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ASYL/1122: Die Einstufung nach »Bleibeperspektive« ist bewusste Integrationsverhinderung (Pro Asyl)


Pro Asyl - 14. Januar 2017

Die Einstufung nach »Bleibeperspektive« ist bewusste Integrationsverhinderung


Zugang zu Integrationskursen während des laufenden Asylverfahrens erhalten nur Flüchtlinge mit »guter Bleibeperspektive«. Diese Sortierung sorgt in vielen Fällen dafür, dass die Integration von Menschen, die dauerhaft in Deutschland bleiben werden, unnötig verschleppt wird. Das kann man auch an den kürzlich veröffentlichten Asylzahlen 2016 sehen.

Ob ein Flüchtling in Deutschland eine »gute« oder »schlechte« Bleibeperspektive hat, hängt nach Ansicht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erstmal nur vom Herkunftsland ab. Das ist allein deshalb unsinnig, weil der Kern des Asylsystems eine individuelle Prüfung von Fluchtgründen vorsieht, keine pauschale anhand des Herkunftslandes. An einigen Beispielen wird aber besonders deutlich, warum diese Vorsortierung falsch ist.

Wer hat denn eine »gute Bleibeperspektive«?

Eine »gute Bleibeperspektive« wird Menschen aus Syrien, Irak, Eritrea, Somalia und dem Iran zugeschrieben. Damit haben sie nicht nur Zugang zu Integrationskursen bereits während des Asylverfahrens, die Bundesagentur für Arbeit hat diese Auffassung ebenso übernommen und entscheidet darauf basierend über den Zugang zum SGB III, also zu Maßnahmen der Arbeitsförderung.

Begründet wird die Einstufung damit, dass die (unbereinigte*) Schutzquote für Flüchtlinge aus den genannten Ländern im Asylverfahren bei über 50 Prozent liegt. Natürlich erhalten allerdings auch Menschen aus anderen Herkunftsstaaten einen Schutzstatus in Deutschland. Sie müssen aber allein aufgrund ihrer Herkunft untätig den Abschluss des Verfahrens abwarten. Und das kann dauern.

Verschenkte Jahre: Dauer des Verfahrens könnte besser genutzt werden

Rund 7 Monate mussten Flüchtlinge im vergangenen Jahr auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag warten. Vor allem für Flüchtlinge, die Ende 2015 auf dem Höhepunkt der Migrationsbewegungen nach Deutschland gekommen sind, muss auch noch die lange Wartezeit, bis überhaupt ein Asylantrag gestellt werden konnte, hinzugerechnet werden.

Dazu kommt, dass die Verfahren gerade bei Schutzsuchenden aus Herkunftsländern, die nicht in der Kategorie »gute Bleibeperspektive« eingeordnet sind, bei denen es aber trotzdem eine hohe Zahl an Anerkennungen gibt, meist länger dauern. Die Dauer des Asylverfahrens für afghanische Flüchtlinge war im ersten Halbjahr beispielsweise knapp doppelt so lang - über 13 Monate.

In manchen Fällen sprechen wir hier also von bis zu zwei Jahren, in denen die Integrationsbemühungen von Menschen, die dauerhaft bei uns in Deutschland bleiben werden, von Amts wegen blockiert werden.

Keine »gute Bleibeperspektive« bei afghanischen Flüchtlingen?

Besonders unverständlich ist das bei Afghan*innen - nicht nur, dass ihre Schutzquote mittlerweile sogar über der Grenze von 50 Prozent liegt (55,8% unbereinigte* Gesamtschutzquote im Jahr 2016), durch die unsichere Lage in ihrem Heimatland gibt es auch kaum Abschiebungen dorthin - vergangenen Monat wurden erstmals seit zwölf Jahren 34 Personen in einem Sammelflieger abgeschoben.

Viele Afghan*innen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, erhalten eine Duldung in Deutschland, oftmals über viele Jahre lang. Auch für sie ist also der (möglichst frühzeitige) Besuch eines Integrationskurses sinnvoll und richtig.

Noch absurder: Das Beispiel Jemen

Obwohl Schutz letztlich fast immer gewährt wird, haben jemenitische Flüchtlinge in Deutschland keinen Zugang zu Integrationskursen des BAMF. Der Grund: Sie sind zu wenige. Im ersten Halbjahr 2016 haben 241 Jemenit*innen einen Asylantrag gestellt, über 98 wurde entschieden, lediglich ein Antrag davon wurde abgelehnt. Nimmt man die sonstigen Verfahrenserledigungen hinzu, ergibt sich eine (unbereinigte*) Schutzquote von 69,4 Prozent.

