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ASYL/1520: Bundesaufnahmeprogramm für akut gefährdete Afghan*innen - bis heute keine einzige Einreise (Pro Asyl)


Pro Asyl - Presseerklärung vom 17. April 2023

Afghanistan
Sechs Monate nach dem Start des Bundesaufnahmeprogramms bilanziert PRO ASYL:
Viel versprochen, bis heute keine einzige Einreise.


Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 verschlimmert sich die ohnehin schon katastrophale Lage in Afghanistan dramatisch. Das Land versinkt im Chaos, während die Taliban ungehemmt agieren und zunehmend brutal gegen Frauen, Mädchen und Oppositionelle vorgehen. Begrüßenswert war die Entscheidung der Bundesregierung, Verantwortung für bedrohte Afghan*innen zu übernehmen und sich im Koalitionsvertrag unter anderem dazu zu verpflichten, ein Bundesaufnahmeprogramm für akut gefährdete Afghan*innen einzurichten.

"Wir werden ein humanitäres Aufnahmeprogramm des Bundes in Anlehnung an die bisher im Zuge des Syrien-Krieges durchgeführten Programme verstetigen und diese jetzt für Afghanistan nutzen. Wir werden unsere Verbündeten nicht zurücklassen. Wir wollen diejenigen besonders schützen, die der Bundesrepublik Deutschland im Ausland als Partner zur Seite standen und sich für Demokratie und gesellschaftliche Weiterentwicklung eingesetzt haben. Deswegen werden wir das Ortskräfteverfahren so reformieren, dass gefährdete Ortskräfte und ihre engsten Familienangehörigen durch unbürokratische Verfahren in Sicherheit kommen. Wir werden humanitäre Visa für gefährdete Personen ermöglichen und dazu digitale Vergabeverfahren einführen." (S.142, 156)

Dieses Aufnahmeprogramm sollte eine zusätzliche Möglichkeit bieten, bedrohte Menschen aufzunehmen, die nicht über das Ortskräfteverfahren, das humanitäre Visa-Verfahren oder den Familiennachzug gerettet werden können. Die Ankündigungen der Bundesregierung werden jedoch unzureichend umgesetzt. "Das Bundesaufnahmeprogramm, das im Oktober 2022 verkündet wurde, greift nicht. Trotz der verzweifelten Situation und der sich verschlimmernden Lage hat die Bundesregierung bis heute nicht eine einzige Person über das Programm aufgenommen. Bedrohte Afghaninnen und Afghanen dürfen nicht im Stich gelassen werden!" fordert Dr. Alema, Afghanistan Referentin von PRO ASYL. Stattdessen wurde die Einreise bedrohter Afghanen am 30. März 2023, nach einer Ankündigung des Auswärtigen Amtes, ausgesetzt.

PRO ASYL fordert die Überarbeitung des Bundesaufnahmeprogramms unter Berücksichtigung der seit Monaten von der Zivilgesellschaft vorgetragenen Kritik. "Der Koalitionsvertrag muss in Gänze umgesetzt werden. Das Bundesaufnahmeprogramm ist nur ein Baustein. Genauso wichtig sind:

  • die Reform des Ortskräfteverfahrens
  • die Aufnahme gefährdeter Menschen über ein humanitäres Visum
  • die Beschleunigung der Familienzusammenführung.

"Es muss um jeden Preis vermieden werden, dass alle Aufnahmemöglichkeiten allein in dem Bundesaufnahmeprogramm aufgehen, da dann sehr viele bedrohte Menschen ausgeschlossen wären" betont Dr. Alema. "Der jüngste Bericht der Vereinten Nationen zeigt wie bedrohlich die Situation ist. Die Aufnahme aus Afghanistan muss weitergehen" fordert Dr. Alema.


