Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FAKTEN

ASYL/568: Die Gegenwart der Lager in der deutschen Flüchtlingspolitik (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 46 - Winter 2008/2009
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Die Gegenwart der Lager in der deutschen Flüchtlingspolitik

Von Tobias Pieper


Fast 100.000 Menschen werden in Lager gezwungen

Auch wenn das Thema der Lagerunterbringung von unerwünschten MigrantInnen durch die Installation von neuen Ausreiseeinrichtungen (Paragraph 61 AufenthG, 'Ausreisezentren' oder Abschiebelager) und den Internierungslager rund um die militärisch gesicherte Grenze der EU vermehrt in die Kritik gerät, so ist die Abwertung der Lebensverhältnisse geduldeter MigrantInnen und Flüchtlinge durch einen Einschluss im Lager seit 1980 bundesdeutsche Realität. Menschen, die in die BRD fliehen und hier einen Asylantrag stellen, werden in dezentral gelegenen über das Bundesgebiet verteilten Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Dies betrifft auch diejenigen Menschen, denen nur ein Aufenthaltsrecht in Form einer Duldung zuerkannt wird, welche maximal für ein Jahr, in der Regel aber eher für ein bis drei Monate, ausgestellt wird und dann immer wieder verlängert werden muss (sog. Kettenduldungen). An dieser Situation hat sich auch mit der so genannten 'Bleiberechtsregelung' nichts geändert. Diese Menschen werden über das Asylbewerberleistungsgesetz (AslybLG) versorgt. Dies bedeutet jahrelange Unterbringung in isolierten, lagerähnlichen Gemeinschaftsunterkünften, ein restriktiv regulierter Arbeitsmarktzugang, die Auszahlung der deshalb notwendig werdenden und sowieso gekürzten 'Hilfe zum Lebensunterhalt' in Sachleistungsform (ca. 65 % des normalen ALG II Satzes), ein Ausbildungsverbot und eine verminderte gesundheitliche Versorgung. Zurzeit bekommen in der BRD laut Statistik der Bundesregierung knapp 193.562 Menschen (Stand 31.12.2006) Leistungen nach dem AsylbLG. Laut meinen eigenen Recherchen sind von diesen MigrantInnen immer noch knapp 100.000 in lagerähnlichen Unterkünften segregiert. Ursprünglich war dieses Unterbringungssystem für die Verwaltung und Unterbringung von über einer Millionen MigrantInnen angelegt, aufgrund der rückläufigen Flüchtlingszahlen findet derzeit eine Reduzierung der dezentralen halboffenen Lager statt.


Das dezentrale halboffene Lagersystem

Ich fasse diese zwangsweise Unterbringung mit dem Begriff des halboffenen Lagers für MigrantInnen und Flüchtlinge mit einem ungesicherten Aufenthalt, in seiner Gesamtheit als dezentrales halboffenes Lagersystem. Es ist ein System von unterschiedlichen Lagertypen, die dezentral in den Kommunen angeordnet sind und deren Funktion nur durch den Systemcharakter der angeordneten Einzellager verständlich wird. Das dezentrale Lagersystem setzt sich zusammen aus den Landesaufnahmeeinrichtungen, großen Auffanglagern, den zur langfristigen Unterbringung konzipierten Gemeinschaftsunterkünften als dezentrale halboffene Sammellager; dem neuen Zwischenglied Ausreiseeinrichtung als Abschiebelager und den Abschiebehaftanstalten, wozu auch die exterritoriale Unterbringung auf dem Flughafen in Frankfurt am Main als Internierungslager für Flüchtlinge zählt. Die Dezentralität des Lagersystems wird durch das weltweit einmalige Gesetz der Residenzpflicht gewährleistet, welches nach der bundesweiten Verteilung der asylsuchenden Menschen auf die einzelnen Landkreise das Verlassen dieser unter Geld- bzw., bei fehlender Liquidität, unter Haftstrafe stellt. Wie durch ein virtuelles Netz wird der Raum parzelliert, die Flüchtlinge gleichmäßig über diesen verteilt, verwaltet und festgehalten. Der Begriff der Halboffenheit betont, dass die BewohnerInnen aus den Lagern verschwinden können und gleichzeitig in diesen festgesetzt werden. Dieses Festsetzen wird durch institutionelle Schranken und symbolische Barrieren und nicht durch Stacheldraht organisiert. Die BewohnerInnen können prinzipiell aus den Lagern verschwinden und in die Welt der 'Illegalität' abtauchen. Hierdurch unterscheiden sich das bundesdeutsche dezentrale halboffene Lagersystem für MigrantInnen mit einem ungesicherten Aufenthalt von den Internierungslagern für MigrantInnen, wie sie in vielen EU-Ländern vorfindbar sind. Die politische Absicht der Lagerunterbringung zielt auf die Festsetzung, Kontrolle und Verwaltung von hierhin fliehenden Menschen und deren institutionellem Fernhalten und Ausschluss aus der Gesellschaft.


