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ASYL/1414: Zur aktuellen Seehofer-Reise in die Türkei und nach Griechenland (Pro Asyl)


Pro Asyl - Pressemitteilung vom 3. Oktober 2019

PRO ASYL zur aktuellen Seehofer-Reise in die Türkei und nach Griechenland

PRO ASYL fordert Evakuierung der Flüchtlinge von den Inseln und ein europäisches Relocation-Programm für Griechenland


Dreieinhalb Jahre EU-Türkei-Deal haben auf den griechischen Inseln zu einem Ausnahmezustand geführt: Die Lage für Schutzsuchende hat sich in den vergangenen Tagen dramatisch zugespitzt. Angesichts der Reise des Bundesinnenministers Seehofer und seines französischen Kollegen Castaner in die Türkei und nach Griechenland appelliert ein breites Bündnis aus Kinder-, Menschenrechts- und Wohlfahrtsorganisationen an die Bundesregierung, sofort zu handeln und unbegleitete Minderjährige aufzunehmen sowie Familienzusammenführungen im Rahmen der Dublin-Verordnung zu ermöglichen (zum vollständigen Appell siehe unten).

Derzeit leben in Griechenland mehr als 4.100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge - es gibt allerdings nur ca. 1.000 kinder- und jugendgerechte Plätze. Auf den griechischen Inseln harren derzeit 30.000 Menschen aus, laut UNHCR sind 35 Prozent davon Kinder. 6 von 10 Kindern sind unter 12 Jahre alt; ein Fünftel sind unbegleitete Minderjährige. Eine nicht bekannte Anzahl hat Angehörige in Deutschland.

PRO ASYL und ihr Projektpartner in Griechenland Refugee Support Aegean (RSA) prangern an, dass Familienzusammenführungen von Asylsuchenden mit Angehörigen in Deutschland systematisch ausgehebelt werden. Eltern und Kinder haben in den Insellagern über Monate keinerlei Zugang zu rechtstaatlichen Strukturen um ihr Recht auf Familiennachzug überhaupt in Anspruch zu nehmen. Deutschland lehnt Übernahmeersuche von Familienangehörigen aus Griechenland mittlerweile systematisch ab mit der Begründung, Fristen seien abgelaufen.

2018 lehnte Deutschland 1.496 von 2.482 bearbeiteten Übernahmegesuchen aufgrund familiärer Bindungen von Griechenland ab - fast 60 Prozent aller Anträge. 2019 wurden von Januar bis Mai 2019 75 Prozent aller Anträge auf Familienzusammenführung zurückgewiesen. Gleichzeitig ist die Zahl der Anträge drastisch gesunken. Von nur noch 626 Übernahmeersuchen wurden 472 abgelehnt (BT-Drucksache 19/10535, Frage 13). Im Bericht »Refugee Families Torn Apart« von PRO ASYL und RSA wird die systematische Aushebelung des Familiennachzugs dokumentiert.

Karl Kopp, Leiter der Europa-Abteilung von PRO ASYL, fordert ein groß angelegtes Umverteilungsprogramm aus Griechenland: »Die Hotspots müssen geräumt werden. Die Schutzsuchenden müssen evakuiert, menschenwürdig vorübergehend untergebracht werden bis zum zügigen Transfer in andere EU-Staaten. Dort ist ein faires und sorgfältiges Asylverfahren zu gewährleisten. Im Morast von Moria gibt es keine Rechtsstaatlichkeit.«

Keine Abschiebungen in die Türkei

PRO ASYL warnt die griechische Regierung und die europäischen Staaten entschieden davor, Schutzsuchende in die Türkei abzuschieben. Karl Kopp: »Die Türkei ist nicht sicher. Abschiebungen dorthin verletzen internationales Recht.« Afghan*innen, Iraner*innen und andere Schutzsuchende haben dort keinerlei Zugang zu einem Schutzsystem. Dies wurde nun auch öffentlich vom türkischen Parlamentsabgeordneten Yeneroglu (AKP) in deutschen Medien bestätigt. Für Flüchtlinge aus Syrien existiert der temporäre Schutz zunehmend nur noch auf dem Papier. Die Türkei nimmt seit Mitte des Jahres hundertfach Abschiebungen nach Syrien vor.


Informationen zur verschärften Lage für syrische Flüchtlinge in der Türkei
https://www.proasyl.de/pressemitteilung/dramatische-lage-in-der-aegaeis-pro-asyl-fordert-europaeische-solidaritaet/

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Bitte setzen Sie sich für die Aufnahme geflüchteter Kinder und Jugendlicher aus Griechenland und für die Familienzusammenführung mit Angehörigen in Deutschland ein

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister,

Griechenland hat angesichts der katastrophalen Situation für geflüchtete Kinder und Jugendliche die fehlende Aufnahmebereitschaft anderer EU-Staaten kritisiert. "Es kann nicht sein, dass ein Land sich weigert, 50 oder 100 Kinder aufzunehmen", erklärte der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis kürzlich im griechischen Fernsehen [1].