Zur Aussetzung des Visaverfahrens:
Am 30. März kam die überraschende Ankündigung des Auswärtigen Amtes, man würde vorerst alle Visaverfahren für afghanische Menschen aussetzen. Grund wäre eine Optimierung der Sicherheitsprozesse nach bekannt gewordenen Missbrauchsversuchen bei der Visaerteilung. Diese Nachricht schlug medial und politisch hohe Wellen, auch wenn das Auswärtige Amt wenige Tage später klar stellte, dass es sich nur um vereinzelte Hinweise auf mögliche Missbrauchsversuche handele. Der Sprecher des AA am 5.4. in der Regierungspressekonferenz:

"Ich möchte aber hier betonen: "Missbrauch" heißt nach derzeitigem Kenntnisstand in fast allen Fällen, dass sich die Person beispielsweise in der Zwischenzeit in einen sicheren Drittstaat begeben hatte, also dass sie nur deshalb nicht mehr für das Aufnahmeprogramm sozusagen in Betracht kam, weil sie sich inzwischen der Bedrohung durch die Taliban durch eigenständige Flucht schon entziehen konnte, oder in einzelnen Fällen gab es unklare Familienstrukturen. Es hat zum Beispiel jemand eine Nichte als Tochter ausgegeben, damit sie im Rahmen der Kernfamilie mitberücksichtigt würde."

Sogar Menschen, die bereits ein Visum erhalten haben, sollen nicht einreisen dürfen. PRO ASYL kritisiert die Aussetzung des Visaverfahrens und die Verhinderung der Einreise trotz bereits erhaltenen Visa aufs Schärfste. Eine Optimierung von Prozessen kann nicht zu Lasten von Menschen gehen, die sich in Lebensgefahr befinden. Zudem hält PRO ASYL die Verhinderung der Einreise von Menschen mit Visum für rechtswidrig. Wenn ein Visum erteilt wurde, haben bereits alle erforderlichen Prüfungen stattgefunden, es darf dann nicht einfach, ohne jegliche Rechtsgrundlage, die Einreise verhindert werden.


Hintergrund: Position und Forderungen von PRO ASYL zum Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan

Bei der Planung des Bundesaufnahmeprogramms wurden zivilgesellschaftliche Organisationen zur Beteiligung eingeladen, unter anderem auch PRO ASYL. Von Beginn an kritisierte PRO ASYL insbesondere das Verfahren der Bundesregierung zur Auswahl der Menschen nach einem automatisierten Algorithmus-Verfahren, die Intransparenz der Auswahlkriterien und die Bedingung der Antragstellung für die Betroffenen. Vor allem wurden Afghanen, die sich in einem Drittstaat befinden vom Programm ausgeschlossen. Nur 1000 Menschen, also ca. 200 Familien, sollen pro Monat eine Aufnahmezusage erhalten.

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan waren zudem viele Menschen gezwungen, das Land zu verlassen. Die meisten von ihnen sind ehemalige Ortskräfte, Menschen- und Frauenrechtsaktivist*innen sowie u.a. Journalist*innen, Lehrer*innen und Künstler*innen, die teilweise mit deutschen Organisationen zusammengearbeitet haben und aufgrund dieser Zusammenarbeit bedroht wurden. Viele von ihnen halten sich in den Anrainerstaaten wie Pakistan und dem Iran auf. Die Bundesregierung hatte diesen Menschen Hilfe und Unterstützung zugesagt, einschließlich der Aufnahme in Deutschland. Mit dem Bundesaufnahmeprogramm beschränkt die Bundesregierung den begünstigten Personenkreis ausschließlich auf afghanische Staatsangehörige in Afghanistan. Eine Antragstellung aus Drittstaaten wie Iran, Pakistan, oder der Türkei ist nicht möglich. Es gibt keine zentrale Anmeldestelle und keine Information der Bundesregierung an die Antragstellenden über den Stand des Verfahrens. Die Bundesregierung hat für das Aufnahmeprogramm ein Online-Tool entwickelt, das mehr als 100 Fragen enthält. Neben den persönlichen Daten werden hier insbesondere tätigkeitsbezogene Gefährdungen sowie Vulnerabilität aufgrund von Geschlecht, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität abgefragt. Allerdings können viele dieser Fragen nur durch "Dropdowns", das heißt durch das Ankreuzen vorgegebener Antworten, beantwortet werden. Die Bedrohungslage von Menschen in Afghanistan ist jedoch sehr komplex und vielfältig, sodass eine reine Abfrage von Kategorien den individuellen Gefährdungen nicht gerecht wird. Soweit möglich sollen die Angaben mit Dokumenten belegt werden. Dies ist in der derzeitigen Situation in Afghanistan schwierig, da die Beschaffung von Dokumenten lebensgefährlich ist und von den Anrainerstaaten aus schlichtweg nicht machbar ist.