Lagersystem als Mittel der Verhinderung von Migration

Die aktuellen Strukturen des dezentralen Lagersystems sind ohne ihre historische Genese nicht zu verstehen. Politische Zielsetzung der Lagerunterbringung war 1980 die Verhinderung von neuen Migrationsbewegungen in die Bundesrepublik und der Versuch der Vertreibung der bereits hier Angekommenen durch die Verschlechterung der Lebensbedingungen. In den politischen Begründungen wurde dabei offen auf rassistische Argumentationsmuster rekurriert und allen Flüchtlingen ein absichtlicher Missbrauch des Asylrechts unterstellt. Im folgenden Jahrzehnt wurde durch die konservative Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU) diese rechtspopulistische Debatte aus innenpolitischen Gründen zugespitzt und erreichte 1993, als zentraler Diskurs der 'Wende', und der de facto Abschaffung des Grundrechts auf Asyl ihren Höhepunkt. Das Sammellager entwickelte sich in dieser Zeit im physisch angreifbaren Symbol des entfachten rassistischen Diskurses, so dass zwischen 1986 und 1995 regelmäßig Unterkünfte angezündet wurden. Parallel wurde 1993 das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) verabschiedet, das auch heute noch die zentrale rechtliche Grundlage der staatlichen Entrechtungspraxis ist. Im AsylbLG wurden die auf dem administrativen Verwaltungsweg bereits angewandten Instrumente in einem eigenen Gesetz gebündelt. Die Kapazität des bundesdeutschen Lagersystems erreichte in dieser Zeit mit mehr als 1,5 Millionen LagerbewohnerInnen ihren historischen Höhepunkt. In den nächsten Jahren folgten weitere Verschärfungen des AsylbLG. Trotz der offensichtlichen Verfehlung der politischen Zielsetzung - die Verminderung der Flüchtlingszahlen durch Abschreckungslager im Ankunftsland - wird erstaunlicherweise bis heute an dieser Politik festgehalten, obwohl die damaligen, rassistisch aufgeladenen Begründungen fast gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden sind. Die aktuellste Zuspitzung des Lagersystems wurde mit dem so genannten 'Zuwanderungsgesetz' unter der ersten rot-grünen Bundesregierung kodifiziert, mit den Ausreiseeinrichtungen entstand ein neuer Lagertyp: das 'humanitäre' Abschiebelager zur Forcierung der 'freiwilligen' Ausreise. Folge dieser zugespitzten 'Flüchtlingspolitik' ist die massenhafte Vertreibung der untergebrachten MigrantInnen in die 'Illegalität'.


Lager als Kontrolle hier lebender MigrantInnen

Administrative Zielsetzung der Ausländerpolitik der Innenbehörden ist Kontrolle hier lebender MigrantInnen und die Regulation und Verhinderung von Einwanderung, für deren Legitimierung auf einen nationalen Sicherheitsdiskurs zurückgegriffen wird. Die Lagerunterbringung bildet die materielle Struktur dieser Ausländerpolitik. MigrantInnen mit einem ungesichertem Aufenthalt werden räumlich festgesetzt, kontrolliert und materiell ausgegrenzt, mit der Zielsetzung, einen direkten Behördenzugriff auf die LagerbewohnerInnen zur Abschiebung jederzeit zu ermöglichen. Diese Funktion ist aufgrund der Quantität der untergebrachten MigrantInnen nur durch die Dezentralität der Einzellager, die lokal organisierte Verwaltung und dort abgestimmte polizeilich-exekutive Kontrolle reibungslos möglich. Die dezentralen Verwaltungsstrukturen führen gleichzeitig zur Unsichtbarkeit der staatlichen Aberkennung von Rechten, denn die jahrelange oder jahrzehntelange Unterbringung von mehreren hunderttausend Menschen vollzieht sich hinter dem Rücken der Öffentlichkeit. Lokal sichtbar werden nur die Einzellager, das Gesamtsystem und das Ausmaß der Unterbringung ist nicht unmittelbar erkennbar.

