen und gingen weitere. Es gab keinen Stuhl in dem Raum, auf dem man sitzen konnte, und jede Frage kam mit einem Tritt oder einem Hieb. Sie stellten viele Fragen: Was ich in dem Lager machte, warum wir einen eigenen Staat wollten. Sie haben mich nach vielen Personen gefragt, deren Namen sie nannten. Sie haben gedroht, mich dort zu vergewaltigen.

Jadahlou berichtete, die Gendarmen hätten die Gefangenen mit Urin übergossen. Sie gaben ihnen bis zum Abend des 10. November - 36 bis 60 Stunden nachdem man die Männer verhaftet hatte - nichts zu essen. Nachts gossen die Gendarmen Wasser auf den Boden der Zelle, um ihren Schlaf zu unterbrechen. Die Polizei entließ Jadahlou an 12. November ohne Anklage.

Laassiri Salek, 38, ein zweiter entlassener Gefangener, berichtete Human Rights Watch, daß die Polizei ihn am 9. November um die Mittagszeit herum in seiner Wohnung im Viertel Columina Nueva verhaftet hatte. Er meinte zu Human Rights Watch: Obwohl sie ihn mit Handschellen gefesselt und ihm die Augen verbunden hätten, sei er ziemlich sicher, daß man ihn zur zentralen Polizeistation gebracht habe. Dort, so sagte er, sei er fünf Stunden lang mit Holzstöcken und Gummiknüppeln traktiert worden, wobei er zweimal das Bewußtsein verloren habe. Die Polizei hätte ihn mit Wasser übergossen, um ihn wieder zu sich zu bringen. Er konnte andere Gefangene in der Nähe vor Schmerzen schreien hören, erklärte er. Nach der langen Prügelsequenz, in der verschiedene Polizeibeamte kamen und gingen, wurde er zum Verhör geführt, wo man ihn, berichtete er, weiter mit dem Knüppel auf Kopf, Rücken und in die Nierengegend schlug.

Salek erzählte Human Rights Watch, daß die Polizei Gefangene dazu gezwungen hätte, die marokkanische Nationalhymne zu singen, und auf sie einhieb, wenn sie den Text nicht kannten. Die Polizei übergoß sie mit Wasser und gab ihnen die ersten zwei Tage nichts zu essen. Am Abend des 10. November, so berichtete er, hätte die Polizei den Gefangenen befohlen, sich mit noch immer verbundenen Augen in einer Reihe aufzustellen, dann hätten die Beamten Anlauf genommen und sie hart mit Stiefeln getreten. Salek verlor von neuem das Bewußtsein. Als die Polizei ihn am folgenden Tag entließ, war er nicht in der Lage zu laufen und mußte auf einem Stuhl aus der Station getragen und mit dem Taxi nach Hause gebracht werden. Als Human Rights Watch fünf Tage nach seiner Freilassung am 16. November mit ihm sprach, saß er noch immer im Rollstuhl.

Leila Leili, eine 36jährige saharauische Aktivistin wurde am 9. November vor ihrem Elternhaus in der Nähe der Smara Avenue im Viertel Lacheicha verhaftet, nachdem die Polizei in ihrer Tasche einen von ihr verfaßten Essay über die Ereignisse des vorangegangenen Tages gefunden hatte. Sie berichtete Human Rights Watch, daß die Polizeibeamten sie zunächst in ein nahegelegenes Privathaus gebracht hätten, wo ein Polizist sie mit der Faust ins Gesicht schlug. Sie wurde mehrere Stunden dort festgehalten und dann in die zentrale Polizeistation überführt. Dort beschwerte sie sich bei den Beamten, daß die Polizisten, die sie verhaftet hätten, mehrere mit Messern bewaffnete Marokkaner unbehelligt ließen, während sie alle saharauischen Zivilisten, die sie anhielten, inhaftiert hätten.

Aufgrund dessen [der Beschwerde] fingen sie an, mich mit dem Stock auf Kopf und Rücken zu schlagen und traten auch nach mir. Ich weiß nicht, wieviele es waren, weil man mir die Augen verbunden hatte. Sie befahlen mir, pro-marokkanische Slogans wie "Lang lebe der König!" zu rufen und zu sagen, ich sei Marokkanerin. Ich erklärte ihnen, ich würde ihren König und das marokkanische Volk achten, aber ich sei nicht Marokkanerin. Es gab noch andere im Raum, die man schlug und zwang, die gleichen Dinge zu sagen.

