Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → ERNÄHRUNG

HUNGER/233: Indien - Getreideberge verfaulen im Regen und die Armen hungern (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. September 2010

Indien: Getreideberge verfaulen im Regen - Und die Armen hungern

Von Ranjit Devraj


Neu-Delhi, 16. September (IPS) - In Indien liegen tausende Tonnen Getreide im Regen und verrotten, weil es nicht genug Speicherplatz gibt. Die logische Konsequenz wäre, das Korn kostenlos an die Armen zu verteilen, wie dies bereits das Oberste Gericht gefordert hat. Doch statt dem Urteil Folge zu leisten, verbat sich Ministerpräsident Manmohan Singh jede "Einmischung" in seine Agrarpolitik, die Experten als inkompetent und offen für Korruption attackieren.

Erst kürzlich hatten die Vereinten Nationen in einem Bericht darauf hingewiesen, dass die Hälfte aller hungernden Menschen in Indien leben. Laut dem globalen Hunger-Index 2008 des 'Food Policy Research Institute' wissen schätzungsweise 350 Millionen Inder nicht, wo sie ihre nächste Mahlzeit herbekommen sollen.

Die Expertin für Nahrungssicherheit Vandana Shiva würdigte die Gerichtsentscheidung als Bestätigung des Grundrechts auf Leben, das auch die indische Verfassung festschreibt. "Das Recht auf Nahrung ist zentraler Bestandteil des Rechts auf Leben, denn ohne Nahrung kann niemand überleben", erklärte sie und wies darauf hin, dass Artikel 21 der Verfassung die Regierung verpflichtet, das Leben aller indischen Staatsbürger zu schützen. "Der oberste Gerichtshof wiederum hat die Pflicht, die Regierung dabei zu überwachen. Regierungspolitik darf nicht gegen Grundrechte verstoßen."

Shiva sieht die Regierung in einer Zwickmühle, die sie "mit ihrer neoliberalen fundamentalistischen Markt-Ideologie selbst geschaffen hat, weil jeder Bereich des Lebens zur Ware erklärt, privatisiert und in Wirtschaftspolitik umgesetzt wird". Die Verteilung der Überschüsse werde den Bauern nicht schaden. "Wenn die Speicher jetzt schon nichts mehr aufnehmen können, wie will die Regierung dann die nächste Ernte abnehmen, die schon Ende September beginnt?", so ihre rhetorische Frage.

Eine Option wäre der Bau größerer Speicher durch die öffentliche Hand. Private Investitionen haben Richter bereits verboten, weil sie es als erwiesen ansahen, dass privatwirtschaftliche Betriebe subventioniertes Getreide im großen Stil auf den Markt gebracht haben.


Korn für die Ratten

Die staatlichen Speicher haben gegenwärtig eine Kapazität von 15 Millionen Tonnen, weitere zehn Millionen sind in angemieteten Lagerhallen untergebracht. Aufgekauft wurden aber 2008/2009 55 Millionen Tonnen. Das Korn musste im Freien gelagert werden, ungeschützt gegen Regen und Ungeziefer. "Lebensmittelsicherheit für die Ratten" nannte es ein Oppositionspolitiker.

Könnte das zentralistische System der garantierten Ernteabnahme Schuld sein? Der Ernährungs- und Handelsexperte Devinder Sharma sieht es so. "Wir brauchen ein System lokaler Produktion und Lagerung, von der Dorf- hinauf zur staatlichen Ebene. Nur so lassen sich Lebensmittelversorgung und faire Erzeugerpreise sicherstellen." In einem Land von der Größe Indiens könne ein zentralistisches Landwirtschaftssystem nur zu massiven Verlusten, Marktmanipulationen und Verschwendung führen, die jetzt endemisch und schier unlösbar seien.


Kostenlos als Ausnahme

Kostenlose Ausgabe der Überschüsse an die Armen befürwortet aber auch Sharma nicht grundsätzlich. Das könne nur eine einmalige Aktion sein, um die momentane Krise zu bewältigen. Sie müsse darüber hinaus auf die 150 ärmsten Bezirke beschränkt sein. "Kostenlose Abgabe würde politische Probleme mit sich bringen. Jeder Politiker würde versuchen, Bestände für seinen Bundesstaat oder gar Wahlkreis zu reservieren."

Es bestünde sogar die Gefahr, dass das ausgegebene Getreide in großem Umfang wieder auf den Markt komme, sagte Sharma. Das indische System sei voller immanenter Probleme, die groß angelegte Manipulationen ermöglichten.

2006 stand die Regierung mit ihrer Landwirtschaftspolitik schon einmal in der Kritik, weil sie 5,5 Millionen Tonnen Weizen aus Australien zu Preisen importierte, die über den an die eigenen Bauern gezahlten lagen. Wenig später kaufte Australien Getreide direkt von indischen Bauern zu deutlich niedrigeren Preisen.

Derartige Fehler würden immer noch gemacht, kritisierte Sharma. "Zum Beispiel hätte nichts die Regierung daran gehindert, Bestände zu verkaufen und die Speicher zu leeren, als die Lebensmittelpreise dieses Jahr deutlich anzogen. Aber es scheint niemand für ein derartig gravierendes Missmanagement verantwortlich zu sein." (Ende/IPS/sv2010)


Links:
http://www.ifpri.org/publication/challenge-hunger-2008
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=52804

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 16. September 2010
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2010