Warum dürfen Schutzsuchende aus dem Jemen nun also nicht bereits frühzeitig einen Integrationskurs besuchen? Die Antwort ist ebenso simpel wie unverständlich: Neben einer Gesamtschutzquote von über 50% geht das BAMF nur dann von einer »guten Bleibeperspektive« aus, wenn es eine »relevante Zahl von Antragstellern« aus einem Land gibt. Im Klartext heißt das: Die Jemeniten mögen zwar schutzbedürftig sein - sie sind aber zu wenige, um frühzeitig integriert zu werden. Logisch ist das nicht.

»Gute Bleibeperspektive« - ungerechte Prognose!

Der bislang praktizierte Ausschluss jemenitischer und afghanischer Geflüchteter in Deutschland illustriert die Unsinnigkeit eines an der so genannten Bleibeperspektive orientierten Asyl- und Integrationssystems, dessen Kriterien weder konsequent noch logisch sind. Selbst wenn ihre statistische Chance, anerkannt zu werden, wie im Fall von Afghan*innen und Jemenit*innen hoch oder sehr hoch ist, werden sie nicht zu Menschen mit »guter Bleibeperspektive« gezählt.

Ebenso durch das Raster der frühzeitigen Integration fallen sämtliche Asylantragsteller*innen aus anderen Staaten - auch wenn sie schließlich doch eine Anerkennung und damit den Anspruch auf Integration erhalten. Und das sind gar nicht so wenige.

Fast drei Viertel erhalten Schutz in Deutschland!

Fast drei Viertel der Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, erhalten ihn auch, wenn ihr Asylantrag inhaltlich geprüft wird. Die bereinigte* Schutzquote liegt, nimmt man Flüchtlinge aus allen Herkunftsländern zusammen, für 2016 bei rund 71,5 Prozent.

Für die Einordnung der Herkunftsländer nach Bleibeperspektive wird jedoch die unbereinigte Schutzquote herangezogen, die auch nicht-inhaltliche Entscheidungen einberechnet. Oft gilt ein Asylverfahren deshalb als erledigt, weil die Zuständigkeit nach dem Dublin-System in einem anderen EU-Staat liegt. Über die individuelle Schutzbedürftigkeit des Antragsstellers soll dann nicht in Deutschland entschieden, sondern eine Abschiebung in den jeweiligen Drittstaat vorbereitet werden.

Viele dieser geplanten Abschiebungen finden aber letztendlich gar nicht statt, die Menschen bleiben also trotzdem in Deutschland. Das kann zum Beispiel daran liegen, dass in manchen dieser Staaten, wie Bulgarien oder Griechenland, die Zustände für Flüchtlinge so katastrophal sind, dass Abschiebungen dorthin nicht durchgeführt werden.

Auch abgelehnte Asylbewerber bleiben oft hier

Und selbst für Menschen, die letztendlich im Asylverfahren abgelehnt werden, macht ein frühzeitiger Sprachkurs Sinn: Zum einen können auch für zeitlich begrenzten Aufenthalten die erworbenen Sprachkenntnisse oder Zertifikate für manchen Flüchtling bedeuten, dass er/sie das Land nicht mit leeren Händen verlässt.

Zum anderen bleiben aus unterschiedlichen Gründen auch ein Teil der abgelehnten Asylsuchenden im Land, oftmals beispielsweise mit einer Duldung. Der monate- und jahrelange Ausschluss zahlreicher asylsuchender Menschen von Integrationskursen ist also integrationspolitisch völlig widersinnig.

Integrationskurse für alle von Anfang an!

Gerade dadurch, dass viele Asylsuchende während ihres Asylverfahrens in Massenunterkünften ohne viel Kontakt zur restlichen Gesellschaft, untergebracht sind, wäre ein Besuch der Integrationskurse besonders wichtig - und ein Ausweg aus der im Lager oft vorherrschenden Langeweile.

Auch hat die Tatsache, dass Flüchtlinge aus verschiedenen Nationen innerhalb der Großunterkünfte durch die vorgenommene Einsortierung quasi in »gute« und »schlechte« Flüchtlinge unterteilt werden, in der Vergangenheit bereits zu Problemen geführt. Viele Menschen dort können - verständlicherweise - nicht nachvollziehen, warum nur ein Teil von ihnen bereits solche Kurse besuchen darf.

PRO ASYL fordert deshalb die sofortige Einstellung der Einsortierung von Geflüchteten in Menschen mit »guter« oder »schlechter Bleibeperspektive« und die Öffnung von Integrations- und Sprachkursen für alle von Anfang an!


URL des Artikels auf der Pro Asyl-Homepage:
https://www.proasyl.de/news/die-einstufung-nach-bleibeperspektive-ist-bewusste-integrationsverhinderung/

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Quelle:
Pro Asyl, 14. Januar 2017
Postfach 160 624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: +49 (0) 69 - 24 23 14 - 0, Fax: +49 (0) 69 - 24 23 14 72
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de
mit freundlicher Genehmigung von Pro Asyl


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2017

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