Leili wurde dann einem langen Verhör über ihre Arbeit als Aktivistin, ihre Reisen nach Algerien und Spanien, die Arbeit ihrer Vereinigung und deren Mitgliedschaft unterzogen. Im Anschluß an das Verhör setzte man sie in den Flur der Polizeistation, und sie wurde regelmäßig von den vorbeigehenden Polizeibeamten getreten und geschlagen. Sie erklärte Human Rights Watch:

Sie steckten mich in den Flur, und jeder, der vorbeikam, schlug mich. Sie fragten dann "Was macht sie denn hier?" und ein anderer antwortete: "Sie sagt, sie ist nicht Marokkanerin" und dann traten sie nach mir oder schlugen mich.

Überfälle auf saharauische Wohnungen

Human Rights Watch besuchte die Stadtteile Haï Essalam und Colomina Nueva, in denen am 8. und 9. November zahlreiche saharauische Häuser von Trupps aus Mitgliedern der Sicherheitskräfte und Menschen in Straßenkleidung überfallen worden waren; bei letzteren schien es sich den Aussagen der Bewohner nach zum Teil um marokkanische Zivilisten zu handeln. Die Befragten schilderten, daß die Angreifer Anwohner in deren eigenem Haus geschlagen und Eigentum zerstört hätten. Die Behörden haben Berichten zufolge Schritte unternommen, Hauseigner für entstandene Schäden zu entschädigen, bislang jedoch - soweit Human Rights Watch feststellen konnte - keine Verhaftungen oder Anklagen gegen an der Gewalt beteiligte marokkanische Zivilisten verlautbart.

Ein 30jähriger Bewohner des Viertels Columina Nueva beschrieb, wie eine Gruppe morokkanischer Zivilisten sich am 8. November um etwa 15 Uhr in der Nähe der Moulay Ismaïl Street vor seinem Haus versammelte. Die Marokkaner wurden von Polizisten in Zivil - erkennbar an den Schutzwesten, die sie trugen - und mit Tränengas und Handfeuerwaffen ausgestatteten Polizisten begleitet. Die Zivilpersonen brachen in sein Haus ein, und hieben ihm mit einer Machete auf den Kopf, wodurch er bewußtlos wurde und eine tief klaffende Wunde davontrug. Sein Bruder mußte zusehen, wie die Zivilisten sein Haus durchwühlten, Fernseher, Küchengeräte und viele weitere wertvolle Gegenstände stahlen sowie Fenster und Möbel zerschlugen.

Rund ein Dutzend saharauische Häuser in und in der Nähe der Moulay Ismaïl Street wurden überfallen und beschädigt. Am 8. November um 10.30 Uhr drang zwei Häuserblocks weiter eine Gruppe von etwa 40 Soldaten und Polizisten in das Haus zweier älterer Frauen ein. Die Frauen berichteten, daß die Eindringlinge im Haus mit Plastikschrotmunition aus ihren Flinten um sich schossen, der Familie befahlen, das Haus zu verlassen und einen Computer sowie Schmuck stahlen.

Bei einem der Überfälle drang am 8. November um 13.30 Uhr eine Gruppe marokkanischer Zivilisten und Polizisten in ein saharauisches Haus ein, in dem die Polizei eine Gruppe von sieben unbewaffneten saharauischen Männern entdeckte, die sich in einem kleinen Raum unter dem Dach versteckt hielten. Vier der Männer, mit denen Human Rights Watch am 16. November sprach, sagten aus, die Polizei habe sie angegriffen, einen von ihnen mit scharfer Munition aus einer Kleinkaliberwaffe in den linken Unterschenkel getroffen, mit ihren Flinten Plastikschrotgeschosse auf die Gruppe abgefeuert, die oberflächliche Wunden verursachten, und mit einem schweren Butangaskanister und Stöcken heftig auf sie eingeprügelt. Einer der Männer, ein 28jähriger, der acht Tage später erklärte, er sei aufgrund der harten Schläge noch immer nicht in der Lage, seinen rechten Arm zu bewegen, rekapitulierte den Überfall:

Die Polizei brach bewaffnet ins Haus ein und trat dann die Tür zu dem Raum ein, in dem wir uns versteckten. Ein Polizist schlug mich mit einem Butangaskanister. Er hob ihn über den Kopf und warf damit nach mir, erst auf den Arm und dann auf den Fuß. Er fluchte über uns mit den Worten: "Ihr seid alle Polisario." Dann prügelten sie mit Stöcken auf uns ein und feuerten ihre Waffen auf uns ab. Sie zwangen uns, das Gesicht zur Wand zu drehen, und fuhren fort uns zu schlagen. Wir waren sieben [Zivilisten], und es waren ungefähr neun Polizisten.