Wir bitten Sie dringend darum zu handeln, um Griechenland zu entlasten und für den Schutz der Kinder und Jugendlichen zu sorgen. Bevor es Winter wird, muss gehandelt werden.

Die Situation in Griechenland stellt eine erhebliche Gefahr für Kinder und Jugendliche dar, während in Deutschland Einrichtungen für unbegleitete Minderjährige schließen und Kapazitäten und Strukturen vorhanden sind, die ad-hoc Minderjährige unterbringen und betreuen könnten. Spätestens nach der tödlichen Messerattacke auf einen Jugendlichen in der Sicherheitszone für unbegleitete Minderjährige im Hotspot Moria auf Lesbos muss dringend gehandelt werden.[2]

Derzeit leben in Griechenland mindestens 4.100 unbegleitete Minderjährige und täglich kommen neue hinzu. Allerdings gibt es nur ca. 1.000 kinder- und jugendgerechte Unterbringungsplätze in ganz Griechenland. Alle anderen leben unter katastrophalen Bedingungen auf der Straße, in Flüchtlingslagern für Erwachsene, sind in Haft oder in den Hotspots auf den griechischen Inseln. Viele sind ungeschützt vor Gewalt, leiden an mangelhafter Versorgung und erhalten kaum anderweitige Unterstützung. Dies zeigt ein aktueller BumF-Bericht zur Situation in Griechenland.[3]

Durch die unhaltbaren Zustände in den Flüchtlingslagern in Griechenland müssen unbegleitete Minderjährige sowie Familien als hoch gefährdet angesehen werden. Die Fälle von sexualisierter Gewalt und Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen mehren sich nach Angaben von ARSIS (ECPAT-Griechenland).

Zur gleichen Zeit scheitern Zusammenführungen von Kindern und Jugendlichen mit ihren Angehörigen in Deutschland jedoch immer öfter, wie ein aktueller PRO ASYL / RSA-Bericht zeigt.[4]

Von Januar bis Ende Mai 2019 lehnte Deutschland drei Viertel der Aufnahmeersuche von Griechenland an Deutschland nach der Dublin-III-Verordnung ab.[5]

Besonders dramatisch sind Ablehnungen für Kinder und Jugendliche, deren Familien so getrennt bleiben. Dies widerspricht unter anderem der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 EU Grundrechtecharta und Artikel 3 UN-Kinderrechtskonvention sowie den Verpflichtungen zur wohlwollenden, humanen und beschleunigten Bearbeitung von Anträgen zur Familienzusammenführung gem. Artikel 9 und 10 UN-Kinderrechtskonvention.

Immer mehr Gerichte heben Ablehnungen von Aufnahmegesuchen Griechenlands für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge daher auf.[6] Es ist kaum hinnehmbar, dass erst der zeitund kostenintensive Umweg über Gerichtsverfahren genommen werden muss, um Kinder und Jugendliche mit ihren Familienmitgliedern zusammenzuführen. Oft sind Ablehnungen von Aufnahmegesuchen also rechtswidrig, aber auch über rechtswidrige Ablehnungen hinaus hat die Bundesregierung einen Ermessensspielraum bei der Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger, wovon die Bundesregierung Gebrauch machen sollte.

Wir bitten Sie daher, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen und zusätzlich die bestehenden rechtlichen Spielräume für die Zusammenführung von Schutzsuchenden mit Angehörigen in Deutschland im Rahmen des Dublin-Verfahrens im Sinne der Kinder und Jugendlichen zu nutzen.

Mit freundlichen Grüßen
i.A. Tobias Klaus
Bundesfachverband umF

Berlin, 2. Oktober 2019

Unterzeichnende Organisationen: National Coalition, Deutsches Kinderhilfswerk, terre des hommes - Deutschland, PRO ASYL, Diakonie Deutschland, Paritätische Gesamtverband, ECPAT, Save the Children, World Vision Deutschland, Refugee Support Aegean, Respekt für Griechenland, BAG Asyl in der Kirche, Koordinierungskreis gegen Menschenhandel, OUTLAW. die Stiftung, Verband binationaler Familien und Partnerschaften, DGSF, Be an Angel, Equal Rights Beyond Borders und Bundesfachverband umF


Anmerkungen:
[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-migrantenzustrom-athen-ruft-eu-zur-aufnahme-vonkindern-auf-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-190908-99-789651
[2] https://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-messerattacke-auf-lesbos-1.4576202
[3] https://b-umf.de/material/unbegleitete-minderjaehrige-fluechtlinge-in-griechenland/
[4] https://rsaegean.org/en/refugee-families-torn-apart/
[5] Vgl. BT Drucksache 19/10535 Frage Nr. 13.
[6] https://www.equal-rights.org/litigation

Der Appell ist als PDF-Datei zu finden unter:
https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2019_10_20_Aufnahme-Minderj%C3%A4hriger-aus-Griechenland_ki.pdf

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Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 3. Oktober 2019
Postfach 160 624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: +49 069 - 23 06 88, Fax: +49 069 - 23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Oktober 2019

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