Die Schutzsuchenden können sich nicht selbst für das Aufnahmeprogramm bewerben und ihre Daten eigenständig eintragen. Dies dürfen nur ausgewählte Organisationen in Deutschland tun, die sich als "meldeberechtigte Stellen" für das Bundesaufnahmeprogramm registrieren lassen. Allerdings werden die Namen dieser "meldeberechtigten Stellen" nicht öffentlich bekannt gegeben, da diese selbst entscheiden , ob sie sich als solche zu erkennen geben möchten. Bisher haben nur wenige Organisationen diese Möglichkeit wahrgenommen, da sie befürchten, durch die Bekanntgabe und die Anfragen von Betroffenen überfordert zu werden. Viele NGOs wollen und können nicht staatliche Aufgaben übernehmen.

Durch diesen Umstand ist der Zugang zum Aufnahmeprogramm für Betroffene höchst intransparent. Schutzsuchende aus Afghanistan wissen nicht, an wen sie sich wenden müssen, und es hängt von Glück ab, ob sie bereits Kontakt mit Organisationen haben, die als "meldeberechtigt" gelten. PRO ASYL fordert die Einrichtung einer staatlichen oder zumindest einer staatlich finanzierten zentralen Anmeldestelle, die für Betroffene bekannt ist und an die sie sich wenden können, um für das Aufnahmeprogramm angemeldet zu werden. Diese Stelle sollte mit ausreichenden Kapazitäten für die Anmeldung von Betroffenen ausgestattet werden.

Auswahlprozess

Das eingerichtete IT-Tool hat nicht nur die Aufgabe, die personenbezogene Daten und die Gefährdungslage stichwortartig zu erfassen, sondern auch sie zu bewerten. Mit Hilfe der erfassten Daten werden durch ein IT-System Punkte vergeben, anhand derer festgestellt werden soll, wer als individuell gefährdet eingestuft wird. Eine individuelle Sichtung und eine Bewertung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oder das Auswärtige Amt erfolgt nicht.

Laut des Bundesinnenministeriums sollen die erfassten Daten monatlich durch neue sogenannte "Auswahlrunden" erneut bewertet werden. In den jeweiligen "Auswahlrunden" soll die Gewichtung jeweils auf einem unterschiedlichen Schwerpunkt liegen, was die Gefährdungslage angeht, also z.B. auf dem Schwerpunkt "Gefährdung aufgrund des Geschlechts" oder "aufgrund sexueller Orientierung" o.ä.

Dies ist aus Sicht von PRO ASYL ein schwieriges Vorgehen, da sich Gefährdungslagen selten in nur eine Kategorie einordnen lassen, sondern im Gegenteil sehr komplex und individuell sind. Es besteht die Gefahr, dass sich Menschen monatelang in einer lebensbedrohlichen Situation aufhalten müssen, um zu warten, bis "ihr Schwerpunkt" auf der Agenda ist und sie eine Chance haben, vom IT-Scoringsystem ausgewählt zu werden. Bei dem IT-Scoringsystem, wonach die Anträge gefährdeter Afghan*innen mit einem digitalen Punktesystem und Algorithmen bewertet werden, besteht die Gefahr, dass gefährdete Menschen durch das Raster fallen. Zudem findet keine dem Einzelfall gerecht werdende Gewichtung und Gefährdungsbeurteilung statt.

PRO ASYL mahnt: Der Einzelfall zählt - im Asylverfahren und auch bei der Aufnahme aus dem Ausland.

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Quelle:
Pro Asyl - Presseerklärung vom 17. April 2023
Postfach 160 624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: +49 069 - 24 23 14-0, Fax: +49 069 - 24 23 14 72
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 18. April 2023

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