Die Polizei nahm die Männer in die Mitte und führte sie nach unten. Auf dem Weg hinunter wurden sie von einigen der marokkanischen Zivilisten, die ins Haus eingedrungen waren, geschlagen, erzählten sie später Human Rights Watch. Man verfrachtete sie in ein Auto und brachte sie in das regionale Polizeihauptquartier (Préfecture de la Sûreté Nationale), wo sie zwei Tage lang festgehalten wurden und dann ohne Anklage freigelassen.

Als Human Rights Watch sich am 16. November den Raum auf dem Dachboden ansah, waren Fußboden und Wände blutverschmiert. Die Männer zeigten den Forschern Patronenhülsen, die aus Pistolen und von Plastikschrotmunition stammten, die laut Angaben der Männer nach dem Polizeiübergriff auf dem Fußboden unter dem Dach zurückgeblieben waren.

Anwohner einiger Straßen, in denen am 8. und am 9. November Häuser beschädigt worden waren, erzählten, daß Beamte des Innenministeriums später in der Woche vorbeigekommen seien, um die Zahlung von Entschädigungen zu vereinbaren. Auch Gouverneur Mohamed Jelmous erklärte Human Rights Watch gegenüber, daß Hauseigner entschädigt würden.

Die Polizei verhinderte fast den ganzen 8. November über den Zugang zum zentralen zivilen Krankenhaus in El-Aaiun. Mehr als einer der Zeugen, die wir befragten, berichtete, sie hätten in einigen Fällen saharauische Zivilisten angriffen, die ihre Verletzungen behandeln lassen wollten. Ein Mitarbeiter des Krankenhauses erzählte Human Rights Watch, er habe einen Übergriff beobachtet, bei dem die Polizei die Fenster eines Taxis einschlug, das vor dem Krankenhaus vorgefahren war und drei verwundete Saharauis transportierte, und sowohl auf die verwundeten Männer als auch den Taxifahrer einhieb, bevor sie den Taxifahrer gehen ließ und die drei Fahrgäste verhaftete. Mehrere Saharauis, die geschlagen worden waren, erklärten, sie seien aus Angst vor der Polizei dort nicht zur Behandlung ins Krankenhaus gegangen.

Polizei überfällt Human Rights-Forscher auf der Straße

Die Polizei hat Brahim Alansari, den in El-Aaiun ansässigen wissenschaftlichen Assistenten von Human Rights Watch in Begleitung von John Thorne, des in Rabat ansässigen Korrespondenten der englischsprachigen Tageszeitung 'The National' aus Abu Dhabi, in El-Aaiun auf der Straße überfallen. Am 8. November um etwa 9 Uhr - zur gleichen Zeit, als die Protestierenden Steine warfen und Sicherheitspolizei auf der Straße aufzog - hielt die Polizei die zwei Männer in einer Seitenstraße hinter dem Negjir Hotel in der Innenstadt von El-Aaiun an und forderte Auskunft über das, was sie dort wollten. Nachdem Alansari und Thorne ihnen Namen und Beruf genannt hatten, trennte die Polizei die beiden Männer. Alansari beschrieb, was als nächstes geschah:

Polizisten umringten mich und fingen an, mich zu treten und mit Stöcken und bloßen Händen auf mich einzuschlagen. Sie fragen nach meiner Nationalität. Als ich mich weigerte zu antworten, schienen sie verärgert zu sein und begannen wieder mich zu schlagen. Dann kam ein Polizist, der einen höherem Rang hatte, und befahl mir, zu antworten. Ich sagte, ich könne nicht reden, während ich geschlagen würde. Er befahl den anderen nicht, damit aufzuhören mich zu schlagen...

Einer der Polizisten brachte mich zu John [Thorne], den man auf einen Stuhl gesetzt hatte. Der Polizist zwang mich mit den Worten 'ich sei ein Hund und das sei mein Platz' dazu, mich neben ihn auf den Boden zu setzen. Nach etwa zehn bis zwanzig Minuten kamen ein paar Polizisten auf Herrn Thorne zu und wiesen ihn an, in sein Hotel zurückzukehren und nicht zu arbeiten. Dann erklärten mir die Männer in Zivilkleidung, ich solle Herrn Thorne weder begleiten noch ihn irgendwohin bringen, sondern stattdessen nach Hause fahren und Ärger aus dem Weg gehen. Sie gaben mir mein Handy und meinen Ausweis zurück und gaben John den Paß wieder, und wir beide gingen.

