Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FAKTEN

ASYL/649: Am Rande des Rechts - Die Problematik der Dublin-II-Verordnung (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Am Rande des Rechts
Die Problematik der Dublin-II-Verordnung.

Von Dominik Bender


Die meisten Betroffenen und VerfahrensberaterInnen sind inzwischen gut informiert und wissen, dass die Bundesrepublik Deutschland vor der materiellen Prüfung eines Asylantrages erst einmal prüft, ob nach dieser Verordnung nicht vielleicht ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung des Asylantrages zuständig sein könnte. Die RechtsanwältInnen und RichterInnen sind inzwischen ebenfalls gut informiert und wissen, dass die konkrete gesetzgeberische Ausgestaltung des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens zu Entscheidungen nach der Dublin-II-VO, wie sie in den §§ 18, 27a, 31, 34a AsylVfG vorgenommen worden ist, ernstzunehmende verfassungsrechtliche Bedenken aufwirft. So verwundert es auch nicht, dass das Bundesverfassungsgericht seit September 2009 inzwischen acht Verfassungsbeschwerden zur Prüfung angenommen hat, die auf die Aussetzung von Dublin-Überstellungen in den jeweiligen Fällen zielen. Die Entscheidung über diese Verfassungsbeschwerden wird im Sommer dieses Jahres erwartet.


Was ist Dublin-II?

Wer diese Frage beantworten will, dem hilft vielleicht zunächst ein Vergleich mit der innerdeutschen Rechtslage - aber auch nur "zunächst".

Asylsuchende, die sich in Deutschland an eine Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wenden, um dort einen Asylantrag zu stellen, können sich diese aus den insgesamt 22 Außenstellen frei auswählen. Damit ist aber nicht gesagt, dass das Asylverfahren auch in der ausgewählten Außenstelle durchgeführt wird und eine Unterbringung in der angeschlossenen Erstaufnahmeeinrichtung stattfindet. Welche Erstaufnahmeeinrichtung und Außenstelle des Bundesamtes zuständig sind, wird nämlich letztlich mit Hilfe des bundesweiten Verteilungssystems EASY (Abkürzung für: Erstverteilung von Asylbewerbern) ermittelt und im Rahmen einer Verwaltungsentscheidung nach § 22 Abs. 1 S. 2 i.Vm. § 46 Abs. 1 und 2 AsylVfG festgelegt. Der Ort der Äußerung des Asylersuchens spielt dabei nur dann eine Rolle, wenn die Außenstelle, an die sich die oder der Asylsuchende gewendet hat, nach den Kriterien des EASY-Verfahrens ohnehin zuständig wäre (vgl. § 46 Abs. 1 S. 1 AsylVfG).

Dem EASY-Verteilungssystem liegen Kriterien wie Herkunftsländerschwerpunkte bestimmter Außenstellen und die aktuelle Ausschöpfung der Aufnahmekontingente der Bundesländer zugrunde. Familiäre Bindungen bleiben grundsätzlich völlig unberücksichtigt (Ausnahme: § 46 Abs. 3 S. 2 AsylVfG; außerdem wird in Fällen, in denen es um die Kernfamilie geht, zuweilen von den Verteilungsstellen außerhalb des EASY-Systems eine Lösung gesucht). Im Rahmen des EASY-Systems wird also davon ausgegangen, dass Asylsuchende letztlich unter Hinnahme von Grundrechtseinschränkungen jedwede Ortsfestlegung zu akzeptieren haben (vgl. auch § 55 Abs. 1 S. 2 AsylVfG). Wer schon einmal mit den Betroffenen von Entscheidungen über die zuständige Außenstelle und Erstaufnahmeeinrichtung zu tun hatte, der weiß, wie einschneidend diese Zuständigkeitsentscheidungen einerseits sind und wie schlecht es andererseits um ihre gerichtliche Angreifbarkeit bestellt ist.