Als sozialer Raum wird der Lagerinnenraum strukturiert durch das zwangsweise Miteinander, die Handlungen der MitarbeiterInnen, durch die lokale Einbettung des konkreten Einzellagers und den rechtlich-institutionellen Rahmen. Die Lagerunterbringung bedeutet den Einschluss der BewohnerInnen im Lager als materiell-räumlicher Ort der gesellschaftlichen Exklusion. Dieser Prozess des Einschlusses im Lager produziert symbolische wie materielle Barrieren, die ein einfaches Eintreten für BesucherInnen und Nichtflüchtlinge verhindern. Für MigrantInnen, deren Lebensmittelpunkt über Jahre das Lager bildet, ist eine Determination der Erfahrungen und der Handlungsmöglichkeiten durch die Lagerbedingungen feststellbar. Das Verschwinden in die 'Illegalität' und das sich Einrichten in den irregulären Strukturen der Gesellschaft ist die einzige Möglichkeit des Ausbruchs aus dem Lager.


Folge der Lagerunterbringung ist psychische Zerstörung

Das psychisch Zerstörerische der Lagerunterbringung gründet in der Unterbringung in den Mehrbettzimmern der Gemeinschaftsunterkünfte, die eine Erosion der Privatsphäre und ein Leben in Zwangsgemeinschaften mit sich bringt. Das Arbeitsverbot und die Auszahlung von Sachleistungen, in Kombination mit dem räumlich isolierten Leben, strukturieren den Tagesablauf der Einzelnen als behördlich verordnetes Nichts-Tun und Langeweilen. Die kapitalistisch organisierte Außenwelt erscheint zwar in ihrer glitzernden Warenästhetik, aufgrund des materiellen Ausschlusses ist sie jedoch nur begehrbar, der Konsum soll durch die Aberkennung des Rechts auf Arbeit und Geldleistungen verhindert werden. Die Außenwelt erscheint aus Perspektive der BewohnerInnen wie hinter durchsichtigem Panzerglas, zum anfassen nah und gleichzeitig unerreichbar fern. Die BewohnerInnen selber beschreiben den Einschluss im bundesdeutschen Lager als Leben im offenen Gefängnis. Der gesellschaftliche Rassismus strukturiert hierbei die Umgebungsgesellschaft als feindlich, die symbolische Ordnung verweist die LagerbewohnerInnen auf einen der unteren Plätze. Folge dieser gesellschaftlichen Segregation und Deprivation sind fast zwangsläufig psychisch zerstörerische Mechanismen, depressive Zustände und unkontrollierte diffuse Aggressionen mit Auswirkungen auf die physische Konstitution. Diese Kasernierung des Psychischen ergibt sich hierbei aus der Kombination der Lebensbedingungen und der Perspektivlosigkeit als Produkt der zeitlichen Unbegrenztheit. Nach Jahren oder gar Jahrzehnten der Unterbringung stirbt die Hoffnung auf einen gesicherten Aufenthalt, das Handeln der Behörden erscheint undurchschaubar und willkürlich und verhindert jegliche Lebensplanung. Wie andere Untersuchungen aufzeigen konnten, führt die dauerhafte Lagerunterbringung auch zu einer erhöhten Vulnerabilität für physische Krankheiten.