Thorne berichtete Human Rights Watch, daß er von dem Platz aus, auf den er sich hatte setzen müssen, die Schläge aus einer Entfernung von etwa 15 Fuß (*) hatte beobachten können:

Rund ein Dutzend Polizisten - einige in grünen Trainingsanzügen, andere in blauer Kampfmontur - umringten Brahim und fingen an, ihn zu schlagen. Ich konnte nicht erkennen, wieviele Polizisten auf ihn einprügelten, aber ich konnte sehen, daß er minutenlang mindestens zwanzigmal mit Händen und Stöcken geschlagen wurde. Dann zwangen sie ihn, sich neben mich zu setzen.

Human Rights Watch übersendete den marokkanischen Behörden am 23. November einen Brief, der diesen Vorfall beschreibt und eine entsprechende Untersuchung fordert. Am 24. November antwortete das Innenministerium, es habe eine verwaltungsinterne Untersuchung eröffnet, und das Außenministerium habe das Büro des Staatsanwalts in El-Aaiun ersucht, gerichtliche Ermittlungen durchzuführen. Human Rights Watch beabsichtigt, über den Ausgang dieser Untersuchungen zu berichten.

Hintergrund

Der derzeitige Konflikt in Westsahara geht auf das Jahr 1975 zurück, als sich die frühere Kolonialmacht Spanien zurückzog und Marokko an ihrer Stelle die Kontrolle über das wenig besiedelte Wüstenterritorium an sich riß. Marokko beansprucht seitdem die Hoheit über das Gebiet und verwaltet Westsahara, als sei es ein Teil Marokkos, obwohl die UNO den Hoheitsanspruch nicht anerkennt und Westsahara als "nicht-selbstregiertes Territorium" klassifiziert. Die Frente Polisario, die Unabhängigkeitsbewegung Westsaharas, führte bis 1991 Krieg gegen Marokko, bis die UNO mit dem Versprechen einhergehend, ein Selbstbestimmungreferendum für die Bevölkerung Westsaharas zu organisieren, einen Waffenstillstand aushandelte.

Das Referendum hat aufgrund der Einwände Marokkos, das die Unabhängigkeit als Option zurückweist und stattdessen vorschlägt, Westsahara ein gewisses Maß an Autonomie unter marokkanischer Herrschaft zu gewähren, nicht stattgefunden. Die Polisario besteht nach wie vor auf einem Referendum, das die Unabhängigkeit als Möglichkeit mit einschließt. Verhandlungen zur Überbrückung dieser Kluft sind bislang fruchtlos verlaufen. Mittlerweile sind unzählige Marokkaner in den Süden gezogen und haben sich in Westsahara niedergelassen, wo sie jetzt den in der Region einheimischen Saharauis der Zahl nach überlegen sind.

Unter marokkanischer Herrschaft wird das Eintreten für die Unabhängigkeit als "Angriff auf die territoriale Unverletzlichkeit angesehen", die dem Gesetz nach strafbar ist. Nicht alle Aktionen im Namen der Unabhängigkeit in Westsahara verlaufen gewaltfrei - während der jüngsten Auseinandersetzungen haben in einigen Fällen Jugendliche Steinen und Gasbomben geworfen und Eigentum zerstört - doch auch friedliche Proteste werden von den Sicherheitskräften systematisch unterdrückt, und gewaltfreie Aktivisten erwartet ein unfaires Verfahren und eine Gefängnisstrafe.


Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

(*) 1 foot entspricht üblicherweise 30,48 cm, d.h. hier sind es etwa 46 Meter

Englischer Originaltext:
http://www.hrw.org/en/news/2010/11/26/western-sahara-beatings-abuse-moroccan-security-forces


*


Quelle:
HRW-Bericht vom 26. November 2010
Human Rights Watch
350 Fifth Avenue, 34th Floor
New York, NY 10118-3299, USA
Tel: 1-(212) 290-4700
Kontakt in Deutschland:
Poststraße 4-5, 10178 Berlin
Tel.: +49-30-259306-10, Fax: +49-30-259306-29
Internet: www.hrw.org
mit freundlicher Genehmigung von Human Rights Watch
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2010