In ähnlicher Weise könnte man auch die Funktion der Dublin-II-VO erklären: Wo immer ein asylsuchender Mensch in Europa erstmals einen Asylantrag stellt oder wo immer in Europa eine Person, die bereits in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat, aufgegriffen wird, die Dublin-II-VO liefert die Kriterien und Verfahrensbestimmungen, nach denen festgestellt werden kann, in welchem Mitgliedsstaat die oder der Betroffene das Asylverfahren verfolgen darf und in welchem Mitgliedsstaat sie beziehungsweise er sich folglich (nur) aufhalten darf. Alle anderen Mitgliedsstaaten sind dann "tabu".


Wesentliche Unterschiede beider Systeme

So sehr der Vergleich zwischen dem EASY-Verfahren und der Dublin-II-VO dem ersten Verständnis dienen mag, so sehr täuscht der Vergleich aber über wesentliche Unterschiede dieser beiden Systeme hinweg. Während die Außenstellen des Bundesamtes sämtlich Verwaltungsuntergliederungen ein- und derselben Bundesbehörde sind, haben die Asylbehörden der EU-Mitgliedsstaaten nichts miteinander zu tun. Während die Anerkennungspraxis dementsprechend innerhalb Deutschlands meistens ähnlich ist, fällt sie in den verschiedenen Mitgliedstaaten der EU völlig unterschiedlich aus. So wurde beispielsweise im Jahr 2007 in Österreich ca. 70 Prozent aller tschetschenischen Asylsuchenden ein Schutzstatus eingeräumt, während die Anerkennungsquote in der Slowakei unter einen Prozent lag.

Als weiteres Beispiel kann auf die in krasser Weise divergierende Abschiebepraxis europäischer Staaten, zum Beispiel in den Zentralirak, verwiesen werden: Teilweise haben europäische Staaten Rückübernahmeabkommen mit der irakischen Regierung abgeschlossen und machen von diesen in erheblichem Umfang Gebrauch (so zum Beispiel Schweden). Teilweise hingegen ist die Abschiebung irakischer Asylsuchender aus anderen Mitgliedsstaaten der EU, zum Beispiel aus Deutschland, derzeit grundsätzlich nicht möglich.

Hinzu kommt jüngst der Umstand, dass bestimmte Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen der EU (zum Beispiel Griechenland und Malta) derart hohe Flüchtlingszahlen zu verzeichnen haben, dass die Kapazitäten ihrer Infrastruktur für Asylsuchende völlig überlastet sind und die Betroffenen zum Beispiel in Obdach- und Einkommenslosigkeit leben, sowie ohne jegliche gesundheitliche Mindestversorgung sich selbst überlassen sind - eine Problematik, die innerhalb Deutschlands nicht auftritt.


Rechtliche Möglichkeiten

Zuletzt ist auch noch auf einen wesentlichen Strukturunterschied zwischen dem EASY-System und der Dublin-II-VO hinzuweisen. Im Raum stehenden Grundrechten, wie familiären Bindungen kann überdies nach gewisser Zeit durch Korrekturentscheidungen (so genannte länderübergreifende Umverteilung nach § 51 AsylVfG) Rechnung getragen werden. Die Dublin-II-VO ist von ihrer Genese und Struktur her völlig anders ausgerichtet: Sie erkennt die Tragweite der (endgültigen) europäischen Zuständigkeitsentscheidungen, billigt den Betroffenen ausdrücklich Rechtsbehelfe gegen die Zuständigkeitsentscheidungen zu (vgl. Art. 19 Abs. 2 S. 4 und Art. 20 Abs. 1 Buchst. e S. 5 D-II-VO) und benennt im Rahmen der einzelnen Zuständigkeitsregelungen ausdrücklich Kriterien, bei denen sich geradezu aufdrängt, dass die Zuständigkeitsentscheidung kein vom Betroffenen ungeprüft hinzunehmendes bloßes "Verwaltungsinternum" sein kann (vgl. zum Beispiel Art. 6-8 und Art. 15, in denen die Pflicht zur Beachtung familiärer Bindungen konstituiert wird).