Konzept der "freiwilligen Ausreise"

Konturen einer zukünftigen Flüchtlingspolitik als administrativer Umgang mit denjenigen, die hier nicht gewollt und nicht verwertbar sind, zeichnet sich zurzeit am deutlichsten in Niedersachsen ab. Als kostengünstigste und effizienteste Strategie setzt sich zunehmend das Konzept der 'freiwilligen' Ausreisen durch. Die jahrelange Unterbringung in überteuerten dezentralen Lagern soll langfristig komplett vermieden werden. Administratives Zentrum ist die ZAAB (Zentralen Aufnahme- und Ausländerbehörde) Niedersachsen mit ihren drei jeweils 550 Plätze umfassenden Lagern. Dieser Lagerkomplex setzt sich zusammen aus den beiden multifunktionellen Sammellagern in Blankenburg/Oldenburg und Braunschweig als integriertes Lagerkonzept, bestehend aus Erstaufnahmeeinrichtung (Paragraph 44 AsylVfG), Gemeinschaftsunterkunft (Paragraph 53 AsylVfG) und Ausreiseeinrichtung (Paragraph 61 AufenthG) in einem Gebäude. Hinzu kommt das Lager Bramsche, wo neue Strategien und Instrumente zur 'freiwilligen' Ausreise entwickelt und praxiserprobt werden. Durch diesen Lagerkomplex mit insgesamt 1.650 Plätzen wird bereits derzeit eine Verteilung neu ankommender Asylsuchender auf die Kommunen fast komplett vermieden. Die Betroffenen wechseln nur noch als Akte die Etage, von einem Lager in das nächste. Sobald Platz geschaffen wird, durch ein 'freiwilliges' Abtauchen, eine 'freiwillige' Ausreise oder eine gewaltsame Abschiebung, stehen die geduldeten MigrantInnen als neue potentielle LagerbewohnerInnen bereit. Diese Entwicklungslinien lassen sich auch in den anderen Bundesländern ablesen, häufig noch in einem früheren Stadium ihrer Durchsetzung. Als zukünftiger Rahmen zeichnet sich jedoch ein enger Lagerkreislauf mit zentralen multifunktionalen Großlagern ab, die durch das Land betrieben werden. Dies wird zu einer Schließung der dezentralen halboffenen Lager führen. Neu ankommende und 'alte' geduldete MigrantInnen sollen diesen engen Lagerkreislauf überhaupt nicht mehr verlassen, die Perspektivlosigkeit soll so durch verschiedene Psychotechniken frühzeitig in das Bewusstsein der Betroffenen transformiert und eine baldige 'freiwillige' Ausreise durch finanzielle Anreize unterstützt werden.


Das Lager als potentiell rechtsfreier Raum

Die gesamte Analyse des bundesdeutschen Lagersystems ist beim Verlag Westfälisches-Dampfboot unter dem Titel "Die Gegenwart der Lager - Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik" im Sommer 2008 erschienen. Die Forschungsarbeit geht von der Analyse des Sozialraums Lagers aus der Perspektive seiner BewohnerInnen aus und erarbeitet Strukturdimensionen, die diesen analytisch fassbar machen. Es eröffnet sich ein potentiell rechtsfreier Raum, der systematische Menschenrechtsverletzungen produziert. Von raum-, rassismustheoretischen und sicherheitstechnologischen Überlegungen ausgehend wird eine Analyse der politischen, ökonomischen und ideologischen Funktionen das dezentrale Lagersystem erarbeitet. Eingebettet in kritisch-materialistische Theorieansätzen wird ein fundierter Begriff des institutionellen Rassismus (Hall, Bourdieu) entworfen. Die Entrechtung von MigrantInnen und deren Einschluss im Lager wird dann in seinen historischen Dimensionen fassbar als wichtiger Regulationsmodus der Einwanderungsbewegungen in die Bundesrepublik Deutschland.


Tobias Pieper, Dr. Phil., Politikwissenschaftler und Psychologe, arbeitet bei der Opferperspektive Brandenburg und als Lehrbeauftragter an der FU-Berlin, aktiv im Feld des Antirassismus.
Kontakt: tobias.pieper@web.de


*


Quelle:
Der Schlepper Nr. 46 - Winter 2008/2009, Seite 6-8
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Oldenburger Str. 25, 24143 Kiel
Tel.: 0431/73 50 00
E-Mail: office@frsh.de
Internet: www.frsh.de
Der Schlepper online im Internet: www.frsh.de/schlepp.htm

Der Schlepper erscheint vierteljährlich als Rundbrief
des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein e.V.
Für Vereinsmitglieder ist Der Schlepper kostenlos.
Nichtmitglieder können ihn für 18,00 Euro jährlich
abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2009