Nach alledem kann die Dublin-II-VO also zwar als Zuständigkeitsbestimmungssystem beschrieben werden; damit ist andererseits aber gerade nicht gesagt, dass sich die Personen, über deren weiteres Schicksal die Regelungen der Dublin-II-VO entscheiden, nicht gegen die Zuständigkeitsbestimmung gerichtlich zur Wehr setzen und sich dabei nicht auch auf eine Vielzahl individueller Rechte berufen könnten.


Tatsächliche Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Überstellungs-Entscheidungen

Das Recht auf eine Kontrolle von Zuständigkeitsbeziehungsweise Überstellungs-Entscheidungen nach der Dublin-II-VO ist aber nur dann etwas Wert, wenn von ihm auch tatsächlich Gebrauch gemacht werden kann. Hier beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten - oder besser gesagt: Widrigkeiten.

Die erste tatsächliche Widrigkeit bei der Kontrolle von Überstellungs-Entscheidungen nach der Dublin-II-VO ist, dass die Entscheidungen grundsätzlich ohne jegliche Information des Betroffenen vorbereitet werden. Das heißt: Asylsuchende, die, in der für sie zuständigen Außenstelle, einen Asylantrag gestellt haben, erfahren nichts davon, dass das Bundesamt im Hintergrund gar nicht eine Prüfung des Asylantrages in Deutschland vorbereitet, sondern dass es in Wirklichkeit einen anderen Mitgliedstaat der EU aufgefordert hat, sich - zum Beispiel weil die oder der Betroffene illegal über die Außengrenze des betreffenden Mitgliedstaates in die EU eingereist ist - für das Asylverfahren für zuständig zu erklären. Aufgrund dieses Zustandes der Desinformation sind die Betroffenen nicht in der Lage, bestimmte für sie günstige Umstände, dass es z. B. nahe Familienangehörige in Deutschland gibt, gegenüber dem Bundesamt vorzutragen.

Die zweite tatsächliche Widrigkeit bei der Kontrolle von Überstellungs-Entscheidungen nach der Dublin-II-VO rührt daher, dass die Gesetzesvorschriften über das Verwaltungsverfahren (§ 31 Abs. 1 S. 4-6 und § 34a Abs. 1 AsylVfG) vom Bundesamt in aller Regel so ausgelegt und angewendet werden, dass der beziehungsweise die Betroffene von der Überstellungsentscheidung des Bundesamtes erst in den frühen Morgenstunden des Überstellungstages und unter Umgehung einer beziehungsweise eines gegebenenfalls beauftragten Bevollmächtigten erfährt.


Baurechtliche Parallelüberlegung

Würde man diese Situation auf einen anderen Bereich des Öffentlichen Rechts, nämlich das Baurecht, übertragen, wäre folgender Geschehensablauf denkbar: Das Bauamt hält den Abriss eines seiner Ansicht nach illegal errichteten Hauses für notwendig und erlässt eine Abrissverfügung. Diese Abrissverfügung wird allerdings erst am Morgen des geplanten Hausabrisses an die Bewohner des Hauses bekannt gegeben, und zwar nicht durch die MitarbeiterInnen des Bauamtes, sondern durch die MitarbeiterInnen des mit dem Abriss beauftragten städtischen Bauhofes. Nach der Übergabe der Abrissverfügung wird sofort mit den Abbrucharbeiten begonnen. Was im Baurecht mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Aufschrei von Betroffenen und RichterInnen führen würde, gehört im Asylrecht seit Jahren zur ständigen Verwaltungspraxis, die sich dabei auch durchaus auf die Gesetzeslage berufen kann.

Mit der baurechtlichen Parallelüberlegung ist zugleich auch noch die dritte tatsächliche Widrigkeit angesprochen: Die Verwaltungsentscheidung, mit der Dublin-Überstellungen gegenüber den Betroffenen bekannt gegeben werden, ist nämlich als so genannte Abschiebungsanordnung ausgestaltet, was - im Unterschied zur Abschiebungsandrohung - bedeutet, dass dem Betroffenen keine Ausreisefrist gesetzt und damit auch keine Gelegenheit zur freiwilligen Ausreise gegeben wird. Die Überstellung ist damit zwingend als Abschiebung, das heißt als Durchsetzung der Ausreisepflicht durch Einsatz Dritter, durchzuführen. [1]


Rechtliche Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Überstellungs-Entscheidungen

Als würden die tatsächlichen Widrigkeiten die Betroffenen, die VerfahrensberaterInnen und die RechtsanwältInnen nicht schon vor genug Probleme stellen, gesellen sich noch folgenreiche rechtliche Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Zuständigkeits- und Überstellungs-Entscheidungen nach der Dublin-II-VO hinzu.

Im Zentrum steht dabei die Vorschrift des § 34a Abs. 2 AsylVfG. Dieser Paragraf normiert, dass die von Überstellungsentscheidungen betroffenen Menschen zwar gegen die Überstellungsentscheidung Klage erheben, aber nicht um Eilrechtsschutz nachsuchen dürfen. Die Regelung würde, konsequent angewandt, bedeuten, dass die Betroffenen ihre Klage immer vom Ausland aus weiter verfolgen müssten. Eine vorläufige Aussetzung der Überstellungsentscheidung durch ein deutsches Gericht - so dass der Betroffene den Ausgang des Klageverfahrens in Deutschland abwarten kann -, sieht das Gesetz nicht vor. Um noch einmal die oben gezogene Parallele zu einer Abrissverfügung heranzuziehen: Gäbe es eine entsprechende Vorschrift auch im Baurecht, dann könnten die betroffenen Hausbewohner nicht einmal einen Stopp des sofort vollziehbaren Hausabrisses im Wege eines Eilverfahrens erreichen; sie wären einzig und allein darauf verwiesen, die Rechtmäßigkeit der Abrissverfügung in einem Klageverfahren überprüfen zu lassen, zu dessen Abschluss es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erst nach dem Abschluss der Abrissarbeiten kommen wurde.


Ausblick

Vor dem Hintergrund der dargestellten Fragen und Probleme, die die Dublin-II-VO aufwirft, darf mit Spannung den angesprochenen, im Sommer anstehenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entgegengesehen werden. Den Betroffenen ist jedenfalls dringend zu raten, den Umstand, ob ein Dublin-Verfahren läuft, frühzeitig aufzuklären und möglichst schnell zu klären, ob nicht rechtliche Schritte Erfolg versprechen könnten. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Erfolgschancen längst nicht nur im Hinblick auf die vielbeachtete "Griechenland-Problematik" bestehen. Es sind stattdessen zahlreiche andere Zielstaaten der Überstellung und Fallkonstellationen denkbar, bei denen sich ein Vorgehen lohnen kann.


Angesichts der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht in mehreren Eilentscheidungen Dublin II-Abschiebungen nach Griechenland ausgesetzt hat und Dublin II auch in Europa immer umstrittener ist, hat das "Welcome to Europe"-Netzwerk eine Kampagne initiiert, um für Deutschland eine Ende aller Abschiebungen nach Griechenland zu erreichen und damit einen Beitrag zum Ende des Dublin II-Systems zu leisten. Weitere Informationen:
http://dublin2.info


Anmerkung:

[1] Im Aufenthaltsrecht gibt es übrigens auch eine solche Regelung, vgl. § 58a AufenthG, die aber nur für extreme Ausnahmefälle in denen es zum Beispiel von Terroristen oder "Haßprediger" geht, gilt.


*


Quelle:
Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010, Seite 82-85
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Oldenburger Str. 25, 24143 Kiel
Tel.: 0431/73 50 00, Fax: 0431/73 60 77
E-Mail: schlepper@frsh.de
Internet: www.frsh.de
Der Schlepper online im Internet: www.frsh.de/schlepp.htm

Der Schlepper erscheint vierteljährlich als Rundbrief
des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein e.V.
Für Vereinsmitglieder ist Der Schlepper kostenlos.
Nichtmitglieder können ihn für 18,00 Euro jährlich
abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2010